Theater gegen Missbrauch: Pizza essen mit dem Onkel
Das Projekt „GrenzWerte“ will Kinder gegen sexuelle Grenzüberschreitungen sensibilisieren. Auch Oma-Küsse und schmierige Sportlehrer sind Thema.
BRITZ taz | „Also, Tobias.“ Onkel Jürgen baut sich bedrohlich vor seinem Neffen auf. „Entweder wir gucken jetzt zusammen diesen Sex-Film. Oder ich erzähle deinen Eltern, ich hätte dich dabei erwischt, wie du heimlich auf meinem Rechner Sex-Filme geguckt hast.“
Tobias erstarrt. Gerade noch hatte er beim Onkel zu Hause auf die bestellte Pizza gewartet, sie hatten über die verpatzte Mathearbeit, das Fernsehverbot der Eltern geplaudert. Und jetzt das! Tobias ist ratlos.
„Schluß!“ ruft Andrea Metzner, die beiden Schauspieler neben ihr erstarren. Im Klassenraum der Max-Kienitz-Grundschule im brandenburgischen Britz bei Eberswalde herrscht angespannte Stille. Die Sozialarbeiterin fragt das Publikum, die Klasse 4A: „Was soll Tobias tun?“ Einige Finger gehen hoch. „Er soll sofort seine Eltern anrufen“, antwortet ein Junge.
Die Theaterszene geht weiter. Nun kommt die Mutter, sie glaubt Tobias die Geschichte nicht. Im Gegenteil: Tobias soll sich nun für seine „dreisten Lügen“ bei Onkel Jürgen entschuldigen. Da platzt es aus einem Mädchen heraus: „Ich weiß, wie Tobias sich jetzt fühlt. Meine Eltern glauben mir auch nie.“
Notfallkarten für Schüler
Gut, dass man sich Hilfe von Erwachsenen holen kann, die garantiert zuhören: Das dreiköpfige Theaterteam des Projekts „GrenzWerte“ verteilt kleine rote Notfallkarten an die Kinder, auf denen die „Nummer gegen Kummer“ und eine Online-Beratungsadresse stehen. Am Ende der 45-minütigen Theatervorstellung bleibt die Erkenntnis: Es gibt gute und schlechte Geheimnisse. Und: Die schlechten darf man nicht nur verraten – man muss sogar, um nicht in Gefahr zu geraten.
Fünf Alltagssituationen rund um Grenzverletzungen haben Andrea Metzner und die beiden TheaterpädagogInnen Dieter Bolte und Martine Schoenmakers im Repertoire, wenn sie mit dem Präventionsprojekt „GrenzWerte“ in Grundschulen auftreten. Das Theaterspiel ist nur ein Teil des Gesamtpakets, das Schulen, Horte und andere Einrichtungen buchen können, die mit Kindern zwischen 8 und 13 Jahren arbeiten.
Hat eine Einrichtung sich zur Teilnahme entschieden, bekommen die pädagogischen Fachkräfte eine Fortbildung zum Thema „Basiswissen sexueller Missbrauch und Prävention“. Darauf folgt ein Informationsabend für interessierte Eltern und noch eine Fortbildung zum Thema Medienkompetenz.
Im letzten Schritt, dem Theater, vermitteln die interaktiven Szenen den Kindern, dass sie sich wehren dürfen – nicht nur gegen den tatschenden Sportlehrer, sondern auch gegen die Oma, die Geschenke bringt und dafür innige Küsse verlangt.
Acht Mal nach Hilfe fragen
Nach den Vorstellungen wartet Andrea Metzner allein im Nebenzimmer auf Kinder, die dann die Gelegenheit haben, Fragen und Sorgen loszuwerden. In Britz kommt niemand. Zum Glück? Im Schnitt muss ein von sexueller Gewalt betroffenes Kind acht Erwachsene ansprechen, bevor man ihm hilft.
Mit Prävention könne man gar nicht früh genug anfangen, sagt Anke Sieber vom Verein Dreist e.V., dem Trägerverein des „GrenzWerte“-Projekts mit Sitz in Eberswalde. 47 Prozent erlebten sexuelle Gewalt im Vorschulalter, sagt Sieber. Der Verein bietet mit „SpielGrenze“ deshalb auch ein Projekt an, das sich an die Altersgruppe der 4- bis 8-Jährigen richtet. Wird ein konkreter Fall deutlich, hilft der Verein der Einrichtung, Kontakt mit Jugendämtern und Beratungsstellen aufzunehmen.
Den kleinen Verein, der aus drei hauptamtlichen und acht freien MitarbeiterInnen besteht, gibt es seit 17 Jahren – doch erst seit wenigen Jahren interessieren sich Schulen, Horte und Kitas intensiver für das Angebot. „Früher kam ich mir oft vor wie eine Staubsaugervertreterin, jetzt sind die Kurse ein Jahr im Voraus ausgebucht“, sagt Sieber.
44 Kitas und 11 Grundschulen in Berlin und Brandenburg haben bisher das „SpielGrenze“-Paket für die Kleineren gebucht. Das erst vergangenes Jahr gestartete Nachfolgeprojekt „GrenzWerte“ fand bereits 13 Mal statt. Trotz des großen Interesses ist die Finanzierung des Vereins prekär: Weil sich die Angebote weder auf reine Sozialarbeit, noch auf eine bestimmte Altersgruppe beschränken, fällt das Projekt bei vielen Fördertöpfen durchs Raster.
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