Rechter Terror in Deutschland: Der Testfall nach dem NSU
In Freital steht eine rechte Gruppe unter Terrorverdacht, Karlsruhe ermittelt. Hat die Polizei die Szene im Griff?
Am Abend des 23. Juni 2015 steigt der Sohn des sächsischen Wirtschaftsministers in Freital in das Auto von Freunden. Er hat in den vergangenen Stunden für die Solidarität mit Flüchtlingen demonstriert. Sie waren wenige gewesen. Die anderen waren mehr. Und lauter.
Die Kleinstadt in der Nähe von Dresden wird damals gerade in ganz Deutschland bekannt. Eine enthemmte Menge protestiert gegen die Aufnahme von 280 weiteren Flüchtlingen. Raus, rufen die Menschen vor einem ehemaligen Hotel. Raus, raus, raus! Es fliegen Böller. Freital im Juni, das ist eine Art Festival des Fremdenhasses.
Der Wagen, in dem der Politikersohn Johann Dulig sitzt, wird verfolgt. Zwei Autos versuchen, ihn von der Straße zu drängen. So wird Johann Dulig es immer wieder in Interviews erzählen. Sein Freund fährt Schlangenlinien, ein anderer ruft die Polizei an. Halten Sie an einer Tankstelle, wir kommen, sagen die Beamten. Als das Auto von Dulig hält, springt ein Mann aus einem der Wagen und zertrümmert mit einem Baseballschläger ihre Frontscheibe. Der Fahrer lässt den Wagen an, rast durch die Stadt davon. Eine Straßenbahn schneidet die Verfolger ab.
Zwei Tage später gibt die Polizei bekannt, dass sie vier Verdächtige ermitteln konnte. Einige von ihnen sollen zu einer Gruppe gehören, die sich Bürgerwehr FTL/360 nennt. Der Name bezieht sich auf die Buslinie 360 von Altenberg nach Dippoldiswalde, in der zwei Marokkaner Schüler belästigt haben. Die Bürgerwehr patrouillierte daraufhin in den Bussen.
Jetzt, ein knappes Jahr später, steht die Bürgerwehr FTL/360 im Verdacht, eine rechtsextreme terroristische Vereinigung zu sein. Sie sollen mehrere Sprengstoffanschläge verübt haben. Die oberste Ermittlungsbehörde der Bundesrepublik hat sich eingeschaltet und die Ermittlungen übernommen: die Bundesanwaltschaft aus Karlsruhe. Es ist erst der zweite Fall dieser Art nach dem Bekanntwerden einer anderen rechtsterroristischen Vereinigung: dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU).
Damals, als die Polizei im Herbst 2011 in einem Wohnmobil in Eisenach die Leichen von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt findet, erfährt das Land, dass Neonazis 13 Jahre lang in Deutschland geraubt und gemordet haben, ohne dass die Sicherheitsbehörden etwas davon wussten. Es war ein Moment gesellschaftlicher Erschütterung. Die Nachbeben trafen vor allem Polizei und Geheimdienste. Sie hatten zehn Morde nicht aufklären können; ermittelten fast nur im Umfeld der Opfer. Bandenkriminalität wurde vermutet. Oder Drogendelikte. Dass eine rechtsterroristische Zelle dahinterstand, darauf waren sie nicht gekommen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel versprach damals, das Land werde „alles in den Möglichkeiten unseres Rechtsstaats Stehende tun, damit sich so etwas nie wiederholen kann“. Es sollte auf keinen Fall einen zweiten NSU geben.
Heute sind die Vorzeichen ähnlich wie Anfang der neunziger Jahre, in der Zeit, als sich Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos radikalisiert haben. Viele Flüchtlinge kommen ins Land, Anwohner und Neonazis demonstrieren gemeinsam gegen ihre Unterkünfte. Es entsteht eine Stimmung, die in Gewalt mündet: 1.029 Anschläge auf Asylbewerberunterkünfte zählte das Bundeskriminalamt 2015 – im Vorjahr waren es 203.
Die Nachricht, dass der Generalbundesanwalt in Karlsruhe nun Akten aus Freital auf dem Schreibtisch hat, klingt wie eine Erfolgsgeschichte: Die Behörden erkennen den Ernst der Lage und reagieren.
Wer aber genauer hinsieht, kann etwas anderes erzählen: die Geschichte einer Gruppe von Menschen, die über Monate Straftaten begeht, ohne dass die Polizei das verhindert.
