: Der „neue Krieg“ ist alt
Die Anschläge auf die USA sollen eine „Epochenschwelle“ markieren. Doch der heutige Terrorismus hat Vorläufer in den 70ern – und ließ sich damals nur politisch überwinden
Schlägt Quantität in Qualität um? In den letzten Tagen scheint es fast so, als seien unsere Politiker und Kommentatoren zu Hegelianern mutiert. Die Monstrosität der Attentate in Amerika, die Perfektion von Vorbereitung wie Ausführung der Untat, das weltweite Netz der Terroristen – all das hat viele Zeitgenossen zu der Meinung gebracht, dass wir am 12. September in einer qualitativ neuen Wirklichkeit aufgewacht seien.
Am entschiedensten hat in Deutschland Außenminister Joschka Fischer die Idee der Epochenschwelle formuliert. Seine Generation, so Fischer, habe von einem globalen Frieden geträumt, erreichbar durch die gemeinsamen, multilateralen Anstrengungen der Staatenwelt. Jetzt gelte es, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass wir vor einer langen Phase neuer kriegerischer Auseinandersetzungen stehen würden. Dieses Neue zu erkennen mache geradezu die Quintessenz eines notwendigen neuen Denkens aus.
Aber der Begriff vom „neuen Krieg“ ist in Dunkel gehüllt. Mal heißt es, er sei schon im vollen Gange. Fast im gleichen Atemzug wird vor der vorschnellen Verwendung des Wortes gewarnt. Eben noch stehen die militärischen „Schläge“ im Vordergrund, dann wird, von den gleichen Strategen, betont, es handle sich um eine Kombination militärischer, polizeilicher und politischer Mittel. Um einen neuen Krieg von langer Dauer.
Warum dann „Krieg“ und nicht international koordinierte Terrorismusbekämpfung auf der Basis einer UN-Resolution? Der Begriff „neuer Krieg“ wird nicht als ein völkerrechtlich definiertes Instrument verstanden, sondern als Metapher. Definitionen grenzen ein, Metaphern sind mehrdeutig und ausdehnbar. Scheinbar bringt der „neue Krieg“ das monströse Verbrechen ebenso auf seinen Begriff wie die erforderlichen Gegenmaßnahmen. Aber in seiner Vieldeutigkeit und Emotionalität gleicht es sich der Selbstdefinition der Terroristen als heilige Krieger an. Wer so spricht, reiht sich selbst ein in den Feldzug der Guten. Vom Feldzug ist es nicht weit bis zum Kreuzzug. Womit sich der Kreis schließt. Denn die Westler gelten – zumindest in der Terminologie der islamistischen Fundamentalisten – als die neuen Kreuzfahrer.
Wer jetzt so selbstverständlich von einer neuen Form des Krieges spricht, suggeriert, mag er das noch so entschieden dementieren, die Vorherrschaft militärischer Mittel. Darüber hinaus ist in der Idee des Neuen mitgesetzt, dass neue Herausforderungen neuer Maßnahmen bedürfen – auch jenseits des Völkerrechts. Der Krieg wird zum Fetisch, politische Maßnahmen figurieren nur in seiner Logik. Wenn aber der Krieg aufhört, Fortsetzung der Politik zu sein, wird er seinem logischen Extrempunkt zulaufen: der Vernichtung des Gegners. Und wenn der unsichtbar ist? Dann müssen eben andere dran glauben. Die üblichen verdächtigen Staaten – vor allem deren Bevölkerung.
Wenn schon Hegel, dann gilt: Im qualitativ Neuen ist das Alte aufgehoben. Das „Alte“, das ist der Terrorismus, der die 70er-Jahre beherrschte. Auch damals existierten internationale Terrornetze, waren die Täter – oft Intellektuelle – vom Geist des Selbstopfers beherrscht, standen die „imperialistischen Metropolen“, die „Köpfe des Ungeheuers“ als primäre Angriffsziele fest.
