Debatte Gaza-Krieg: Logik der Gewalt
Zum ersten Mal ist die Mehrheit der Israelis für eine Bodenoffensive. Was im Gazastreifen geschieht, wird als Bekämpfung eines unerbittlichen Feindes wahrgenommen.
A ls eines der paradoxen Resultate der bisherigen Kriegsdynamik im Gazastreifen darf gelten, dass Israels Premier Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Mosche Jaalon, gemeinhin als rechtsgerichtete Hardliner der israelischen Politik angesehen, plötzlich als moderate, besonnene Politiker erscheinen.
Netanjahu hat den gegenwärtigen Waffengang eigentlich nicht gewollt, obgleich er die Vorbedingungen für seinen Ausbruch aktiv und dezidiert mitkreierte, indem er die Wochen der Suche nach den entführten israelischen Jugendlichen im Vorfeld des Krieges nutzte, um die Infrastruktur der Hamas im Westjordanland von Grund auf zu demontieren.
Dabei wurde ziemlich bald nach der Entführung dem Geheimdienst und somit auch der Regierungsspitze klar, dass die Entführten nicht mehr am Leben sind. Die Möglichkeit, die Hamas anzugehen und die zuvor mühsam zustande gekommene Koalition der verfeindeten palästinensischen Seiten in Bedrängnis zu bringen, nutzten Netanjahu und Jaalon weidlich aus. Nichts kam ihnen mehr zupass.
ist Soziologe und Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv. Seine letzten deutschen Buchpublikationen sind: „Wider den Zeitgeist [I und II] – Aufsätze und Gespräche über Juden, Deutsche, den Nahostkonflikt und Antisemitismus“ (Laika 2012/13), „Antisemit! – Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument“ (Promedia 2010), „Die Angst vor dem Frieden – Das israelische Dilemma“ (Aufbau 2010).
Dadurch geriet die Hamas in eine Profilierungsnot, was den Dauerbeschuss von Israels Süden mit Kassam-Raketen zur Folge hatte, der wiederum Israel zum Waffengang trieb, an dem jedoch Netanjahu, wie gesagt, nicht interessiert war. Er wartete ab, zeigte beachtliche politische Langmut so lange, bis es nicht mehr ging und er die Armee in Stellung bringen ließ.
Neue strategische Bedrohung
Da das Kräfteverhältnis zwischen der IDF und der Hamas überhaupt keinen ernst zu nehmenden Vergleich zulässt, hat man sich über die Jahre an ein Grundmuster gewöhnt: Aus welchem Anlass auch immer beschießen die Gazapalästinenser Israels Städte mit Raketen, deren Reichweite von einem Gewaltausbruch zum anderen zunimmt; die israelische Luftwaffe startet massivste Bombardements, die viele Todesopfer fordern und immensen Sachschaden anrichten.
Beim diesmaligen Waffengang wurde aber der Schreck- und Schadenseffekt der Hamas-Raketen durch ein besonders effizientes Abwehrsystem der israelischen Armee weitgehend neutralisiert. Gleichzeitig sah man sich mit einer neuen strategischen Bedrohung konfrontiert, über die man zwar schon seit Jahren unterrichtet war, aber deren Ausmaß man offenbar falsch eingeschätzt hatte: einem weit verzweigten Tunnelsystem, das den Hamas-Kämpfern den Zugang bis an den Rand israelischer Orte jenseits der Grenze ermöglichte.
Nicht nur hätten viele Bewohner dieser Orte eine gleichsam „aus dem Nichts“ über sie hereinbrechende feindliche Attacke mit ihrem Leben bezahlen müssen, sondern es wäre den Hamas-Freischärlern möglich geworden, ganze Familien als Geiseln mitzunehmen. So jedenfalls stellte sich das Horrorszenario in der israelischen Kriegsberichterstattung dar.
Das Zusammenwirken des Schocks über Ausmaß und Tragweite des Tunnelsystems, der Verstärkung dieser unterirdisch generierten Gefahr in den Medien und im polemischen Politdiskurs sowie der Notwendigkeit, auf diese neue Bedrohung militärisch adäquat zu reagieren, zeitigte den Entschluss, vor dem sich politisch verantwortliche Instanzen in Israels Kriegen (im Gazastreifen und im Libanon) stets fürchten: eine Bodenoffensive zu starten.
Trotz Übermacht keine eindeutigen Siege
Denn allen ist klar, dass derlei Kriege nicht aus der Luft, sondern, wenn überhaupt, einzig vom Boden aus entschieden werden können. Bei Bodenoffensiven aber fallen stets verhältnismäßig viele Soldaten, was in Israel zu empfindlichen Reaktionen seitens der Bevölkerung und zu einem entsprechenden Zögern der politischen Entscheidungsträger führt, dies umso mehr, als das Militär bei den Waffengängen der letzten Jahre trotz großer Übermacht keine eindeutigen Kurzer-Prozess-Siege, wie sie der grandiose Ausgang des 1967er Krieges in die Erwartungsmatrix der Bevölkerung eingeprägt hat, aufweisen kann.
