Debatte Zukunft als Menschenrecht: Die Zurückeroberung der Zukunft
Haben wir die Zukunft zu früh abgeschafft? Asyl müsste ausnahmslos allen Menschen ohne Zukunft gewährt werden, wäre sie Menschenrecht.
G ibt es eigentlich ein Naturrecht, ein Menschenrecht auf Zukunft? Also auf etwas, das mehr ist als ein bloßes Überleben, ein Weitermachen, ein Nichtsterben? Nämlich einen Raum der Möglichkeiten, der Entscheidungen, der Veränderungen. Ein Weg ins Offene. Mensch sein heißt Zukunft haben, und alles, was die Zukunft raubt, darf unmenschlich genannt werden.
Die Eingangsfrage ist mehr als eine bloße Gedankenspielerei angesichts einer politischen Kultur, die sich mit dem Wirken von Sachzwängen, Marktbewegungen und des TINA-Prinzips (There is no Alternative) abgefunden zu haben scheint. Und wo immer mehr Menschen vor lauter Angst und Verachtung gegenüber der Zukunft in die Vergangenheit zurück wollen. In die Vergangenheit vor jener Moderne, die von sich behauptet hat, auf nichts so versessen zu sein wie auf Zukunft.
Zukunft haben, die Möglichkeit, aus eigener Kraft und mit der Hilfe von anderen Lebensumstände, Machtverhältnisse und Entscheidungsräume zu verändern, die Hoffnung darauf, von der Fremd- zur Selbstbestimmung zu gelangen, aber eben auch Ideen, Fantasien, Träume zu entfalten ohne Furcht und ohne Zwang, kann zweierlei bedeuten: Das Privileg weniger oder das Recht aller. Die Entscheidung zwischen beidem reicht in jeden Lebensbereich.
Ein Beispiel: Wenn es ein Menschenrecht auf Zukunft gibt, dann ist die Unterscheidung zwischen „Verfolgten“ und „Wirtschaftsflüchtlingen“ obsolet und heuchlerisch. Die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge fliehen nicht zu den größeren Fleischtöpfen im anderen Land, sondern in aller Regel vor der Zukunftslosigkeit ihrer Existenz: Keine Arbeit, keine kulturelle und politische Freiheit, keine eigenen Erfahrungen und Entscheidungen, keine Würde. Und oft nicht einmal genug zu essen. Asyl müsste ausnahmslos allen Menschen ohne Zukunft gewährt werden, wenn diese ein Menschenrecht wäre.
Wenn es allerdings kein Menschenrecht auf Zukunft gibt, dann erweist sich unser schönes demokratisch-kapitalistisches System als Chimäre. Freiheit ist nur etwas wert, wenn es eine wirkliche Zukunft gibt: nicht Verlängerung der Gegenwart, sondern einen Raum für Entscheidungen, Fantasien und Ideen.
Das Gegenteil von Zukunft
Alle Waren, Parteien, Dienstleistungen und Unternehmungen blubbern unentwegt „Zukunft“ und meinen damit genau das Gegenteil. Eine Marktwirtschaft hat dann jede Legitimation verloren, wenn sie immer mehr Menschen ärmer und immer weniger Menschen reicher macht und wenn sie Zukunft im Sinne ihrer Maschinen und Techniken definiert und nicht im Sinne der Menschen. Wer kein Recht auf Zukunft hat, dem ist auch mit anderen Menschenrechten kaum gedient.
Die Abschaffung der Zukunft scheint es also in einer Luxus- und in einer Elendsversion zu geben. Einmal in der ewig um sich selbst kreisenden Logik von Verschuldung, Wachstum, Wettbewerb und Konsum, und einmal in Ausbeutung, Terror, Krieg und Rechtlosigkeit. Natürlich kann man das eine nicht mit dem anderen aufrechnen, sondern muss fragen, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt.
Zukunft war einmal etwas Grandioses, bevor sie in kleine Alltags- und Technologiezukünfte aufgelöst wurde. Noch im Mittelalter hatte das Wort eine religiöse Bedeutung, als Zeit der Wiederkehr Gottes. Zukunft verband sich später mit den Utopien, mit dem Erreichen des gesellschaftlichen Idealzustands, dem Paradies der Arbeiterklasse oder vielmehr einer Welt ohne Arbeit: eine säkularisierte Heilserwartung.
Soll aber Zukunft sein, dass die Fernseher so groß wie die Wohnzimmerwand sind, dass Datenbrillen den Weg zur nächsten Pizzeria weisen? Oder soll das Zukunft sein, dass man sich um Leib und Leben arbeitet, nur um noch tiefer in Schulden und Abhängigkeit zu geraten? Natürlich ist die Zukunft auch der Ausdruck der Fehler, der Verbrechen, der Gewalt und nicht zuletzt der Dummheit dessen, was gerade noch Gegenwart war. Je mieser ein System, desto mehr verbietet es das Denken an eine Zukunft, die etwas anderes ist als immer noch mehr von diesem System.
Etwas Unvernünftiges und Chaotisches
Das Denken an ein wirklich nächstes Kapitel ist in den Verdacht der kindlich-romantischen Schwärmerei geraten. Ist digital nicht jede beliebige Zukunft als Simulation herzustellen? Grammatisch und technisch kommt sie so oder so, die Zukunft; wer sich gegenwartskonform verhält und am richtigen Ende der Welt geboren ist, der bekommt ganz nach Bedarf Zukunft als Simulacrum-Droge. In der Wirklichkeit aber ist Zukunft etwas Unvernünftiges und Chaotisches.
Die Undenkbarkeit der Zukunft, die mit Francis Fukuyamas „Ende der Geschichte“ noch die tröstlich-langweilige Gewissheit versprach, dass „die liberale Demokratie und die Marktwirtschaft die einzig tragfähigen Möglichkeiten für unsere modernen Gesellschaften sind“, löst sich derzeit in Panik auf: Die liberale Demokratie scheint im rapiden Schwinden begriffen, und die Marktwirtschaft, an deren Freiheit schon lange niemand mehr glaubt, übt sich in der Kunst des An-die-Wand-Fahrens. Die ewige Gegenwart könnte nun nur noch heißen: Ewige Krise. Ewiger Terror. Ewige Dummheit.
Wo ist nun die Zukunft, jetzt, wo wir sie wieder brauchen könnten? Haben wir sie zu früh abgeschafft? Vielleicht gibt es jetzt neue Argumente dafür, Zukunft zum Menschenrecht zu erklären. Es ist dem Kapitalismus nie gelungen, den Menschen die Angst vor einer Immer-so-weiter-Zukunft zu nehmen. Fatalerweise ist es ihm aber beinahe gelungen, den Menschen auch vor jeder anderen Zukunft Angst zu machen. So blieben fast nur die Fraktionen derer, die sich in der ewigen Gegenwart von Arbeit und Konsum einrichten, und derer, die zurück in die Vergangenheit drängen. Dazu kommen Gruppen von jenen Ehrenwerten, die versuchen, das Schlimmste zu verhindern.
Doch es geht um mehr: Die Denkbarkeit der Zukunft muss zurückerobert werden. Als Menschenrecht. Auf der ganzen Welt. In gemeinsamer Arbeit. Die Zukunft bringt vielleicht kein Heil, aber sie ist voraussichtlich doch zu schön, um sie Google, AfD und der Deutschen Bank zu überlassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“