Freital ist ein Testfall. Einer der Orte in Deutschland, an denen sich in diesen Tagen zeigt, was sich bei Polizei und Justiz seit Bekanntwerden des NSU geändert hat. Und was nicht.
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Michael Richter weiß nicht mehr, wie viele Anzeigen er im vergangenen Jahr gestellt hat. Etwa 70?
Beleidigung, Volksverhetzung, Sachbeschädigung, zählt er auf. Richter ist Stadtrat in Freital und war Oberbürgermeisterkandidat der Linkspartei. Auf Facebook schrieb einer, man soll ihn an die Wand stellen. Anzeige. Er sei ein Deutschhasser, ein Blutschänder, man solle ihn steinigen. Anzeige, Anzeige, Anzeige.
Am 27. Juli 2015 explodierte sein Auto. Unbekannte hatten in der Nacht Sprengstoff daran angebracht.
„Nu“, sagt Michael Richter mit ausdruckslosem Gesicht. Es ist Mittag, im Freitaler Technologie- und Gründerzentrum treffen sich ältere Männer in Strickpullovern zum Mittagessen. Michael Richter nimmt nur einen Kaffee. Er schaut sich die Männer etwas genauer an, bevor er weitererzählt.
Der Anschlag auf das Auto von Michael Richter, das geschah einen Monat, nachdem die Polizei die Wohnungen von Verdächtigen im Fall des Baseballschlä-gerangriffs durchsucht hatte.
Am Linken-Büro explodiert ein Sprengsatz
In beiden Fällen passiert erst einmal nichts. Keine Festnahmen, keine Anklagen. Die Polizei, so heißt es immer wieder, ermittle. Wochenlang. Monatelang. Währenddessen kann man beobachten, wie in einem eigentlich verschlafenen Ort die Situation eskaliert.
11. August. Der Briefkasten einer Flüchtlingsaktivistin explodiert. Die Polizei ermittelt.
5. September. Unbekannte legen Feuer im ehemaligen Real-Markt in Freital. Man erzählt sich in der Stadt, dass auch hier Asylbewerber untergebracht werden sollen. Die Polizei beschließt, nicht zu ermitteln, weil der Sachschaden gering ist.
19. September. Am Fenster einer Asylbewerberunterkunft in der Bahnhofsstraße explodiert ein Sprengsatz und zerstört das Fenster und Teile der Küche. Die Polizei ermittelt.
20. September. An einem Büro der Linkspartei explodiert ein Sprengsatz. Die Schaufensterscheibe wird zerstört. Die Polizei ermittelt.
9. Oktober. Mitglieder der Bürgerwehr FTL/360 fahren im Autokorso an einem Willkommensfest vorbei. Als die Polizei die Autos durchsucht, werden Feuerwerkskörper ähnlichen Fabrikats gefunden, wie sie für die Sprengstoffanschläge verwendet wurden.
1. November. Unbekannte bringen mehrere Sprengsätze an einer Asylbewerberunterkunft in der Wilsdruffer Straße an. Ein Syrer wird im Gesicht von Glasscherben getroffen.
4. November. Der ehemalige Real-Supermarkt brennt erneut.
Am 5. November ab 6 Uhr morgens werden die Wohnungen von Personen, die Mitglieder der Bürgerwehr Freital sein sollen, durchsucht. Einer wird festgenommen: Timo S., der mutmaßliche Kopf der Bürgerwehr. Ihm und zwei Komplizen wird vorgeworfen, das Auto der Flüchtlingsaktivisten angegriffen zu haben. Außerdem soll er an den Sprengstoffanschlägen auf eine Asylbewerberunterkunft in Freital und auf ein alternatives Wohnprojekt in Dresden beteiligt gewesen sein.
Vier weitere Personen werden später wegen der Sprengstoffanschläge angeklagt. Zwei von ihnen sitzen wie Timo S. in Untersuchungshaft.
Michael Richter, Stadtrat in Freital
Nach den Festnahmen hören die Angriffe auf.
In der Kantine in Freital sagt Michael Richter: „Die Anschläge sind in der Freitaler Gesellschaft anerkannt. Das ist die Grundstimmung, die hier herrscht.“ Er blickt durch das Fenster nach draußen. Am Horizont sieht man die Türme des Stahlwerks.
Richters Strategie ist: „Scherben zusammenkehren, weitermachen.“ Hat er Angst? Richter zuckt mit den Schultern. Selbst wenn, scheint dieses Schulterzucken zu sagen, was dann?
Anfang Oktober 2015 wurde am Büro der Linkspartei ein Plakat aufgehängt, eine „To-do-list“. Richters Name war abgehakt. Auch der Name der Flüchtlingsaktivistin, deren Briefkasten im Sommer in die Luft gesprengt wurde. Zwei weitere Namen von Flüchtlingsaktivisten standen auf der Liste, darunter „Fortsetzung folgt“.
Die Facebook-Seite mit dem Namen Bürgerwehr FTL/360 gibt es seit April 2015. Dort werden Fotos von den Demonstrationen in Freital und Heidenau gepostet, von Michael Richters zerstörtem Auto, von der To-Do-Liste („Nice. Danke für die Zusendung“), von den gesprengten Fenstern der Asylbewerberunterkünfte. Das Profilbild der Seite zeigt einen Mann in Kapuzenpullover, der Polizisten gegenübersteht und den Satz: „Im Osten ist es Tradition, da knallt es vor Silvester schon.“
Im März 2016 werden die Wohnungen von acht weiteren Personen in Dresden und Freital durchsucht. Sieben von ihnen werden verdächtigt, am Sprengstoffanschlag auf das Auto von Michael Richter und das Büro der Linkspartei beteiligt gewesen zu sein. Sie hatten auch Kontakt zu den fünf anderen Angeklagten.
Ob alle diese Menschen zur Bürgerwehr FTL/360 gehört haben, ist unklar. Das zu beweisen, dürfte schwierig sein, da es keinen Gründungsakt der Bürgerwehr gegeben hat, wie das in der Sprache der Juristen heißt. Keine Vereinsstruktur, keinen Kassenwart, keine Mitgliederliste.
Es ist das Bild, vor dem alle Sicherheitsbehörden derzeit stehen. Knapp 14.000 rechtsextreme Straftaten gab es laut vorläufigen Polizeiangaben im vergangenen Jahr – rund 30 Prozent mehr als im Vorjahr. Und die Szene wird undurchsichtiger. Bei den Anschlägen auf Asylbewerberunterkünfte gibt es keine Anzeichen für eine bundesweite Vernetzung der Täter, sagt das Bundeskriminalamt.
Keine Vernetzung – weniger Gefahr? Es gibt eine andere Sicht: Genau diese Strukturlosigkeit ist es, die die Schlagkraft von kleinen Einheiten nach dem Motto der „leaderless resistance“ ausmacht, des führungslosen Widerstands.
In dem Roman „Die Turner-Tagebücher“ wird der terroristische Untergrundkampf beschrieben, der aus Sicht des Autors nötig ist, um eine Herrschaft der weißen Rasse zu etablieren. Nadelstiche autonomer Zellen im Kampf gegen den Staat. Man geht davon aus, dass die „Turner-Tagebücher“ den NSU inspiriert haben. Sie wurden auf einem Computer im letzten NSU-Unterschlupf gefunden und auf Rechnern ihrer Helfer.
Der NSU mordete als eine solche kleine Einheit aus dem Untergrund. Bekennerschreiben hinterließen sie nie. „Taten statt Worte“, war das Prinzip der Terroristen.
Was, wenn sich auch die Bürgerwehr FTL/360 als eine solche Zelle betrachtet? Was, wenn hinter einigen der Anschläge auf Flüchtlingsheime doch auch organisierte Neonazis stehen, deren Devise wieder lautet: Taten statt Worte?
Es geht nicht nur um Freital.
Bamberg, Bayern. Oktober 2015. Die Polizei durchsucht die Wohnungen von 13 Neonazis, die Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte und einen alternativen Treffpunkt planten und bereits kiloweise illegale Böller, eine Machete und eine scharfe Pistole besorgt hatten.
Nauen, Brandenburg. August 2015. Eine Sporthalle, die in Kürze von Flüchtlingen bezogen werden sollte, brennt komplett nieder. Das Auto eines Polen wird mit Brandbeschleuniger angezündet, im Büro der Linkspartei werden Scheiben eingeschlagen. Im März dann verhaftet die Polizei einen 29-jährigen NPD-Mann, der mit vier weiteren Verdächtigen die Taten verübt haben soll.
Geprüft wird auch, ob die Gruppe hinter Flugblättern steckt, die in Nauener Briefkästen auftauchten, mit Bombenbauanleitungen und dem Aufruf zum „absoluten Widerstand“.
