Antisemitismus in Tunesien: Juden als Sündenböcke
Präsident Saied soll auch Juden für die sozialen Unruhen in seinem Land verantwortlich gemacht haben. Jetzt ist er um Schadensbegrenzung bemüht.
In einem vom Präsidentenbüro veröffentlichen Video warnt Kais Saied bei dem Gespräch mit Jugendlichen in dem Hauptstadt-Viertel Ariana vor einer Vereinnahmung der Demonstranten durch politische Parteien. Doch auch Juden seien für die Unruhen verantwortlich, so Said weiter. Dass dieser Satz gefallen sei, behauptet zumindest Haim Bitan, der Oberrabbiner der jüdischen Minderheit des 11,5 Millionen Einwohner Landes und forderte eine Entschuldigung.
Der Verband der europäischen Rabbiner rief die tunesische Regierung auf die „falschen Anschuldigungen sofort zurück zu nehmen und die Sicherheit der jüdischen Gemeinde zu garantieren.“
Auf Djerba und in Tunis leben noch 1500 von ehemals 105.000 tunesischen Juden, die ab 1967 nach dem 6- Tageskrieg nach Israel zogen oder durch massiven Druck zur Auswanderung gedrängt wurden.
Mund-Nasenschutz ist schuld
Nachdem auch tunesische Medien über den Eklat zwischen Saied und der jüdischen Gemeinde berichtet hatten, rief Said am Mittwoch Haim Bitan persönlich an. Auch das Präsidialbüro versuchte die Wogen zu glätten und widersprach in einer schriftlichen Stellungnahme dem Vorwurf, dass sich der Präsident antisemitisch geäußert habe. Er sei durch das Tragen einer Anti-Coronamaske falsch verstanden worden, so die Erklärung.
Die Faktencheck-Plattform Falso erklärte nach einer Analyse des dreiminütigen Videos, Saied habe tatsächlich mit „Hal Jahun“ die rhetorische Frage „ist das akzeptabel“ gestellt. Tunesische Journalisten die sich den Mitschnitt anhörten, glauben den Satz „Al Jahud“- -Juden, die stehlen“, herausgehört zu haben. Rücksichtsloses Verhalten werde in Tunesien vor allem in der älteren Generation als „jüdisch“ bezeichnet, kritisiert ein Journalist des Radio Senders Mosaique FM.
Bereits vor seiner Wahl hatte Kais Saied mehrfach mit antiisraelischen Äußerungen für Aufsehen gesorgt. Verbindungen zu Israel seien als Hochverrat zu werten. Nur Juden ohne Beziehungen zu Zionisten und ohne israelische Pässe sollten künftig Synagogen besuchen können, so Saied im Wahlkampf.
Jedes Jahr pilgern hunderte Israelis tunesischer Herkunft nach Djerba, um die Al Ghriba Synagoge zu besuchen. Bei einem Besuch der jüdischen Gemeinde auf der Ferieninsel bezeichnete der laut Umfragen immer noch beliebte Said tunesische Juden als gleichwertige Mitbürger.
Keine große Rolle
Für die tunesische Öffentlichkeit spielte der Eklat derweil keine große Rolle. Auf sozialen Medien klagen viele über die Ratlosigkeit der Politiker angesichts der sozialen Unruhen. Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums behauptete am Mittwoch, dass sich Terroristen unter die „Randalier“ gemischtt hätten.
Mehr als 600 junge Männer hat die Polizei bisher nach eigenen Angaben fest, die Menschenrechtsorganisation FTDES spricht von weit über 1000 Inhaftierten. Viele der sehr jungen Demonstranten gehen wegen der akuten sozialen Krise auf die Straßen, die sich durch den Covid-bedingten totalen Lockdown noch einmal verschärft hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis