Michael Müller im Interview: „Auch die Grünen haben dazugelernt“
Klaus Wowereit stand für „arm, aber sexy“. Wofür steht Michael Müller? Der taz verrät der Regierende, was ihn politisch und menschlich antreibt.
taz: Herr Müller, haben Sie Nazis schon mal den Stinkefinger gezeigt?
Michael Müller: Nein.
Ihr Parteichef Gabriel hat damit keine Probleme.
Die Demonstranten brachten seinen verstorbenen Vater ins Spiel. Da kann es passieren, dass man spontan emotional reagiert.
Wie würden Sie reagieren?
Wenn ich wüst angepöbelt werde, gehe ich auch in die Auseinandersetzungen, mache klar: bis hier hin und nicht weiter.
In Porträts über Sie gibt es häufig Zuschreibungen wie „blass“, „Aktenfresser“ oder auch „dünnhäutig“. Können Sie das noch hören?
Ich kann damit umgehen. Ich bin 20 Jahre mit meiner Art ganz gut und erfolgreich gefahren. Wenn „blass“ meint, dass ich nicht jeden Tag den großen Auftritt suche, dann stimmt es. Wenn mit „Aktenfresser“ gemeint ist, dass ich viel am Schreibtisch arbeite, stimmt es auch. Und wenn „dünnhäutig“ bedeutet, dass ich mir nicht jede Unterstellung gefallen lasse, ist auch das richtig.
Ihre Wahlplakate sollen den Eindruck vermitteln: Da ist jemand, der zuhört, der sich auch beraten lässt.
Mir ist es wichtig, Menschen um mich zu haben, zu denen ich ein gutes und vertrauensvolles Verhältnis aufgebaut habe. Aber ab einem gewissen Punkt wird entschieden, dann ist auch klar, wer der Chef ist.
Über die Zukunft Berlins – und natürlich über Müllers politische Ziele – diskutiert der Regierende am Mittwoch mit den taz-RedakteurInnen Antje Lang-Lendorff und Bert Schulz im taz Café: 19.30 Uhr, Rudi-Dutschke-Str. 23. Wie wird das Bevölkerungswachstum Berlin verändern? Was bestimmt das Lebensgefühl der Stadt in 15 Jahren? Eintritt ist frei
Wer hat Ihnen geraten zu sagen, die AfD solle möglichst aus dem Abgeordnetenhaus herausgehalten werden?
Niemand. Mich bewegt seit Langem, wie die AfD unsere Gesellschaft negativ verändern will. Wir können und müssen uns dagegen wehren.
Die AfD müsste weniger als fünf Prozent der Stimmen bekommen, um nicht ins Parlament einzuziehen. Da wirkt die Forderung etwas naiv.
Ich bin natürlich nicht blauäugig. Wenn ich so etwas sage, weiß ich auch, dass mir das später vorgehalten werden kann. Aber wie wäre es umgekehrt, wenn ich nichts dazu sagen würde? Ich will in solchen zentralen Fragen auch sagen, wofür ich kämpfe.
Sie sind 1981 in die SPD eingetreten. Warum SPD?
Das hat mit der Familiengeschichte zu tun. Die Frage war, ob ich politisch aktiv werde oder nicht. Als die Entscheidung gefallen war, war in der Familie Müller klar, dass es nur die SPD sein kann. Das einzige schwarze Schaf war meine Oma, die war in der CDU. Es gab bei uns kein Familienfest, wo nicht über Politik gestritten wurde.
Freunde spielten bei Ihrer Politisierung keine Rolle?
Doch, die 70er Jahre waren ja eine politisierte Zeit. Wir diskutierten viel über Atomkraft. Die Situation mit der RAF war sehr präsent. Die Haltung von Helmut Schmidt, dass der Staat nicht erpressbar ist, finde ich bis heute beeindruckend. Das war die Zeit, in der ich mich für die SPD entschieden habe.
Gab es dafür einen Auslöser?
Die Wende von Schmidt zu Kohl. Der Lehrer hatte den Fernseher reingerollt, wir schauten uns die Ereignisse im Bundestag gemeinsam an. Da hab ich mir gesagt: Du bist doch sowieso dabei, jetzt ist der SPD-Kanzler abgewählt worden, jetzt hältste mit dagegen.
Hat Ihre Herkunft Ihre Sicht auf Politik geprägt?