Augsburg, Bochum, Leipzig. Mai 2015. Aus einer Facebook-Gruppe mit dem Namen „Oldschool Society“ wird innerhalb weniger Wochen eine Terrorzelle. In geschlossenen Chats schreiben sich Mitglieder ihre Gewaltfantasien. Am Ende steht der Plan, eine Flüchtlingsunterkunft im sächsischen Borna zu attackieren. 67 illegale pyrotechnische Sätze hatte sich die Gruppe schon besorgt. Diskutiert wurde, diese mit Nägeln oder Brennstoff zu ummanteln. In zweieinhalb Wochen wird den vier Anführern der Prozess gemacht.
„Wir können nicht ausschließen, dass sich im derzeitigen Klima Gruppen bilden, die dazu bereit sind, rechtsextremistische Anschläge zu verüben“, sagt Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen.
„Es könnten sich Strukturen bis hin zum Terrorismus bilden und verfestigen“, sagt BKA-Chef Holger Münch.
„Wir können noch nicht von einem Rechtsterrorismus sprechen. Eine solche Gefahr besteht allerdings“, sagt Bundesinnenminister Thomas de Maizière.
Die Politiker tun sich immer noch schwer, das Wort Terror im Zusammenhang mit Neonazis zu verwenden. Auch wenn es seit dem NSU leichter geworden ist. Keiner will sich nun vorwerfen lassen, nicht früh genug gewarnt zu haben. Die Frage aber ist: Haben Polizei und Staatsanwaltschaft diesen Terrorismus von rechts im Griff? Können sie einen zweiten NSU verhindern?
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Die Männer und Frauen, die die Sache im Griff haben sollten, arbeiten in einem Siebziger-Jahre-Bau am Stadtrand von Meckenheim bei Bonn. Hier sitzt der Polizeiliche Staatsschutz, Bereich Rechtsextremismus. Vom Sitzungsraum im vierten Stock blickt man auf Felder.
Am Kopfende des Besprechungstischs sitzt Stefan Meier, er trägt Jeans und um den linken Arm ein geflochtenes Lederarmband. Meier heißt in Wirklichkeit anders – das BKA will Namen, Alter und Fotos seiner Mitarbeiter nicht in der Zeitung sehen. Sie sollen auch in Zukunft noch verdeckt arbeiten können.
Stefan Meier ist der Kopf der Clearingstelle Asyl. Hier laufen seit Beginn 2014 alle Informationen über Straftaten gegen Asylbewerberunterkünfte zusammen. Damals musste das BKA einräumen: Die Angriffe auf Flüchtlingsheime nehmen zu, doch die Behörde hat keinen Überblick.
Meier und die drei anderen Mitarbeiter sollen nun das große Bild entwerfen: Wie viele Straftaten gibt es? Wie sehen typische Täter aus? Wann werden sie wahrscheinlich zuschlagen? Könnte eine rechtsextreme Organisation dahinterstecken?
Wenn Meier morgens ins Büro kommt, sichtet er, welche Informationen die Länder geschickt haben, dann pflegt er sie in seine Listen ein. Die BKA-Mitarbeiter dürfen weder selbst ermitteln noch Anweisungen geben. In der Statistik der Clearingstelle tauchen Straftaten auf, bei denen laut Einschätzung der Beamten vor Ort eine politische Motivation nicht ausgeschlossen werden kann.
Die Beamten sehen „keine belegbaren Muster“
Die Lage ist so: Unter den 1.029 Straftaten gegen Asylbewerberunterkünfte im vergangenen Jahr waren 94 Brandstiftungen, 30-mal wurden Schusswaffen verwendet, in 16 Fällen Sprengstoff.
Aufgelistet werden nur Straftaten auf dem Gelände der Unterkünfte. „Wird ein Böller auf der gegenüberliegenden Straßenseite gezündet, ist das kein direkter Übergriff auf eine Asylbewerberunterkunft“, sagt Stefan Meier. Und wenn eine Mülltonne, die 15 Meter vom Heim entfernt steht, abgebrannt wird, sei das nach dem Strafgesetzbuch keine Brandstiftung, sondern eine Sachbeschädigung.
Die Menschen: Freital hat etwa 40.000 Einwohner. Rund 600 Flüchtlinge leben hier. Der Ausländeranteil der Stadt ist gering: 2011 lag er bei 1,5 Prozent.
