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Das Ende der Anarchie

RÄUMUNG Am Morgen des 14. November 1990 bricht in Berlin-Friedrichshain der Bürgerkrieg aus. Polizisten kämpfen gegen Besetzer. Die Straßenschlacht hat die politische Landschaft verändert

Die umkämpfte Straße

Der Leerstand: Als die Mauer 1989 fällt, stehen in Ostberlin 18.000 Wohnungen leer. In der Mainzer Straße sollen 13 Häuser abgerissen werden.

■ Die Besetzung: Nach der Veröffentlichung einer Leerstandsliste in einer Westberliner Szenezeitschrift beginnt im April und Mai die Besetzung der Mainzer Straße. Bis zum Sommer sind 130 Häuser in Ostberlin besetzt.

Die Berliner Linie: Der Ostberliner Magistrat übernimmt am 24. Juli die „Berliner Linie“ des Westberliner Senats. Über die Häuser, die bis dahin besetzt sind, wird verhandelt. Neubesetzungen sollen geräumt werden.

Der Häuserkampf: Mit der Räumung zweier Häuser im Rahmen der Berliner Linie bricht am 12. November 1990 der Häuserkampf um die Mainzer Straße aus. Die Situation eskaliert. Am Morgen des 14. November beginnt einer der größten Polizeieinsätze in Deutschland.

VON UWE RADA

Sie kommen. Totenstille, nur das Walkie-Talkie knarzt. Geht man in dem Moment noch mal aufs Klo? Freke Over schaut in entschlossene Gesichter. Gut, dass man feuchte Hände nicht sehen kann. Sie kommen. Die Stunde der Entscheidung. Mittwoch, der 14. November 1990, 6.30 Uhr. Sie oder wir. Etwas anderes gibt es nicht mehr. Over hat mit fünfhundert Mitstreitern Häuser im Ostberliner Bezirk Friedrichshain besetzt. Jetzt warten sie im verbarrikadierten Erdgeschoss der Mainzer Straße 7 auf die Polizei, die räumen soll. Ein Knall, gleißendes Licht. Blendschockgranaten. SEK auf den Dächern. Ob sie scharf schießen?

Durch die Fenster des Polizeipräsidiums am Tempelhofer Damm kriecht zur gleichen Zeit die Morgendämmerung. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Georg Schertz, der Polizeipräsident, schaut auf die Uhr. Die nächtliche Lagebesprechung mit Innensenator Erich Pätzold und Bausenator Wolfgang Nagel ist zu Ende. Der Druck war groß, zu groß. Von Terrornestern hatte die Springer-Presse gesprochen. Die kleine Runde um Pätzold hat beschlossen, zu räumen. Keiner hat widersprochen.

Wird es Tote geben, fragt sich der Polizeichef

Schertz ist seit drei Jahren Polizeipräsident. Er gilt als harter Hund. Als US-Präsident Ronald Reagan im Juni 1987 nach Westberlin kam, ließ er kurzerhand ganz Kreuzberg abriegeln. Nun ist Schertz nervös. Wird es Tote geben unter seinen 3.000 Einsatzkräften? Als er an der Mainzer Straße eintrifft, berichten die Kollegen von Gehwegplatten, die von den Dächern geworfen wurden, von Schraubenmuttern als Munition für Schleudern.

„Einen Einsatz wie die Räumung der Mainzer Straße“, sagt Schertz, „hat es in der Geschichte der Bundesrepublik bis dahin nicht gegeben. Das war Bürgerkrieg.“

Freke Over, der Besetzer, spricht von einem „traumatischen Erlebnis“, von der großen Depression danach. Er ist 23 Jahre alt, als die dreizehn Häuser in der Mainzer Straße geräumt werden. „Dieser Tag“, sagt er heute, „hat vieles verändert.“

Jener Morgen im November hat nicht nur Over und Schertz geprägt, sondern auch Berlin. So wie die Hausbesetzer die Stadt geprägt haben in jenem Jahr der Anarchie, das mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 beginnt, mit der Besetzung von 130 Häusern seinen Höhepunkt erreicht und mit der Räumung der Mainzer Straße ein dramatisches Ende nimmt.