Ich kann und will überhaupt nicht jammern. Mir ging es immer gut, die ganze Familie war um mich rum, ich war das einzige Kind. Aber ich habe erlebt, wie es auch in so einem Handwerkerhaushalt aussieht, wenn man nicht weiß, wie man die Miete bezahlen soll. Ich habe selbst erlebt, wie es ist, seinen Weg ohne Abitur zu gehen, und wie es ist, ein Unternehmen zu gründen und keine 10.000 Mark zu haben, um sich eine Maschine kaufen zu können.
Ihr Vater hat Sie nicht nur mit politisiert. Sie haben auch 15 Jahre mit ihm zusammen in der Druckerei gearbeitet.
Er war eine prägende Figur für mich. Auch als er selbst politisch aktiv geworden ist, war das etwas Besonderes in der Familie.
Waren Sie sauer, als er sich für die Offenhaltung von Tempelhof ausgesprochen hat?
Sauer nicht. Bei meinem Vater hat sich irgendwann eine Form von Altersradikalität eingestellt. Zu Beginn seiner politischen Arbeit war er einer der Parteirechten und ist dann immer linker geworden, war überzeugter Pazifist, ein großer Kritiker der Hartz-IV-Reform und von Großen Koalitionen.
Nun ist Ihr Vater vor einem Jahr gestorben. Kann man, wenn man die Geschäfte eines Regierenden Bürgermeisters führt, überhaupt trauern?
Ja, und gerade heute. Heute wäre er 75 geworden. Die Druckerei ist immer noch da. Ich bin ja schon 2011 rausgegangen, aber ein Freund und meine Mutter organisieren das jetzt. Wir haben in der Familie darüber gesprochen, ob wir sie auflösen sollen, wir können uns aber nicht davon trennen, weil dieses Handwerk, der klassische Buchdruck, dann auch weg wäre.
Haben Sie denn Zeit zu trauern?
Natürlich. Das kommt und geht. Auf dem letzten Parteitag zum Beispiel. Mein Vater hat immer in der ersten Reihe gesessen und war immer begeistert und stolz auf mich. Auf einmal ist er nicht mehr da. Vertrautes fehlt.
Es ist das erste Mal, dass die Berlinerinnen und Berliner über Michael Müller als Regierenden Bürgermeister abstimmen können. Um Sie besser kennenlernen zu können, antworten Sie bitte auf folgende Fragen. Bulette oder Sushi?
Bulette.
Pop oder Lederer?
(lacht) Sie meinen Pop oder Klassik. Mal so, mal so.
Sie haben sich ja ungewöhnlich früh auf eine Koalition mit den Grünen festgelegt. Gilt das denn auch für den Fall, dass die Grünen mehr Stimmen haben als die SPD?
Darüber denke ich nicht nach. Ich kämpfe für eine Zweierkoalition. Ich kämpfe für eine klare Führungsrolle der SPD. Und ich kämpfe dafür, dass es eine Koalition jenseits der CDU gibt. Möglichst mit den Grünen, weil ich da die größten Schnittmengen sehe.
Dann gehen wir einmal von dem Fall aus, dass es für eine Zweierkoalition mit den Grünen reicht, allerdings nur mit einer hauchdünnen Mehrheit. Damit stünden Sie vor der gleichen Situation wie Klaus Wowereit vor fünf Jahren. Wowereit ging damals mit der CDU auf Nummer sicher. Sie würden das Risiko eingehen?
Ich würde es sehr ernsthaft angehen. 2011 ist es ja nicht nur daran gescheitert, dass es ein oder zwei Stimmen Mehrheit waren. Klaus Wowereit und Renate Künast sind nicht miteinander klar gekommen.
Offiziell war die A 100 der Grund.
Wir haben bei den Sondierungsgesprächen gemerkt, dass es nicht nur um die A 100 ging. Die A 100 stand für eine Vielzahl von Infrastrukturprojekten, die die Grünen nicht mittragen wollten, zum Beispiel Wohnbebauung in den Quartieren. Wenn solche Dinge schwierig sind, wagt man dann eine Koalition mit einer oder zwei Stimmen Mehrheit? Wenn der Start so schwierig ist, wie sähe es dann erst bei einer Krise aus?
Es kam dann zur Koalition mit der CDU, die Sie inzwischen auch nicht mehr mögen.
Wir haben alle dazugelernt, auch die Grünen. Bisher ist mir noch kein Thema bekannt, bei dem einer von uns sagt, das bekommen wir nicht hin.