Die Politik: Bei den Kommunalwahlen 2014 wurde die CDU trotz großer Verluste stärkste Kraft, die AfD holte 9,6 Prozent. Oberbürgermeister ist Uwe Rumberg von der CDU.
Die Geschichte: Freital war lange eine Hochburg der Sozialdemokratie. Das „Frei“ im Namen steht für Freiheit von Ausbeutung und Unterdrückung.
Die Asylgegner: Bundesweit bekannt wurde die Stadt im Juni, als Hunderte Menschen vor einer Asylbewerberunterkunft demonstrierten. Die Proteste gibt es seit Januar 2015.
Sieben Fälle aus Freital sind im vergangenen Jahr bei der Clearingstelle gelandet. Der erste Brandanschlag auf den Supermarkt im September kam nicht in die Statistik, weil die Polizei damals nicht ermittelte. 15 Übergriffe gegen Asylbewerber aus Freital fallen aus der Liste, weil sie nicht auf dem Gelände der Unterkunft begangen wurden. Die Clearingstelle Asyl soll zwar darauf achten, ob sich rechtsterroristische Gruppen in Deutschland bilden, aber sie sieht nur einen kleinen Ausschnitt.
Wer ihr jüngstes internes Lagebild liest, erkennt auch Hilflosigkeit. Die Übergriffe ergäben „kein einheitliches Bild“, heißt es dort. „Klar belegbare Muster“ ließen sich nicht ableiten. Das liegt auch daran, dass nur jeder vierte Fall aufgeklärt wird. Die Täter waren zu 70 Prozent der Polizei vorher nicht bekannt. Das BKA nennt sie „emotionalisierte Einzeltäter“, die „keine ideologische Anbindung an rechte Strukturen haben“.
Die Clearingstelle ist ein Beispiel für die Logik, mit der Sicherheitsbehörden auf ihr Versagen beim NSU reagiert haben. Weil sich die Institutionen nicht genug ausgetauscht haben, war es leicht für die Rechtsterroristen, unerkannt zu bleiben. Deshalb wurde nun ein Gemeinsames Abwehrzentrum gebildet, eine neue Datei eingeführt, in der Rechtsextreme erfasst werden. Aber jede Datei über rechtsextreme Straftaten funktioniert nur, wenn der Polizist vor Ort eine Tat überhaupt als politisch motiviert einstuft.
Wird also unterhalb neuer Institutionen anders ermittelt als früher? Wird in den Städten und Dörfern rechtzeitig Alarm geschlagen
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Die Generalstaatsanwaltschaft in Dresden hat beschlossen, im Fall der Freitaler Bürgerwehr kein Verfahren wegen Bildung einer kriminellen oder einer terroristischen Vereinigung zu führen. Geplant war, alle Delikte einzeln anzuklagen. Eine organisierte Gruppe sah man nicht.
Als die Karlsruher Ermittler nun an die Generalstaatsanwaltschaft Sachsen herantraten, um den Fall zu übernehmen, war man in der Behörde überrascht. „Was die Bundesanwaltschaft dazu bewogen hat, weiß ich nicht“, sagt Oberstaatsanwalt Wolfgang Klein aus Dresden.
Um zu einer Anklage wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung zu kommen, müsse man feste Strukturen erkennen und belegen können, sagt Klein Mitte März am Telefon. Die Verdächtigen in Freital würden sich zwar kennen, sagt er. „Sie wissen voneinander, dass sie ähnlich denken. Die treffen sich und sagen: Ich mach jetzt mal was, wer kommt mit?“ Das reiche für eine solche Anklage aber noch nicht aus.
Die Bundesanwaltschaft sieht das nun anders. Warum, das will eine Sprecherin nicht sagen. Wegen des laufenden Verfahrens äußere man sich nicht zu weiteren Einzelheiten.
Ihr Chef, Generalbundesanwalt Peter Frank, hat schon länger angekündigt, ein „Gegenfanal“ gegen die wachsende rechte Gewalt zu setzen, wenn es nötig werde. Drei Kriterien hat seine Behörde angelegt, bei denen sie einschreitet. Wenn es zu Toten durch einen Angriff kommt. Wenn es Pogrome gibt wie in Rostock oder Hoyerswerda in den neunziger Jahren. Oder wenn eine rechtsterroristische Gruppe zur Tat schreitet. Entscheidend für letzteren Fall ist, so heißt es intern, dass die Gruppe das Ziel hatte, Personen zu treffen und dies mit den beschlagnahmten Materialien auch nachzuweisen ist. Dies gilt nun offenbar für Freital.