Zwei Tage nach der Räumung ist das erste rot-grüne Experiment Berlins zu Ende. Die Fraktionschefin der Alternativen Liste, Renate Künast, lässt die Koalition mit der SPD von Walter Momper platzen. Zwanzig Jahre danach will sie selbst Regierende Bürgermeisterin werden. Vielleicht in einem grün-roten Bündnis.

Als die Mauer fällt, ist Freke Over mit dem Lieferwagen unterwegs. Er verkauft Blumenzwiebeln auf Wochenmärkten, Freiburg, Hannover. Er kommt so über die Runden. Wenn er keine Zwiebeln verkauft, werkelt er auf seiner Landkommune. Der Fall der Mauer lässt ihn nicht los. Zwei Tage später steht er mit seinen Blumenzwiebeln auf dem Kurfürstendamm in Berlin. Over, geboren 1967 in Wolfsburg, tauscht die Landkommune gegen Berliner Wohngemeinschaften. Alles scheint möglich.

An Silvester hängen in Prenzlauer Berg die ersten Transparente aus den Fenstern. Als Zeichen der Besetzung. Die Volkspolizei kommt vorbei, verteilt heißen Tee. Ein neues Jahr, keiner weiß, wie es enden wird. „Die Realität eines zerfallenden Staates war ein Traum“, sagt Over. Er träumte ihn mit.

Over ist auch dabei, als im April und Mai 1990 die zum Abriss vorgesehenen Häuser in der Mainzer Straße besetzt werden. Ohne die Staatsmacht gelten im Osten andere Regeln. Eigene Regeln. Einmal will Over mit ein paar Freunden einen Spielplatz bauen. Kein Geld, bedauert der CDU-Baustadtrat, rät aber: „Gehen Sie doch auf die Baustelle, wo Sie Ihr Material sonst auch holen.“ Dort trifft Over den Polier. „Der hatte überhaupt nichts dagegen, dass wir das Zeug mitnehmen. Er bat nur, sich mit ihm abzustimmen.“

Immer voller wird es in den dreizehn Häusern. Die Westberliner Autonomenzeitung Interim druckt eine Friedrichshainer Leerstandsliste. Wohnungssuchende ziehen nun in den Ostteil Berlins, Stadtteilgruppen aus Neukölln, Hardcorekämpfer aus Kreuzberg, denen das Politische wichtiger ist als das Private. Ein Mischung, die sich bald sortiert: In der Mainzer Straße gibt es ein Tuntenhaus, ein Frauen- und Lesbenhaus, ein Spontihaus, ein Partyhaus, ein Haus der Hippies und eines der Antiimperialisten. „Mainz bleibt meins“, steht auf einem Transparent.

Die Besetzer machen Ernst mit dem selbstbestimmten Leben, brechen durch Wände, zelebrieren Plenen und Beziehungsdebatten, verhängen die Fenster mit Gittern gegen die Naziangriffe, feiern lautstark Feste. Die Nachbarn schauen zu, rufen die Polizei, manche bringen durchgelegene Sofas vorbei. Weil die Rechten immer wieder angreifen, bietet die Volkspolizei den Besetzern eine Sicherheitspartnerschaft an. In Westberlin sind „die Bullen“ Feindbilder, im Osten werden sie Genossen. „In der Mainzer Straße stürzte nicht nur die Staatsmacht zusammen, uns gingen auch Vorurteile verloren“, sagt Over.

