Debatte Russland und die Türkei: Es geht nicht nur ums Gas
Putin und Erdogan bilden eine neue geopolitische Achse gegen Europa. An dieser Opposition ist auch die westliche Arroganz schuld.
A ls Wladimir Putin Anfang Dezember in Ankara das Aus der geplanten Gaspipeline South Stream verkündete, hielten das die meisten Kommentatoren in Deutschland für eine energiepolitische Nachricht. Viele sahen darin auch ein Eingeständnis, dass Russland die enormen Kosten, die der Bau der Gaspipeline durch das Schwarze Meer erfordern würde, offenbar nicht mehr stemmen kann. Sie lagen falsch.
Zweifellos ist die Ankündigung des russischen Präsidenten, keine Pipeline mehr nach Bulgarien und weiter in die EU bauen zu wollen, eine wichtige energiepolitische Entscheidung. Doch vor allem ist sie Indiz für eine grundsätzliche strategische Umorientierung Russlands, die auf neue/alte geopolitische Konstellationen hindeutet.
Es war kein Zufall, dass Putin sich für die Bekanntgabe des Aus für South Stream ein Treffen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in Ankara ausgesucht hat. Schon da deutete Putin an, dass der Kreml nicht ersatzlos auf South Stream verzichten will, sondern erwägt, statt Bulgarien die Türkei zum Umschlagplatz für russisches Gas zu machen.
Gazpromchef Alexei Miller hat das dann einige Tage später im russischen Fernsehen präzisiert. Russland will zukünftig die Türkei zu einem strategischen Partner für den Verkauf von russischem Gas machen. Man werde die begonnene Gaspipeline weiterbauen und dazu eine neue Firma gründen. Die wird dann eine Röhre unter dem Schwarzen Meer in die Türkei legen, durch die zusätzlich zu der bereits bestehenden, „Blue Stream“ genannten Gaspipeline von Russland nach Ankara, weitere 50 Milliarden Kubikmeter Gas jährlich in die Türkei gepumpt werden können. „Die EU“, so Miller, „sehe sich künftig dann dem neuen mächtigen Transitland Türkei gegenüber.“ Das werde die Türkei in die Lage versetzen, der EU gegenüber massiver auftreten zu können.
Ausgrenzung als gemeinsames Gefühl
Zusätzlich wollen Putin und Erdogan den Warenaustausch zwischen beiden Länder verfünffachen, und der mächtigste türkische Industriekonzern Koc kündigte an, man werde im kommenden Jahr den Bau einer großen Lkw-Fabrik in Russland beginnen.
Es geht also um den Beginn einer strategischen Partnerschaft zwischen zwei Ländern, die zwar in einigen Bereichen noch große Konflikte haben, die aber dennoch ein Grundgefühl eint: von der EU, von Europa ausgegrenzt und schlecht behandelt zu werden.
Die Geschichte der Annäherung zwischen Russland und der Türkei passt in die Diskussionen anlässlich des 100. Jahrestags des Beginns des Ersten Weltkriegs. Denn was jetzt passiert, führt in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurück. Jahrhundertelang war Europa mit dem russischen Zarenreich im Nordosten und dem Osmanischen Reich im Südosten mit zwei autokratischen, tendenziell reformunfähigen Militärmächten konfrontiert, die wie Russland in Polen und das Osmanisch Reich auf dem Balkan europäisches Kerngebiet erobert hatten und deren Ambitionen und Probleme mit zum Ersten Weltkrieg führten.
Zurück in die Betonzeit
Im Moment hat man den Eindruck, als säße man in einer Zeitmaschine. Russland fällt habituell und ökonomisch auf das Zarenreich zurück, und die einstmals säkulare, nach Westen ausgerichtete Türkei ist mit Macht dabei, ideologisch und außenpolitisch eine Rolle rückwärts zu den vermeintlichen glorreichen Zeiten des Osmanischen Reiches zu machen. Die Entwicklungen in Russland wie in der Türkei können ein enormes aggressives Potenzial entwickeln, das dem übrigen Europa große Schwierigkeiten bescheren kann, zumal wenn die beiden Länder sich zusammentun.
Dass es so weit gekommen ist, hat sowohl in Russland wie in der Türkei innenpolitische Gründe, aber eben nicht nur. Es ist auch ein Ergebnis einer sträflich ignoranten Politik Europas gegenüber der Türkei und einer genauso sträflich ignoranten und teils triumphalistischen Politik des Westens gegenüber Russland nach 1989. Wer heute die aggressive Politik Putins und Erdogans beklagt, darf über die Vorgeschichte nicht schweigen. Es gab in den neunziger und den beginnenden nuller Jahren für Europa sowohl gegenüber Russland wie auch gegenüber der Türkei ein „window of opportunity“, das nicht genutzt wurde.
Erdogan wollte in die EU
Die auf den Trümmern des Osmanischen Reichs gegründete Türkische Republik war von Beginn an der Versuch, Teil der „westlichen Zivilisation“ zu werden, wie Gründungspräsident Mustafa Kemal (Atatürk) es ganz offen formuliert hat. Auch wenn es jahrzehntelang nicht gelang, diesen Anspruch einzulösen, spätestens seit Mitte der achtziger Jahre waren alle türkischen Regierungen bis zu den Anfangsjahren von Erdogan ernsthaft bereit, das Land mit allen Konsequenzen in die EU zu führen.
Sie sind gescheitert an einer kulturalistischen, arroganten Debatte, die kein anderes Ziel hatte, als der türkischen Bevölkerung klarzumachen, dass sie eben nicht Teil der „westlichen Zivilisation“ sind. Das Ergebnis ist, dass Erdogan die Türkei nun mit großer Emphase und aggressiven Sprüchen gegen den Westen zum tragenden Bestandteil der „östlichen, muslimischen Zivilisation“ erklärt.
Mit Russland lief es nicht viel anders. Erst ließ man zu, dass das Land nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vom Raubtierkapitalismus gefleddert wurde, später speiste man Putin, der in seinen ersten Amtszeiten ja durchaus auf eine Zusammenarbeit mit dem Westen setzte, mit einigen Scheininstitutionen wie dem Russland-Nato-Rat ab. Eine neue Friedensordnung mit Russland konnte so nicht entstehen.
Dieses Geschichtsfenster zum Ausgleich jahrhundertealter Gegensätze zwischen dem westlichen Europa einschließlich Deutschlands auf der einen und Russland und der Türkei auf der anderen Seite scheint sich jetzt wieder zu schließen. Viele Leute in Deutschland spüren das und sind unglücklich darüber. Die ersten Verlierer sind die Menschen in Russland und der Türkei, die auf eine Demokratisierung im Innern durch eine enge Anbindung an Europa gehofft hatten. Wird aus dem verpassten Ausgleich eine dauerhafte Konfrontation, werden auch alle anderen EuropäerInnen dafür zahlen.
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