Die Bundesanwaltschaft tat sich lange schwer. Mehr als 130 Terrorverfahren führt sie gegen islamistische Verdächtige. Im Bereich des Rechtsterrorismus werden es nun zwei: die Oldschool Society, die in verschlüsselten Chats einen Anschlag plante. Und Freital.
Die Welt der Neonazi-Facebook-Seiten passt schlechter in den Terrorismusparagrafen als die rechten Strukturen der Vergangenheit. Früher gab es straff organisierte Kameradschaften. Heute dagegen läuft die Mobilisierung in vielen Orten über das Internet. Taten werden zu Botschaften: Schaut her, so einfach ist es. Manche Gruppen finden sich nur für eine Aktion zusammen.
So ziehen seit 2012 Neonazis immer wieder an verschiedenen Orten mit weißen Masken und Fackeln durch die Straßen. Das Phänomen hat nicht mehr als ein Label: „Volkstod-Kampagne“. Die Gruppen lösten sich nach Minuten wieder auf. Kein Name einer Führungsfigur, kein Webauftritt verbindet sie. Dennoch kommen von heute auf morgen 300 Menschen zusammen, ohne dass irgendetwas durchsickert. Vielleicht sind weniger straff organisierte Gruppen sogar gefährlicher. Weil sie unterschätzt werden.
Oberstaatsanwalt Klein aus Dresden nennt den mutmaßlichen Chef der Bürgerwehr, Timo S., ein unbeschriebenes Blatt. Auf die Frage, ob Timo S. ein Rechtsradikaler ist, sagt er: „Ich würde es gern dem Prozess überlassen herauszufinden, inwieweit eine entsprechende Motivation vorlag und inwieweit diese Motivation zum Tragen gekommen ist.“
47 Konsequenzen aus dem NSU wurden gefordert
Tatsächlich passt Timo S. oberflächlich betrachtet in die Erzählung vom unbescholtenen Bürger. Er wuchs in Hamburg auf und arbeitete dort als Busfahrer. Im Herbst 2014 zog er nach Freital. Hier lenkte er weiterhin Stadtbusse, bis er im November 2015 verhaftet wurde. Polizeilich ist er nie in Erscheinung getreten. Ein Mann aus der Mitte der Gesellschaft, der sich mit ein paar Freunden in seine Wut hineingesteigert hat und dann loszieht und versucht, Asylbewerber zu töten?
Dem Verfassungsschutz ist S. allerdings schon seit 2011 als Rechtsextremist bekannt, heute verortet ihn der Geheimdienst im Umfeld der Neonazigruppe „Freie Kräfte Dresden“. Fotos und Videos, die man im Netz über ihn findet, zeigen ihn bei NPD-Kundgebungen in Hamburg und Neumünster in den Jahren 2009 und 2012. Bei einem Aufmarsch in Hamburg 2011 läuft S. in den vordersten Reihen mit, ein paar Meter hinter ihm geht Sebastian R., Chef einer rechtsextremen Organisation, die sich „Weisse Wölfe Terrorcrew“ nennt. Ein anderes Foto zeigt ihn mit Denny R., der sich um die Öffentlichkeitsarbeit der Gruppe kümmert.
Mitte März wurde die „Weisse Wölfe Terrorcrew“ von Innenminister Thomas de Maizière verboten. „Offen und aggressiv“ habe die Gruppe gegen den Staat und Migranten agitiert, sagte er. Mitglieder sollen an Anschlagsplänen auf Flüchtlingsheime in Bamberg beteiligt gewesen sein. In Hamburg und Pinneberg griffen sie Migranten und Polizisten an.
In zehn Bundesländern durchsuchte die Polizei Wohnungen der Terrorcrew-Anführer. Dabei wurden Kugelbomben, Wurfsterne, eine Armbrust und Pistolen gefunden.
Ein Neonazinetzwerk, das sich über ganz Deutschland erstreckt. In einer Zeit, in der die Behörden sonst immer von Einzeltätern sprechen.