Andere werden bestätigt. Besserwessis gibt es auch in der linken Szene. Ein Ostbesetzer sagt: „Wenn ihr nach Spanien reist, benehmt ihr euch wie im Ausland, bei uns wie eine Kolonialmacht.“

Georg Schertz, 75 Jahre alt, sitzt ganz aufrecht am Biedermeiertisch seiner Stadtwohnung und geht die Zeitungsausschnitte durch. Er hat sie alle gesammelt. 18.000 Wohnungen stehen leer in Ostberlin, als die Mauer fällt. Es ist eine Zeit, in der sich jeder nimmt, was er braucht. Kombinatsleiter bedienen sich bei ihren Betrieben, Wohnungssuchende bei der Hinterlassenschaft der KWV, den Kommunalen Wohnungsverwaltungen. Auch die Neonazis besetzen Häuser, die Weitlingstraße in Lichtenberg wird zur nationalen Hochburg.

Bei einer Antifademo am 23. Juni 1990 kommt es zur Kraftprobe zwischen Westberliner Autonomen und Ostberliner Polizei. Steinehagel, Molotowcocktails und Leuchtspurmunition haben die Vopos bislang nicht erlebt. Nur mit Mühe wehren sie den Angriff der Westlinken auf die besetzten Häuser der Neonazis ab. Augenzeugen bezeichnen den „technischen und ausrüstungsmäßigen Zustand“ der Polizei Jahre später als „erbärmlich, wenn nicht gar als lächerlich“.

Georg Schertz muss die Volkspolizei mit der Westberliner Polizei vereinigen. Er erlebt Streifenbeamte, die lieber den Vorgesetzten anrufen, statt selbst zu entscheiden. Nur mühsam wächst unter Schertz zusammen, was jetzt zusammengehören soll. Als der Polizeipräsident erfährt, dass seine Westpolizei den Festakt zur Wiedervereinigung schützen wird, ist er stolz. Als studierter Jurist sieht er die Schwierigkeit. Der Festakt findet am Vorabend des 3. Oktober 1990 im Schauspielhaus statt. Ostberlin ist aber bis Punkt 24 Uhr Hoheitsgebiet der Alliierten. Also besorgt sich Schertz einen Einsatzbefehl des Alliierten Kontrollrats.

Am nächsten Tag demonstrieren mehr als zehntausend linke Einheitsgegner unter dem Motto „Deutschland, halt’s Maul“. Schertz muss nicht mehr tricksen. Am Alexanderplatz, in der künftigen Hauptstadt der neuen Bundesrepublik, stehen statt der erbärmlichen Staatsmacht behelmte Polizei mit Wasserwerfern und Knüppel. Georg Schertz sagt: „In Kreuzberg haben die Randalierer noch Regeln eingehalten, in Ostberlin kannten sie keine Grenzen mehr.“ Auch die Beamten sind nicht zimperlich. „Glassplitter auf deutscher Einheitstorte“ titelt die taz.

Der Innensenator macht seine Drohung wahr

Westpolizei, Westrecht, Westordnung. Deutschland ist vereint und für die besetzten Häuser in Friedrichshain nicht mehr der Ostberliner Magistrat zuständig, sondern Innensenator Erich Pätzold. Neubesetzungen werden nicht geduldet. Es gilt die „Berliner Linie“. Die Häuser, die zum Stichtag 24. Juli besetzt waren, können verhandeln, alle anderen werden geräumt. Die Anarchie steht auf dem Spiel. Freke Over beginnt, das zu begreifen.

Nun gilt es zu retten, was zu retten ist. „An eine militante Verteidigung der Häuser“, sagt Over, „dachte aber keiner.“

Der 12. November 1990 ist ein Montag. Georg Schertz schlägt dort zu, wo er keinen Widerstand vermutet, in der Pfarrstraße 112 in Lichtenberg und der Cotheniusstraße 16 in Prenzlauer Berg. Die Häuser waren nach dem Stichtag am 24. Juli besetzt worden. Der Innensenator macht seine Drohung wahr.

