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Kommentar Kurden in SyrienVorprogrammierter Türkei-Konflikt

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Die Erfolge der Kurden in Syrien sorgen die türkische Regierung. Die westliche Unterstützung für die YPG wird als schwerer Affront gesehen.

In der Türkei wächst die Sorge vor zu großen Erfolgen der kurdischen Truppen (Archivbild) Foto: ap

A lle Welt freut sich über die Vertreibung der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) aus der syrischen Stadt Manbidsch, nur die türkische Regierung ist sauer, heißt es in westlichen Medien. Tatsächlich dürfte die Freude über die Frauen, die ihre Gesichtsschleier verbrennen, und die Männer, die sich ihre Bärte abrasierten, in Ankara getrübt gewesen sein.

Nicht unbedingt, weil man immer noch den IS gut findet, sondern weil es kurdische Truppen der YPG waren, die Manbidsch befreit haben. Die Kurden haben sich dadurch auch wichtiges Terrain gesichert und könnten möglicherweise bald die letzte Lücke zwischen ihrem Kanton Kobani und dem westlich gelegenen Kanton Afrin schließen. Gelingt ihnen das, wären sie einer autonomen kurdischen Region, einem unabhängigen Staat gar, einen großen Schritt näher gerückt.

Die türkische Regierung will das unbedingt verhindern und wirft deshalb den USA schon länger vor, in Syrien eine kurdische Truppe zu unterstützen, die nichts anderes als ein Ableger der „Terrororganisation PKK“ ist. Ankara pocht deshalb auf eine Vereinbarung mit den USA, nach der sich die Kurden nach der Eroberung des arabischen Manbidsch wieder auf eine Linie östlich des Euphrats zurückziehen und ihren Sieg nicht zu einem weiteren Vormarsch nutzen.

Der Konflikt um die Kurden in Syrien ist geeignet, das Verhältnis der Türkei zu den USA, zur Nato und zum Westen insgesamt weiter extrem zu belasten. Nimmt man die Kontroverse um die Auslieferung Fethullah Gülens und die Enttäuschung über die angeblich mangelnde Unterstützung Europas bei der Abwehr des Putschversuchs noch hinzu, stellt sich wohl erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg ernsthaft die Frage, ob der Westen die Türkei verliert.

Bei allem berechtigten Zorn über den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan sollte man solche epochalen Entscheidungen doch mit kühlem Kopf und einer klaren Vorstellung über die Folgen treffen.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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9 Kommentare

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  • Der Westen stellt sich nicht die Frage, ob er die Türkei verlieren kann, sondern er weiss es schon.

     

    Die Frage ist nur noch was macht man mit dem was man da geschaffen hat?

     

    Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass eine Regierung, die seit gestern von unserer Regierung indirekt mitverantwortlich gemacht für das Morden in Syrien und als strategischer Partner der Jihadisten, die in Europa für viele Morde zuständig waren bezeichnet und im nächsten Atemzug daran glauben will, dass die Türkei in Zukunft ein Partner sein wird.

    • @Azad:

      "Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen,...dass die Türkei in Zukunft ein Partner sein wird."

       

      Wieso? Die Saudis sind ja auch unsere Partner. Selbst wenn Erdogan die Sharia einführen sollte und/oder jeden Tag einen Christen/Journalisten/Kabarettisten kreuzigt, wird die Bundesregierung noch eine Ausrede finden, warum eine Zusammenarbeit ganz, ganz wichtig ist.

      • @warum_denkt_keiner_nach?:

        Naja, die Saudis haben viel Öl und können unsere Wirtschaft durch Ihre Finanzkraft beeinflussen und die Türkei nicht.

        • @Azad:

          Die Türkei lebt von ihrer günstigen Lage.

  • Alles ist komplexer als es scheint. Auch die Kurden sind nicht alle pro-demokratisch. Der IS ist von den USA auch nicht deshalb unterstützt worden, weil er so tolle Ideale hat, sondern weil er gegen Asssad gekämpft hat. Wenn die Kurden jetzt gemessen an ihrer Bevölkerung am meisten gegen den IS kämpfen, kann man ihnen schwer nachher die Selbstbestimmung verweigern. Umgekehrt hat der Artikel ganz recht, dass Erdogan dafür sorgen wird, dass kein Frieden einkehrt, so lange die Kurden zu viel Macht haben. Genauso wollen die USA keinen Frieden unter Assad und vor allem den Russen. Auch die sunnitischen Staaten werden weiter den Terror gegen das Assad-Regime unterstützen. Daher wird der Krieg so lange weitergehen, bis eine Friedenskonferenz unter den auswärtigen Kriegstreibern Erfolg hat und jeder Verstoss gegen diesen Frieden international geächtet wird. Bislang gibt es keine einzige Sanktion gegen Staaten, die die Gewalt in Syrien finanzieren.

    • @Velofisch:

      Der Freiheitskampf der Kurden dauert schon seit Generationen an. Was man den Juden gewährt hat, sollte man endlich auch den Kurden gewähren: Eine eigene Nation.

  • Die Türkei geht nicht verloren, sondern entfernt sich immer mehr von EU und NATO.

    Soll dieser Artikel wirklich ein Aufruf dazu sein, die Kurden im Stich zu lassen, nachdem sie Kopf und A... für westliche Werte im Kampf gegen den IS hinhielten und -halten?

    Das wäre mehr als schäbig, sie den Großmachtvisionen eines Erdogans zu opfern.

    Gegen welche internationalen Regeln verstößt denn der Wille zu Autonomie und Eigenstaatlichkeit der Kurden? Lasst Erdogan doch schäumen und toben. Wer, wie jetzt bekannt wird, mit Terroristen und Islamisten paktiert, muss sich nicht wundern, wenn wir die Bekämpfer dieser inhumanen, religiös fundamentalistischen Irrläufer unterstützen und zwar nachhaltig.

    • @Trabantus:

      Ein seltsamer Artikel. Der merkwürdigste Satz ist:

       

      "Ankara pocht deshalb auf eine Vereinbarung mit den USA, nach der sich die Kurden nach der Eroberung des arabischen Manbidsch wieder auf eine Linie östlich des Euphrats zurückziehen und ihren Sieg nicht zu einem weiteren Vormarsch nutzen."

       

      Als ob sich die Kurden von den USA Befehle erteilen lassen würden.

  • "Die Zusammenarbeit mit islamistischen und terroristischen Organisationen im Nahen und Mittleren Osten ist nach Einschätzung der Bundesregierung seit Jahren bewusste Politik der türkischen Regierung und wird von Präsident Recep Tayyip Erdogan aktiv unterstützt."

     

    Wenn die NATO auch eine Wertegemeinschaft ist, sollte man angesichts einer solchen Einschätzung auf die Mitgliedschaft der Türkei eher verzichten. Auch die Einordnung der PKK als Terrororganisation relativiert sich.