Freilich existierte ein gravierender Unterschied zwischen dem radikal linken und dem gleichzeitig grassierenden rechten Terrorismus. Die Linke verschrieb sich der aufstachelnden Wirkung des Terrors. Indem Leute umgebracht wurden, die man als Symbolfiguren des Herrschaftssystems ansah und die man allgemein verhasst wähnte, glaubte man, die Massen aus der Ohnmacht aufrütteln zu können. Insofern fußte die radikale, linke Terrorszene auf den Traditionen des bewaffneten Anarchismus. Sie sah die „Massen“, auch des eigenen Landes, stets als das eigentliche, geschichtsmächtige Subjekt an.
Im Gegensatz dazu zeichnete sich der rechte Terror, wie er vor allem in Italien praktiziert wurde, dadurch aus, dass er wahllos Furcht und Schrecken verbreitete. Durch eine „Politik der Spannung“ sollte die Bereitschaft herbeigebombt werden, sich einer diktatorischen Staatsführung als Retter anzuvertrauen.
Gegenüber solchen weit ausholenden Phantasmen hatten die Flugzeugentführungen palästinensisch/arabischer Gruppierungen oft viel praktischere, nahe liegende Ziele, hauptsächlich die Freipressung gefangener Mitkämpfer. Trotz der säkularen Gesinnung dieser Gruppen und ihres eingeschränkten Angriffsziels waren damals allerdings auch schon Motive präsent, die das heutige Handeln von Attentätern islamisch-fundamentalistischer Ausrichtung bestimmen. Vor allem die Angst vor dem Verlust der je eigenen Identität angesichts der vordringenden „westlichen“ Werte: Materialismus und Individualismus. Dieser Sichtweise folgend waren die Regime der arabischen Staaten bereits weitgehend durch den „Westen“ korrumpiert. Sie wurden unter das Verdikt „arabische Reaktion“ neben Imperialismus und Zionismus als dritter Hauptfeind subsumiert.
Die damalige Terrorwelle verebbte. Im Westen, weil die Unterstützung „der Massen“ ausblieb und weil die Regierungen, voran die der USA, neben polizeilichen und geheimdienstlichen Mitteln auch politische Lösungswege versuchten. Der Rechtsterrorismus verlor seinen Rückhalt im Machtapparat, seine Angststrategie scheiterte an der demokratischen Gegenmobilisierung. Bei der isolierten terroristischen Linken aber setzte sich die Einsicht durch, dass der „politische Raum“ doch groß genug war, um wirksam für die angestrebten Ziele zu kämpfen. Auch im palästinensisch/arabischen Lager erfolgte ein Prozess politischer Differenzierung, und die radikalen Gruppen sahen am fernen Horizont die Möglichkeit einer politischen Lösung.
Es bedarf keines besonderen Scharfsinns, um festzuhalten, dass der heutige islamisch-fundamentalistische Terrorismus Resultat des Scheiterns einer Politik ist, die im Nahen Osten eher Konflikte konserviert als sie löst. Jerusalem ist nicht das erste Angriffsziel der islamistischen Terroristen. Dennoch spricht viel dafür, dass die emotionale Kraftquelle heutiger islamistischer Fanatiker versiegt wäre, wenn der durch das Oslo-Abkommen beschrittene Weg konsequent fortgesetzt worden wäre.
Während in den meisten europäischen Staaten und den USA nie bestritten wurde, dass politische Lösungen und die mit ihnen verbundenen Kompromisse hauptsächlich zum Niedergang des Terrorismus der 70er-Jahre beitrugen, verhält es sich in Deutschland anders. Hier gilt die Selbstauflösung der Linksterroristen als Triumph der Sicherheitsapparate. Wenn jetzt die Regierung von einem Dreiklag militärischer, polizeilicher und intellektuell-moralischer Anstrengungen redet, so nicht im Namen des Primats politischer Konfliktlösungen, sondern im Rahmen des „Feldzugs“ der zivilisierten Welt. Unter dem Banner des „neuen Kriegs“ geht es eben auch in Deutschland nicht um Zivilität, sondern um Militarisierung. CHRISTIAN SEMLER
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