Kurz danach kommt es auf der Frankfurter Allee, einer mehrspurigen Magistrale in Friedrichshain, zu einer Demonstration. 76 Teilnehmer zählt Freke Over. Als die Polizei eintrifft, ziehen sich die Protestierer in die Mainzer Straße zurück und beginnen, Barrikaden zu bauen. Die Polizei rückt mit Wasserwerfern nach, Fenster bersten. „Aber wir haben die Mainzer Straße zurückerobert“, sagt Freke Over. Er klingt immer noch stolz.

Auf der politischen Landkarte haben sich die Grenzen seitdem verschoben. In Berlin regiert Rot-Rot. Die Grünen wachsen in den Umfragen gerade aus ihrer Rolle als Juniorpartner heraus. In bürgerlichen Kreisen ist die Sympathie für Künast groß, stellt Georg Schertz fest, auch in reichen Vierteln wie dem Grunewald. Sollte Künast gewinnen, es wäre denkbar, dass sie einen Grünen zum Innensenator macht. „Davor habe ich keine Angst“, sagt Schertz. Er ist zwei Jahre nach der Straßenschlacht in den Ruhestand versetzt worden, weil er sich mit dem neuen Innensenator der CDU angelegt hatte. Als Rentner kümmert er sich um die Geschichte der Havelinsel Schwanenwerder. Manche alten Positionen hat er geräumt: Den Wasserwerfereinsatz gegen die Stuttgart-21-Gegner nennt er völlig unangemessen.

In seiner Stadtwohnung holt Schertz einen Folianten hervor. Alles, was während seiner Amtszeit polizeilich von Bedeutung war, hat er notiert. Veröffentlicht wurden seine Aufzeichnungen bisher nur polizeiintern. „In den Abendstunden des 12. November 1990 eskalierten die Ereignisse von Stunde zu Stunde“, schrieb Schertz, „vermummte Chaoten rissen die Mainzer Straße mit einem gekaperten Bulldozer auf, es wurden metertiefe Straßengräben ausgehoben und Barrikaden aus Müllcontainern, Stacheldraht, umgestürzten Autos und dergleichen errichtet.“ Bald, sagt Schertz, habe sich herausgestellt, dass die Polizeikräfte die Lage nicht unter Kontrolle brachten. „Die Besetzer bauten die Mainzer Straße zu einer Festung aus.“

Künast versucht, das Schlimmste zu verhindern

Die Barrikaden werden höher, die Polizeiangriffe härter. Meterhoch stapeln sich alte Sofas, Einkaufswagen und Autoreifen an der Zufahrt zur Mainzer, um die Ecke brennt eine Straßenbahn. Schertz notiert: „Während ursprünglich, jedenfalls zu diesem Zeitpunkt, überhaupt nicht an eine Räumung der dort besetzten Häuser gedacht war, zeigte die Entwicklung am 13. November, dass sich hier eine Situation zu verfestigen drohte, die als Konzentration des Gewaltpotenzials mit allen Erscheinungen eines rechtsfreien Raumes anzusehen war und so in der Stadt nicht hingenommen werden durfte.“

Polizeieinsätze, Barrikaden, feindliche Fronten. Die Mainzer Straße wird zum Zentrum des Häuserkampfs.

Doch der rot-grüne Senat duckt sich weg. Noch während des Barrikadenbaus bricht der Regierende Bürgermeister zum Staatsbesuch nach Moskau auf. Mompers Amtsgeschäfte übernimmt Innensenator Erich Pätzold. Die Alternative Liste will das Schlimmste verhindern. Vergeblich wartet Renate Künast auf einem Termin beim Innensenator. Nichts mehr ist übrig von der „Jahrhundertchance“, als die Christian Ströbele und Renate Künast das Bündnis mit der SPD im März 1989 bezeichneten. Rot-Grün steht vor dem Scheitern.

