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Gute Gründe zur Vasallentreue

Die Auswanderung nach Israel, von der wir träumen, ist immer noch unmöglich. Die verfluchte deutsche Erde hat sich in ein zeitweiliges Heim für die jüdischen Massen verwandelt. Ein Mensch kann ohne Beschäftigung nicht leben, was soll man tun? In deutschen Fabriken arbeiten? Deutsche Häuser aufbauen? In deutscher Erde säen? Kein Jude wollte und will das, weil es ein Verbrechen wäre, die Wirtschaft jenes Volkes mit aufzubauen, dessen bewaffnete Söhne mehr als ein Drittel des jüdischen Volkes gemordet haben. Es wäre völlig absurd, wenn Juden mit Hand anlegen würden beim Wiederaufbau Deutschlands.“

Der Artikel im jiddischsprachigen DP-Express, einer Zeitung der so genannten Displaced Persons, der rund 250.000 heimatlosen Juden, die nach dem Krieg in DP-Lagern auf deutschem Boden lebten, gibt die allgemeine Stimmung aus dem Jahr 1946 prägnant wieder. Juden wollten partout mit Deutschland nichts zu tun haben. Fast allen DPs war innerhalb einiger Jahre die Auswanderung in die USA oder nach Israel geglückt. Zurück blieb ein kleiner Haufen von rund 12.000 Menschen. Viele von ihnen wurden von den jüdischen Hilfsorganisationen als „Hardcore“-Fälle beschrieben, als Menschen, die aufgrund eines gravierenden physischen oder psychischen Krankheitsbildes keine Kraft, keine Möglichkeit hatten weiterzuziehen.

Mit der Schließung des letzten DP-Lagers „Föhrenwald“ bei Wolfratshausen in Bayern Ende 1956 waren die letzten Juden aus ihrem „sicheren Hafen“ mitten hinein in die deutsche Gesellschaft geworfen worden. Sie mussten in die Städte ziehen und allmählich ein normales Leben beginnen. Zu diesem Nukleus der heutigen jüdischen Gemeinden kamen im Laufe der Fünfzigerjahre weitere 18.000 Menschen dazu. Es gab natürlich deutsche Juden, für die Deutschland, seine Sprache und Kultur schlicht Heimat geblieben ist. Für alle anderen war es ein fremdes Land, das „Land der Mörder“, in das viele von den 18.000 notgedrungen zurückgekehrt waren, weil sie sich in Israel nicht akklimatisieren konnten oder weil sie in den USA gescheitert waren. Es gab allerdings auch Juden, die aus wirtschaftlichen Gründen in die Bundesrepublik gekommen waren – die beruflichen Möglichkeiten, in einem Land, das völlig darniederlag und dessen Infrastruktur nicht mehr funktionierte, waren unvergleichlich größer als anderswo.

Ihnen allen gemein blieb der Traum von der Auswanderung. Deutschland konnte, durfte nicht als neue Heimat angesehen werden. Man lebte doch Seite an Seite, Wand an Wand mit den Mördern des eigenen Volkes, mit den KZ-Wächtern, den SS-Schergen, den Wehrmachtssoldaten, den Mitläufern, den Wegsehern, den Profiteuren, den Arisierern, den Kuschern. Man lebte auf „gepackten Koffern“, wie die Metapher lautete, und man glaubte bis in die Achtzigerjahre daran, dass man eines Tages, irgendwann, doch noch auswandern würde.

In dieses gesellschaftliche Vakuum hinein, das sich vor allem in den ersten Nachkriegsjahrzehnten in einer starken Abschottung von der nichtjüdischen Außenwelt darstellte, schaffte man sich eine andere Heimat, eine Art jüdisches Utopia, an das man fest glauben wollte und musste: Israel.

Der jüdische Staat war mit den in Deutschland verbliebenen Juden nicht gerade zimperlich umgegangen. Die Jewish Agency, die zionistische Organisation, die bis heute verantwortlich ist für die Einwanderung nach Israel, verkündete 1948 lauthals und aggressiv, dass alle Juden in Deutschland innerhalb von sechs Wochen nach Israel auswandern müssten. Wer danach noch in Deutschland sei, würde von Israel nicht mehr als Jude anerkannt und hätte seine Einwanderungsmöglichkeit auf ewig verwirkt. Zwar wurde diese Drohung niemals realisiert, doch der Schock, die Schmach und vor allem die Scham, in Deutschland geblieben zu sein, saßen tief. Auf alle Zeiten.