Die vertrauliche Verbotsverfügung nennt als Ziel der Gruppe: „rechtsmotivierte Aktionen gegen das ‚System‘ “. Intern wurde vom „Tag X“ gesprochen, von einem „bewaffneten Aufstand“. Ein Mitglied postete im Internet: „Ein Adolf muss wieder geboren werden oder ein neuer NSU.“
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Irene Mihalic, Grünen-MdB
Als im November vergangenen Jahres der zweite NSU-Untersuchungsausschuss im Bundestag eingesetzt wurde, trat die Grünen-Politikerin Irene Mihalic ans Rednerpult und sagte: „Heute sind wir schon wieder schlecht vorbereitet auf die rechtsextremen Anschläge. Schon wieder laufen wir Gefahr, zu übersehen, dass sich hier rechtsterroristische Netzwerke etablieren.“
Alle Fraktionen des Bundestags beriefen den Ausschuss ein, gemeinsam. Zu viele Fragen seien zu dem Terrorkomplex noch offen, befanden sie. Und noch ein Ziel verband die Abgeordneten: einen neuen Rechtsterrorismus zu verhindern.
Der erste NSU-Ausschuss im Bundestag, der bis 2013 tagte, forderte am Ende 47 Konsequenzen für die Sicherheitsbehörden. Bei migrantischen Gewaltopfern müsse künftig immer ein rassistisches Motiv geprüft werden, lautete eine. Polizisten dürften ihren Blick nicht „örtlich verengen“, sondern müssten auch bundesweit agierende, rechte Netzwerke einbeziehen, lautete eine andere. Bei komplexen Verfahren soll eine eigene Organisationseinheit gebildet werden, die sich kritisch mit dem Kurs der Ermittlungen auseinandersetzt.
Die Ziele: Der NSU-Ausschuss im Bundestag forderte in seinem Bericht 2013 Konsequenzen aus dem Versagen der Sicherheitsbehörden: Die Polizei soll nun Taten gegen Menschen mit Migrationshintergrund immer auf ein rassistisches Motiv prüfen, die Ausbildung der Polizei müsse im Bezug auf Migranten und interkulturelle Kompetenz verbessert werden und der Generalbundesanwalt kann Verfahren schneller an sich ziehen.
Die Fortschritte: 2011 eröffnete das Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus, 2012 das Operative Abwehrzentrum in Sachsen. Die Kommunikation von Ermittlungsbehörden ist intensiver, in einer Clearingstelle kommen seit 2013 alle Informationen über Straftaten gegen Asylunterkünfte zusammen.
Irene Mihalic sieht nicht, dass das passiert. „Es gibt keine andere Polizei nach dem NSU“, sagt die Grünen-Politikerin. „Es ist immer noch der gleiche Laden.“
Ein Laden, den sie kennt. Mihalic ist nicht nur Obfrau ihrer Partei im NSU-Ausschuss, sondern arbeitete auch jahrelang als Polizistin. Sie fuhr Streife in Nordrhein-Westfalen, winkte Raser von der Autobahn. 2013 zog sie in den Bundestag ein. In ihrem Büro hängt auf einer Schaufensterpuppe ihre alte Uniform: grün, zwei Sterne auf der Schulterklappe. Eine tägliche Erinnerung, woher sie kommt.
„Es beginnt schon bei der Erfassung rechtsextremer Straftaten“, sagt sie. Viele Anschläge auf Asylbewerberunterkünfte würden nicht als politisch eingestuft, weil die Täter der Polizei nicht als Neonazis bekannt seien. Und alle Übergriffe würden als lokale Phänomene abgetan. „Genau so übersieht man einen zweiten NSU“, sagt Mihalic.
In Dortmund, gut 30 Kilometer von Mihalic Wahlkreisbüro in Gelsenkirchen entfernt, gibt es derzeit eine der aktivsten rechtsextremen Szenen der Republik. Zu Silvester griffen sie mit Eisenstangen Polizisten an. Bei einem Aufmarsch rief ein Redner: „Es ist unser Auftrag, das volksfeindliche Regime zu liquidieren.“
Der Kommissariatsleiter der Dortmunder Polizei saß kürzlich im Wahlkreisbüro von Irene Mihalic. Sie war nach dem Gespräch beruhigter. „Ich habe den Eindruck, die Dortmunder Polizei weiß um den Ernst der Lage.“
Es gibt sie, sagt Mihalic, die engagierten Polizisten. Daneben gibt es aber auch viele, die nach dem NSU weitermachen wie bisher. Die Veränderung, meint sie, muss auf unterschiedlichen Ebenen beginnen. Etwa mit einer Kultur, dass auch die Polizei Fehler eingestehen dürfe. Aber auch mit Dienstvorschriften, einem Instrument, dass auch im Leitz-Ordner-Denken vieler Beamter funktioniert.