Aus der SPD-Küche stammt der Begriff vom Koch und dem Keller. Welcher Begriff wäre denn heute angemessen, wenn Sie einen oder zwei Koalitionspartner hätten, die nur unwesentlich kleiner sind als die SPD?
Warten wir doch erst mal ab. Man darf sich da auch nichts vormachen. Wir sind konkurrierende Parteien. Und ja: Ich möchte ein möglichst starkes Ergebnis für die SPD. Ich möchte Regierender Bürgermeister bleiben, und eine Koalition wird über den Regierungschef wahrgenommen.
Sie hätten auch ganz einfach als Antwort auf unsere Frage sagen können: Augenhöhe. Haben Sie ein Problem mit Augenhöhe?
Warum sollte ich? Aber ich sage offen und ehrlich, dass ich für eine Zweierkoalition kämpfe, die die SPD anführt und die mit dem Regierenden Bürgermeister identifiziert wird. Trotzdem kann man jeden Tag miteinander auf Augenhöhe arbeiten, Kompromisse finden.
Wenn es zu einer Dreierkonstellation kommt, müssen Sie den Begriff Augenhöhe vielleicht lernen, weil der Zweite und der Dritte zusammen mehr Stimmen haben als Sie.
Wenn wir bereits mit einer 2-zu-1-Situation starten würden, müsste sich nicht nur die SPD, sondern müssten sich auch Grüne und Linke fragen, wie das gut gehen soll. Ich erwarte in einer Koalition ein Aufeinanderzugehen von allen Seiten, einen gemeinsamen Anspruch. Das ist keine Einbahnstraße.
Wäre da eine institutionalisierte Koalitionsrunde eine Möglichkeit, vertrauensvoll zusammenzuarbeiten?
Da gibt es unterschiedliche Modelle. Es gibt Frühstücksrunden vor den Kabinettssitzungen, es gibt Abendrunden im Amtszimmer des Ministerpräsidenten, es gibt ständig tagende Koalitionsausschüsse. Das kann ich mir alles sehr gut vorstellen. Warum sollen sich die führenden Köpfe nicht auch jenseits von Krisen abstimmen?
Mit der Aussage für Rot-Grün verbinden Sie auch den Versuch, das Milieu der kleinen Leute und das kreative und hippe Milieu miteinander ins Gespräch zu bringen.
Das Ost-West-Thema hat eine große Rolle gespielt. Nun ist die Stadt zusammengewachsen. Jetzt gibt es andere Herausforderungen. Das zusammenzuführen ist tatsächlich eine der Hauptaufgaben der nächsten Jahre.
Man könnte das auch anders erzählen: Mit den Grünen wollen Sie das Milieu der Bürgerinitiativen und Volksbegehren zähmen. Sie selbst haben einmal im Gespräch mit der taz gesagt, es könne nicht sein, dass eine kleine, professionelle Gruppe die Politik vor sich hertreibe.
Es ist legitim, dass gut organisierte Gruppen im Rahmen von Volksentscheiden ein zusätzliches Instrument nutzen, ihre Interessen durchzusetzen. Aber es ist Aufgabe der Politik, das als ergänzendes Instrument zu betrachten und aus gesamtstädtischer Sicht Entscheidungen zu treffen. Das ist die Stärke des Parlamentarismus.
Das Wohnraumversorgungsgesetz hätte es ohne den Mietenvolksentscheid nicht gegeben. Manchmal braucht die Politik auch Druck von unten.
Der Mensch: Michael Müller, 1964 in Berlin geboren, arbeitete nach dem Abschluss der mittleren Reife und einer kaufmännischen Lehre bis 2011 in der Familiendruckerei in Tempelhof.
Der Sozialdemokrat: Müller trat 1981 in die SPD ein und war bis 1996 Mitglied der BVV Tempelhof. Seitdem sitzt er im Abgeordnetenhaus. Von 2001 bis 2011 war er Fraktionschef.
Der Senator: 2011 wurde er Stadtentwicklungssenator. Beim Volksentscheid Tempelhofer Feld musste er im Mai 2014 eine Niederlage einstecken.
Der Regierungschef: Nach dem Rücktritt von Klaus Wowereit setzte er sich in einer Mitgliederbefragung durch und wurde im Dezember 2014 neuer Regierender Bürgermeister. (wera)
Kein Widerspruch. Nicht alles hat der Mietenvolksentscheid erfunden. Wir haben zwar schon davor viel für bezahlbare Wohnungen getan. Aber es ist ein gutes Gesetz entstanden. Als ergänzendes Instrument sind Volksentscheide also gut.