Nicht nur Israel sah die in Deutschland verbliebenen Juden als Abschaum an, die ganze jüdische Welt dachte so. Lange Jahre akzeptierte der Jüdische Weltkongress keine deutsche Delegation in seinen Reihen. Und jedesmal, wenn Juden ins Ausland reisten und dort Verwandte oder jüdische Freunde trafen, lautete die erste Frage: Wie kannst du nur in Deutschland leben? Eine Frage, die übrigens immer noch gestellt wird, in den letzten Wochen sogar immer häufiger …

Zur Scham kam die Unfähigkeit dazu, sich als „deutsch“ zu verstehen. Keiner der Überlebenden und zunächst nur wenige der nächsten Generation konnten sich als „Deutsche“ oder zumindest als „deutsche Staatsbürger“ sehen. Dieses Selbstverständnis entwickelte sich erst in den späten Achtziger-, frühen Neunzigerjahren. Nicht zu vergessen: Die deutsche Gesellschaft machte ja auch keinen Hehl daraus, dass Juden als Fremde gesehen wurden, dass sie nicht dazugehörten. Das Ius Sanguinis, das in Deutschland rund 50 Jahre die Staatsbürgerschaft entschied, machte es „Fremden“ nicht möglich, sich als Deutsche zu fühlen, selbst wenn sie eingebürgert waren.

All dies führte zu einer hemmungslosen Identifikation mit Israel. Anders als französische, englische oder amerikanische Juden, die sich als Teil ihrer jeweiligen Nation begreifen und zu Israel ein eher emotionales oder religiöses Verhältnis pflegen, ist Israel für die Juden in Deutschland die Ersatzheimat geworden, nach der man sich sehnte, aber wohin man es nie schaffte, ja, nie schaffen durfte.

Denn dann wäre ein ambivalenter, in der Schwebe gehaltener Lebensentwurf, der das Gefühl einer gewissen Heimatlosigkeit aufrechterhält und durchaus auch etwas für sich haben kann, verloren, dann hätte man ein Bekenntnis ablegen müssen, das Konsequenzen verlangte, die vor allem in Israel hart, unbequem und obendrein gefährlich sind. Lieber also blieb man auf Distanz, unterstützte den jüdischen Staat aber mit allen Kräften und verharrte, selbst als in anderen Ländern jüdische Organisationen längst ein kritisches Verhältnis zu Israels Politik hatten, immer noch in einer Art Vasallentreue, die man nicht aufzugeben wagte, da Israel zugleich eine Art Rückversicherung für die Sicherheit der eigenen Existenz im „Lande der Mörder“ war.

Die Ängste, die demokratisch gewordenen Deutschen könnten sich schlagartig doch wieder als blutrünstige Bestien entpuppen, waren geblieben. Die israelische Armee schien der Garantieschein für die eigene Unversehrtheit in Deutschland zu sein.

Natürlich hat sich im Laufe der Jahre dieses Gefühl der Heimatlosigkeit und Bedrohung längst verflüchtigt. Das Vertrauen in die deutsche Demokratie wuchs allmählich, vor allem aber entwickelten sich die ganz normalen Bindungen eines gewachsenen Lebens. Beruflich hatte man sich etabliert, Freundschaften waren entstanden, die Kinder waren bereits in Deutschland geboren. Es gibt Familien, die auch heute noch dafür sorgen, dass ihre Kinder zum Studium ins Ausland gehen und Deutschland für immer verlassen. Der Grund dafür ist jedoch weniger die deutsche Vergangenheit als vielmehr der Mangel an potenziellen jüdischen Ehepartnern. Die großen jüdischen Zentren, Paris, London, New York, Tel Aviv, werden daher auch bevorzugte Studienorte.

Und dort ist jüdisches Leben auch im besten Sinn „normal“, was in Deutschland wohl auf Jahrzehnte noch ein ferner Wunschtraum bleiben wird. Israel ist schließlich auch für jene rund 80.000 Juden aus den GUS-Staaten keine realistische, stets greifbare Alternative mehr – denn sie haben sich ja sehr bewusst und überlegt für Deutschland als neue Heimat entschieden.

Geblieben ist bei den deutschen Juden auch nach Jahrzehnten eine gewisse Skepsis gegenüber der deutschen Öffentlichkeit, die in der Diskussion um den Nahostkonflikt nicht erst seit der zweiten Intifada, sondern eigentlich schon seit dem Sechstagekrieg 1967 weniger die Problematik vor Ort diskutiert als vielmehr die eigene Befindlichkeit. Kritik an Israel, Unterstützung für die Palästinenser – beides ist oft geprägt von dem Bedürfnis, die eigene Geschichte zu relativieren, die Taten der Israelis mit denen der Nazis gleichzusetzen.