Sybille Volkholz ist heute 67 Jahre alt. Damals war sie grüne Schulsenatorin. Sie erinnert sich an mehrere solcher Situationen: „Die Streitkultur war bei der SPD nicht besonders ausgeprägt.“ Mehrfach rannte die grüne Umweltsenatorin Michaele Schreyer weinend aus den Senatssitzungen, weil Momper den Basta-Regierenden gab. Basta, sagt nun auch Innensenator Pätzold. Er ist wohl noch geprägt vom 1. Mai 1989. Blauäugig glaubte der SPD-Politiker, die autonome Szene werde nach dem Regierungsantritt von Rot-Grün schon friedlich bleiben. Eine Fehleinschätzung. Tatsächlich war der erste rot-grüne 1. Mai mit 346 verletzten Beamten und 154 demolierten Polizeiwannen ein Debakel. Die Boulevardzeitung B.Z. titelte: „Beirut? Nein, das ist Berlin!“ Gerüchte machten die Runde, dass der Polizeiapparat den auf Deeskalation bedachten Pätzold ins offene Messer laufen ließ. Georg Schertz weist das zurück. „Aber vielleicht musste der Innensenator in der Mainzer Straße zeigen, dass er gelernt hat“, sagt Schertz. „Ich fand einen völlig veränderten Pätzold vor. Nur zugegeben hat er es nie.“

Bärbel Bohley wird vom Wasserwerfer weggespritzt

Die Künast-Koalition

Der Beginn: 1989 schmieden Walter Momper und Renate Künast das erste rot-grüne Bündnis Berlins. Künast wird Fraktionschefin der Alternativen Liste (AL).

Das Regieren: Sofort nach dem Start gibt es Streit – um Tempo 100 auf der Avus oder um die Bebauung des Potsdamer Platzes. Mehrfach enden Senatssitzungen im Eklat.

Das Ende: Nach der Räumung der Mainzer Straße erklärt Renate Künast das rot-grüne Experiment für gescheitert. Die SPD habe eine „Welle der Gewalt“ provoziert.

Die Strafe: Es folgt eine schwarz-rote Koalition, dann Rot-Rot. Im kommenden Jahr wollen die Grünen in Berlin mit Künast wieder regieren.

Auch die Bürgerrechtler scheitern an der SPD. Bärbel Bohley will an diesem 13. November 1990 vermitteln. Zusammen mit anderen Mitstreitern der DDR-Opposition gibt die inzwischen verstorbene Mitbegründerin des Neuen Forums in der Mainzer Straße 4 eine Pressekonferenz. Sie fordert den Abzug der Polizei, den Abbau der Barrikaden und Verhandlungen zur Legalisierung der Häuser. Prominente Unterstützer beschließen, als „Paten“ die Nacht zum 14. November in der Mainzer Straße zu verbringen. So groß ist die Angst vor dem Showdown, dass sie sich als menschliche Schutzschilder zur Verfügung stellen.

Der Polizeichef lässt sich nicht beeindrucken. Als die 3.000 Polizisten am Morgen des 14. November mit der Räumung beginnen, wird Bärbel Bohley von einem Wasserwerfer weggespritzt. Ohnmächtig sieht sie zu, wie die Beamten vorrücken, wie ein Hubschrauber den Einsatz abbrechen muss, weil er mit Leuchtspurmunition beschossen wird, wie das SEK auf die Dächer klettert. Danach seilen sich die Beamten an den Fassaden ab und dringen durch die Fenster in die Häuser ein. Später wird Bärbel Bohley sagen: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat.“ Andere sprechen von einem Polizeistaat.

Ironischerweise ist es diese Gewalt, die später friedliche Einigungen zwischen Senat und Besetzern ermöglicht. Statt so etwas noch einmal zu erleben, verhandeln sie lieber Verträge. Man wird pragmatisch. Wie die Grünen in den Folgejahren. Zu Beginn der Koalition müssen sie von Momper noch verpflichtet werden, das staatliche Gewaltmonopol anzuerkennen.

Am Nachmittag des 14. November zieht Schertz Bilanz. 417 Personen wurden festgenommen, darunter auch einige Abgeordnete. Siebzig Polizeibeamte wurden verletzt. Die Zahl verletzter Besetzer hat keiner gezählt.