Es ist ein System, in dem sich das Anschieben von Veränderungen genauso zäh anfühlt wie das Warten auf Gerichtsurteile. Drei, vier Monate dauert es, so berichten es Beratungsstellen aus Sachsen, bis ein Opfer das erste Mal überhaupt vernommen wird. Wenn es gut läuft, kommt es nach einem Jahr zur Anklage.
In Freital ermittelt die Polizei bei allen Körperverletzungen, Morddrohungen, Hakenkreuzschmierereien und Brandanschlägen weiterhin und konnte noch keinen weiteren Täter feststellen.
Die Geflüchteten bleiben ab 18 Uhr im Haus
Bei dem Sprengstoffanschlag auf das Auto von Michael Richter und das Büro der Linken gibt es sieben Verdächtige. Anklage wurde noch nicht erhoben.
Bei dem Baseballschlägerangriff auf das Auto der Flüchtlingsaktivisten gab es einen ersten Verhandlungstag im Januar 2016. Nachdem aber der Richter den Prozesskostenbeihilfeantrag eines Opfers versehentlich an die Anwälte der Täter weitergeleitet hat, inklusive Daten über Arbeitgeber und privater Wohnadresse, stellte die Anwältin des Opfers einen Befangenheitsantrag gegen den Richter. Er wurde abgelehnt, das war vor zwei Monaten. Ende April soll der Prozess fortgesetzt werden.
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Ein graues Haus in der Bahnhofstraße in Freital, eine der Asylbewerberunterkünfte. Aus der Küche kommt der Geruch von gebratenen Zwiebeln. Das Küchenfenster ist mit Zeitungspapier zugeklebt, Bauschaum hält es im Rahmen. Hier ist im September der Sprengsatz explodiert.
Ein Dutzend Männer aus Eritrea steht in der Küche. Angosso, der seinen Nachnamen sicherheitshalber nicht nennen will, erzählt, dass er und seine Mitbewohner nach 18 Uhr nicht mehr auf die Straße gehen. Zu oft passiert es, dass Autos an ihnen vorbeifahren, aus deren Fenstern gröhlende Männer ihnen den Mittelfinger zeigen. Erst vor ein paar Wochen wurde wieder ein Eritreer zusammengeschlagen. Zur Polizei gehen sie deshalb nicht mehr, sagt er, weil sie nicht gut Deutsch sprechen und die Polizisten oft sehr ungeduldig seien.
Vielleicht gehört das alles zum selben Bild.
Polizisten, die eine Anweisung aus dem Bundestag haben, bei jeder Straftat gegen eine Person mit Migrationshintergrund zu prüfen, ob ein rassistisches Motiv infrage kommt. Die aber ungeduldig werden, wenn jemand nicht gut Deutsch spricht.
Kriminalbeamte, die den Tag damit verbringen, Vorfälle von einer Liste in eine andere abzutippen. „20.09.2015 Freital Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion § 308 StGB.“ Listen, deren Aussagekraft am Gartenzaun der Asylbewerberunterkünfte endet.
Staatsanwälte, die mit dem Terrorismusparagrafen umgehen wie mit einem unhandlichen Werkzeug. Weil er geschrieben ist für eine Welt, in der rechtsextreme Gruppen sich noch Anführer suchten statt Gewalt gegen Ausländer als Variante des Flashmobs zu verstehen.
Ein träger Apparat. Es gibt einige, die versuchen, die Zahnräder neu zu justieren, hier und da zu ölen, ein paar Teile zu ersetzen. Es ruckelt ein wenig.
Direkt neben dem Küchenfenster der Eritreer wurde mit schwarzer Farbe „NS“ an die Hauswand gesprüht. Sie haben sich schon oft gefragt, was das bedeutet, sagt Angosso. Schließlich sieht man die beiden Buchstaben überall in Freital. Als die Männer es schließlich erfahren, werden sie still.
Eine halbe Stunde später steht auf dieser grauen Freitaler Straße eine Gruppe von Geflüchteten und betrachtet die Buchstaben „NS“. Im Gras, auf dem sie stehen, liegen noch die Glasscherben. Niemand hat sie eingesammelt.
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