Dass der Antizionismus häufig von antisemitischen Klischees geprägt ist und dementsprechende Aussagen über Juden evoziert, kann das Vertrauen allerdings schnell wieder erschüttern, wie Äußerungen von deutschen Politikern, die nach wie vor Juden vorschlagen, sie mögen doch in ihre „Heimat“ gehen, also nach Israel, jenes Land, das nun heute für die meisten eben keine Heimat mehr ist. Solche Vorfälle gibt es immer wieder, wie etwa in Rostock, als bei einem Besuch von Ignatz Bubis in der Stadt der ersten Brandanschläge auf Asylbewerberheime ein CDU-Stadtrat ihn fragte, warum er, Bubis, nicht in seine „Heimat“ Israel ginge.

Die scheinbar blinde Loyalität der jüdischen Organisationen in Deutschland gegenüber Israel (hinter verschlossenen Türen ist Kritik an Scharon und seiner Politik durchaus zu hören) rührt heute also daher, dass man Angst hat, Deutschland könne kritische jüdische Worte für eigene Zwecke missbrauchen, die Vorurteile und Vorbehalte gegenüber Israel könnten noch geschürt werden, nach dem Motto: „Seht ihr, sogar die Juden sagen, dass …“

Dies zeigt, wie sehr die offizielle Haltung der jüdischen Funktionäre vom innerdeutschen politischen Klima abhängig ist. Erst wenn dieses Land seinen Antisemitismus überwunden hat, erst wenn es nicht mehr versucht, die eigenen Verbrechen mittels der Taten anderer zu verharmlosen, erst wenn dieses Land zu seinen jüdischen Bürgern loyal und uneingeschränkt stehen wird, erst dann werden Zentralrat und andere offizielle Kritik an Israel, wenn notwendig, äußern.

Sollte dies jemals der Fall sein, dann darf Deutschland mehr als stolz auf sich sein. Doch bei der aktuellen Debatte in Deutschland muss man kaum „befürchten“, es wäre bald so weit.

Wer vorgestern „Sabine Christiansen“ gesehen hat, konnte beobachten, wie Guido Westerwelle bemüht war, das Opfer zum Täter zu machen und Äußerungen seines Vizes zu verharmlosen oder gar zu leugnen.

Das neue Mantra der FDP, dieses „auch als Deutscher muss ich Israel kritisieren dürfen“, ist die Inszenierung eines „Tabubruchs“. Wen kümmert es schon, dass auch scharfe Kritik an Israel in der deutschen Politik und in den hiesigen Medien nie verboten oder gar tabuisiert waren. Kritik an Israel ist nicht neu, sie ist seit langem gang und gäbe.

Nein, Westerwelle und seine Verbündeten benutzen dieses Argument, um von der eigentlichen Problematik abzulenken und sich gleichzeitig als besonders progressiv darzustellen. Dabei geht es lediglich um die Gleichsetzung der israelischen Armee mit Nazimethoden, wie Jamal Karsli dies getan hat. Diese Gleichsetzung ist nicht nur faktisch falsch, sie gehört vor allem zum Thesenrepertoire des neuen Antisemitismus, der sich gerne als „Antizionismus“ tarnt und gleichzeitig eine Entschuldung der Deutschen versucht.

Dies ebenso wie die Behauptung, Juden seien quasi selbst schuld an ihrem Unglück (und damit – logisch zu Ende gedacht – also selbst verantwortlich dafür, dass sie in Auschwitz ermordet wurden), sind die Ungeheuerlichkeiten, die jetzt in der Mitte der deutschen demokratischen Parteienlandschaft etabliert werden sollen.

Juden werden die aktuelle Debatte aufmerksam verfolgen. Der Ausgang dieses Streits wird wesentlich mitbestimmen, ob die längst ausgepackten Koffer wieder hervorgeholt werden müssen, ob es schlussendlich nicht doch ein Fehler war, wieder in Deutschland zu leben. Sollte dieser Augenblick kommen, dann aber, spätestens dann wird auch jeder anständige Demokrat in diesem Land kein angenehmes Leben mehr führen können.

Im Augenblick will das noch niemand so richtig einsehen, am allerwenigsten die Intellektuellen, die sich sonst gerne und häufig zu den USA, dem Terrorkrieg, zu Irak oder natürlich auch zu Israel äußern. Jetzt, wo es um die Solidarität mit den Juden in Deutschland geht, schweigen sie. Auch dies ist für die jüdische Gemeinschaft gewiss kein Argument, Deutschland und seiner Gesellschaft allzu viel Vertrauen zu schenken. So weit ist es im seit zwölf Jahren wiedervereinten Deutschland schon gekommen.

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