Walter Momper, zurück aus Moskau, spricht von „blanker Mordlust“. Zum Beweis präsentiert die Polizei einen „Supermolli“, eine mit brennbarer Flüssigkeit gefüllte Gallone auf den Dächern der Mainzer Straße. Später stellt sich heraus, dass sich in der Flasche gegorener Apfelsaft befand – kein Benzin. „Ob das wirklich ein Supermolli war, darüber kann man sich streiten“, sagt mittlerweile auch Schertz.

Am Abend des 14. November 1990 ziehen zehntausend Demonstranten durch die Stadt. Sie verbrennen Wahlplakate der SPD.

Im September 2011 will Renate Künast Regierende Bürgermeisterin von Berlin werden. Schlagzeilen aus der Vergangenheit sollen die grüne Performance nicht stören. Deshalb ist die ehemalige Senatorin Sibylle Volkholz vorsichtig. Auf Momper und Pätzold muss sie aber keine Rücksicht nehmen. „Es war furchtbar. Wir fanden es unglaublich, dass es da vorher keine Absprache gegeben hat, auch nicht im kleinen Kreis.“ Anders als Künast war Volkholz dagegen, das Bündnis mit der SPD aufzukündigen. „Ich hätte eher gesagt, dass wir in einer Neuauflage der Koalition die Bedingungen dafür schaffen müssen, dass so etwas nicht mehr möglich ist.“

Doch Momper nimmt die Kündigung gern entgegen. Er will am rechten Rand Stimmen sammeln, das Ziel heißt absolute Mehrheit. Es wird weit verfehlt. Statt mit der Alternativen Liste der Grünen muss Mompers SPD fortan mit der CDU von Eberhard Diepgen regieren – als Juniorpartner. „Höchststrafe“ nennt das Freke Over heute. Er steht mit Gummistiefeln im Stall und füttert seine Wollschweine. Over ist nun Unternehmer, im brandenburgischen Luhme betreibt er mit seiner Frau ein Kinderferienland. Nach der Räumung kandidierte er 1995 für die PDS als Direktkandidat in Friedrichshain und zog ins Berliner Abgeordnetenhaus ein. „Einmal mit Gysi Pferde stehlen“ war sein neuer Traum – und die letzten Häuser retten, die noch besetzt waren. Das zumindest, sagt er, sei teilweise gelungen. „Ohne die Räumung der Mainzer Straße hätte es nicht so schnell Verträge gegeben.“ Die, die keine bekamen, wurden später geräumt. Es gibt keine besetzten Häuser mehr.

In Luhme, auf Overs Gut, ist die Hauptstadt weit weg. Freunde von damals kommen mit ihren Kindern rausgefahren. Friedrichshain ist vielen von ihnen fremd geworden. In der einstigen Hochburg der Besetzer stehen Hostels des Easyjetset. Partys finden nicht mehr in besetzten Häusern und erkämpften Freiräumen statt, sondern in schicken Lounges und Clubs. Design und Designerdrogen haben Transparente und Marihuana abgelöst. Beck’s mit Geschmack kostet drei Euro, das Berliner Pilsener vor zwanzig Jahren gab es für 30 Pfennig.

Säße Renate Künast heute in der Herbstsonne im kleinen „Kaffee und Brot“ in der Mainzer Straße, sähe sie einen hübsch sanierten Straßenzug. Nicht mehr „Antiquariat Max Hölz“ oder „Tuntentower“ heißen die Läden gegenüber, sondern „The Milkability“, „Karma und Stein“ und „terra architektura“.

Manchmal aber brennen in der Gegend Autos. Auch damit müsste sich eine Regierende Künast befassen. Kürzlich haben die Hauptstadtgrünen ein Mehrparteienpapier dazu verabschiedet: gegen linke Gewalt.

Uwe Rada, 47, ist taz-Redakteur. Sein besetztes Haus lag nur wenige Blocks von der Mainzer entfernt

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