Wird Berlin mit Rot-Grün oder Rot-Grün-Rot eine fahrradfreundlichere Stadt?
(lacht) Noch fahrradfreundlicher?
Wann sind Sie denn zuletzt Fahrrad gefahren?
Können Sie sich nicht vorstellen, oder? Am Wochenende fahre ich oft mit dem Rad. Aber im Ernst: Es kann sein, dass es bei einer solchen Koalition noch schneller geht.
Plädieren Sie für einen Kompromiss mit den Initiatoren des Volksentscheids?
Ja. Das ist der bessere Weg. Wir haben einen Verkehrsmix. Es gibt nach wie vor auch die Interessen der Autofahrer, der Fußgänger, des ÖPNV. Die Forderung, mehr und schneller zu investieren, ist richtig. Grüne Wellen für Radfahren würden dagegen andere stark einschränken.
Es kann sein, dass Berlin bald die 4-Millionen-Marke erreicht. Verstehen Sie, dass manche davor auch Angst haben?
Ich verstehe, dass es da Sorgen geben kann. Wie geht es weiter mit der Wohnungssituation, der Sicherheit? Wird die Stadt immer voller und lauter? Das nehme ich ernst. Aber insgesamt ist es gut, dass die Stadt wächst.
Die Möglichkeiten der Politik, die Mieten zu begrenzen, stammen aus einer Zeit, in der internationale Investoren noch nicht in Betongold investiert haben. Brauchen wir neue Instrumente?
Wir haben schon einen großen Instrumentenkasten. Aber wir brauchen auch mehr neue, bezahlbare Wohnungen.
Die Mieten steigen trotzdem.
Das hat auch mit einer guten wirtschaftlichen Entwicklung zu tun. Nicht nur die Mieten sind gestiegen, sondern auch die Löhne und zwar überdurchschnittlich im Bundesvergleich. Wir konnten drei Milliarden Euro Schulden abbauen, weil wir wirtschaftspolitisch erfolgreich sind. Das bedeutet leider auch, dass die Mieten steigen.
Der Spiegel hat schon bei 3,5 Millionen Einwohnern geschrieben, Berlin sei eine failed city. Kann Berlin überhaupt vier Millionen?
Wenn es hier so schlimm wäre, würden pro Jahr 40.000 Menschen wegziehen und nicht herkommen. Berlin ist gut regierbar, entwickelt sich positiv. Aber es ist auch unstrittig, dass man Dinge weiter verbessern muss.
Schulen wurden in Bezirken geschlossen, die heute einen Kinderboom haben. In den Bezirken wurden Stellen abgebaut, das merken die Bürger jetzt in den Bürgerämtern.
Ja, stimmt. Aber es waren schlicht keine Kinder da. Die Bevölkerung ist zurückgegangen. Sollten wir Geister-Schulen betreiben, bei der damaligen Haushaltslage? Jetzt haben wir wieder mehr Kinder. Jetzt fahren wir wieder hoch. Wir haben während meiner Amtszeit 700 Millionen zusätzliche Investitionsmittel zur Verfügung gestellt und 4.500 neue Stellen geschaffen in der Verwaltung.
Wenn Sie 2030 auf Ihre Amtszeit zurückblicken. Was wird die Ära Müller ausmachen?
Bis dahin kann man viel erreichen. Ich wünsche mir, dass die gute Entwicklung Berlins nicht nur weitergeführt wurde, sondern sich deutlich beschleunigt hat und alle Menschen davon profitieren. Und Berlin soll noch stärker eine Stadt der Kultur und Wissenschaft sein.
Feilen Sie schon an einem Zitat à la „arm, aber sexy“?
Eigentlich nicht. Vor wichtigen Reden oder Regierungserklärungen fragt man sich aber schon mal, was man da als Überschrift nimmt. Das eine Wort, das alles einordnet. Es ist wohl eher ein Zufall, wenn so was gelingt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen
VW in der Krise
Schlicht nicht wettbewerbsfähig
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Kränkelnde Wirtschaft
Gegen die Stagnation gibt es schlechte und gute Therapien
Mögliche Neuwahlen in Deutschland
Nur Trump kann noch helfen