Warum ist das diesmal anders? Warum hat eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung die Bodenoffensive positiv aufgenommen? Warum haben (nach jüngsten Erhebungen) 85 Prozent gar darauf gedrängt, die gestartete Offensive nicht durch einen Waffenstillstand frühzeitig zu unterbrechen, sondern sie weiterzutreiben, bis „die Gefahr“ gebannt und „Ruhe“ an der Hamas-Front endgültig einkehrt ist? Dies, wie gesagt, obwohl Netanjahu und Jaalon ursprünglich gegen eine ausgeweitete Militäroperation waren (und noch immer sind).
Mehrere Faktoren wirkten sich in dieser Entwicklung aus. Zum einen sieht sich Netanjahu einer inneren politischen Front gegenüber: Nicht nur seine rechtsradikalen Koalitionspartner Avigdor Lieberman und Naftali Bennett drängen unentwegt auf Eskalation und militärische „Entscheidung“, sondern auch der rechte Flügel seiner eigenen Partei hat merklich an Boden gewonnen und betreibt eine offene Opposition gegen den Parteiführer und Regierungschef.
Die Opponenten initiieren eigene Pressekonferenzen, und es kam sogar dazu, dass Netanjahu seinen Vizeverteidigungsminister Danny Danon, mitten im Krieg, entlassen hat. Netanjahu erscheint also moderat, weil er von Kontrahenten aus der eigenen politischen Umgebung umringt ist, die ihn allesamt rechts überholt haben.
Skrupelloses Machtkalkül
Sie selbst folgen einem kalten politischen Machtkalkül: Sie machen Netanjahu seine potenziellen Wähler streitig, indem sie deren friedens- und araberfeindliches Ressentiment populistisch anheizen. Sie denken bereits in Kategorien künftiger Wahlen und handeln skrupellos danach, indem sie Netanjahu als entscheidungsunfähigen Zögerer ausweisen – und sich selbst entsprechend als entschlussfreudige Aktionisten.
Die israelische Bevölkerung, längst ums nationale Stammesfeuer versammelt und durch wochenlange ideologische Medienberieselung in ihrer Reflexionsfähigkeit merklich geschwächt, äußert sich großteils gegen einen Waffenstillstand und fordert eine Erweiterung der Militäroperation. Zweierlei hat diese enthusiasmierte Attitüde gefördert.
Zum einen die Effizienz des israelischen Raketenabwehrsystems (Iron Dome), die dazu führte, dass man sich durch den Raketenbeschuss weit weniger bedroht wähnt als früher. Ein populärer makabrer Witz lautet: Für die Friedensbereitschaft der Israelis sei der Iron Dome ein strategischer Nachteil; man fühle sich zu sicher, um den Waffenstillstand gutzuheißen.
Zum anderen eröffnet die Dämonisierung des Tunnelsystems eine ganz neue strategische Dimension des Kampfverhältnisses zwischen Israel und der Hamas. Und was dämonisch erscheint, weil es die eigene Sicherheit in einer bisher nicht bekannten, mithin unberechenbaren Weise bedroht, muss vernichtet werden. Dies haben sich die israelische Regierung und das Militär zum Ziel gemacht – und diesem Beschluss folgt eben auch die vox populi inhumana, welche das medial angefachte Bedrohungsgefühl nachgerade zum Fetisch hat gerinnen lassen.
Der Tod von Zivilisten wird wegrationalisiert
Dass sich Netanjahu erlauben darf, die gewaltigen Bombardements ohne gewichtigen oppositionellen Widerspruch noch zu intensivieren, nachdem die Hamas sich aus eigenen machttaktischen Gründen einer „humanitären Waffenruhe“ mehrmals widersetzt hat, hat seinen Grund darin, dass das, was Israel im Gazastreifen anrichtet, von der israelischen Bevölkerung einzig unter dem Aspekt der Bekämpfung eines unerbittlichen Feindes wahrgenommen wird.
Dass dabei eine Unzahl von Zivilisten, unter ihnen viele Frauen und Kinder, umkommen, wird damit wegrationalisiert, dass die Hamas diese als „menschlichen Schutzschild“ verwendet, so, als befänden sich nicht auch die Gebäude strategisch bedeutender Institutionen Israels mitten in Tel Aviv.
Die totale Blindheit für die Leiderfahrung der palästinensischen Bevölkerung in ihrem gemarterten Landstreifen wird nicht nur damit garantiert, dass man die Israelis erst gar nicht mit Dokumentationen und Berichten darüber „belästigt“, wobei diese freilich auch wenig Interesse bekunden, mit der von Israel verursachten Barbarei konfrontiert zu werden.
Die zynische Kälte wird erst gar nicht als solche wahrgenommen (man unterhält ja die „moralischste Armee der Welt“), sondern damit gerechtfertigt, dass die Gazapalästinenser sich ja nicht gegen die sie unterdrückende Hamas-Regierung erhöben, so, als würden die Israelis, die sich rühmen, „eine Villa im Dschungel“ zu sein, sich je einfallen lassen, sich gegen ihre Regierungen zu empören, welche sich stets als friedensunwillig erweisen.
Die Frage, warum die Regierung brachiale Gewalt gegen die Palästinenser im Gazastreifen anwendet und diese überproportionale Anwendung der Gewalt von der Bevölkerung Israels gutgeheißen und abgesegnet wird, braucht gar nicht erst beantwortet zu werden. Allein die Fragestellung dürfte heute in Israel bereits als antisemitisch gelten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung
BSW in Thüringen
Position zu Krieg und Frieden schärfen