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Antisemitismus in DeutschlandAntisemiten sind immer die Anderen

„Nie wieder“ ist schnell gesagt. Doch wer Antisemitismus in seinen heutigen Ausprägungen benennt, provoziert ein altes Muster aus Abwehr.

Gedenken an die Pogromnacht, Hamburg am 9. November 2021 Foto: Marcus Brandt/dpa

A ls diese Woche der Novemberpogrome gedacht wurde, daran also, wie vor 83 Jahren Synagogen brannten, jüdische Geschäfte geplündert und zerstört, Jüdinnen und Juden getötet wurden und ihr Transport in Konzentrationslager begann, hieß es kollektiv: Nie wieder.

Die Erinnerung an die Shoah ist in Deutschland vergleichsweise einfach. Gedenktage, Stolpersteine putzen, andächtige Reden. Wer das Gedenken selbst gestaltet, kann sich schließlich passend inszenieren: Man schämt sich für das Vergangene und kann deshalb niemals wieder Antisemit sein. Sobald man aber diesen ritualisierten Rahmen verlässt, es um lebende Jüdinnen und Juden geht, um den Antisemitismus in seinen heutigen Ausprägungen, er aus anderen Minderheitengruppen heraus artikuliert wird, wenn die Codes des Antisemitismus nicht auf den ersten Blick erkennbar sind – dann wird es schwieriger.

Über politische Lager hinweg ist Antisemitismus attraktiv. Ein gemeinsames Feindbild hat sogar etwas verbindendes. Bei Rechtsextremen und Islamisten finden sich große Überschneidungen. Aber auch in weniger radikalen Strukturen finden sich Antisemiten: Unter Linken, in der Mitte der Gesellschaft, bei stinknormalen Menschen.

In meiner Twitter-Timeline wurden die obligatorischen „Nie wieder“-Posts nach einem Tag durch Videos abgelöst, die zeigten, wie propalästinensische De­mons­tran­t:in­nen am 9. November versuchten, die israelische Botschafterin nach einer Veranstaltung an einer Londoner Universität zu attackieren. „Shame on you“ und „Free Palastine“ riefen sie. Die Stimmung war aggressiv. Auf einem Instagramprofil rief jemand dazu auf, „ihre Autofenster einzuschlagen“ und „das Gebäude zu stürmen“. Die Diplomatin musste evakuiert werden. Aus der linken Ecke las ich unzählige Relativierungen, manche befürworteten gar die Eskalation, das sei schließlich legitime „Israelkritik“.

Es ist immer schwer, über Antisemitismus zu sprechen, besonders aber dann, wenn er sich mehr implizit als explizit äußert. Benennt man das, provoziert man ein altes Muster aus Verleugnung und Abwehr.

Nachdem der WDR die Journalistin und Ärztin Nemi El-Hassan zunächst suspendiert und dann die Zusammenarbeit mit ihr beendet hatte, weil Recherchen ihre Teilnahme am antisemitischen Al-Quds-Marsch 2014 sowie das Liken und Teilen problematischer Posts enthüllt hatten, äußerte sich El-Hassan in einem Gastbeitrag in der Berliner Zeitung.

El-Hassan argumentiert, wie auch zahlreiche ihrer Unterstützer:innen, die Vorwürfe gegen sie seien nichts weiter als eine rassistische Kampagne. Das ist eine altbekannte Trumpfkarte, die gerne gespielt wird, um Antisemitismusvorwürfe zu entkräften. Qua Geburt werde El-Hassan im Land der Täter zur Antisemitin gemacht, schreibt sie.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Es stimmt: El-Hassan wurde von Rassisten und Rechten attackiert. Das muss vehement verurteilt werden. Dass aber auch Liberale, Linke oder Konservative sie kritisierten, und zwar nicht für das, was sie ist, sondern für das, was sie getan hat, blendet El-Hassan bewusst aus. Immer Opfer, nie aber Täter. So einfach kann man es sich natürlich machen.

Erschreckend ist auch, wie El-Hassan ihre Position rechtfertigt: nämlich mit ihren palästinensischen Wurzeln. Dabei sollte klar sein, dass Sozialisation kein Persilschein ist. Der familiäre Hintergrund darf nicht als Ausrede fungieren und schon gar nicht antisemitische Haltungen entschuldigen.

Antisemiten sind immer die anderen. Das macht es schwer, über Antisemitismus zu sprechen. Die eigene Position und Vorurteile, vererbte Ansichten, das eigene Milieu, sich selbst also kritisch zu reflektieren, ist hingegen mühselig. Ein „Nie wieder“ geht da einfacher über die Lippen.

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Erica Zingher
Autorin und Kolumnistin
Beschäftigt sich mit Antisemitismus, jüdischem Leben, postsowjetischer Migration sowie Osteuropa und Israel. Kolumnistin der "Grauzone" bei tazzwei. Beobachtet antidemokratische Bewegungen beim Verein democ. Axel-Springer-Preis für jungen Journalismus 2021, Kategorie Silber. Freie Podcasterin und Moderatorin.
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13 Kommentare

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  • Dass es gute Gründe gibt, gegen Tzipi Hotovelis Teilnahme an einer Diskussion der London School of Economics zu protestieren sollte allerdings auch nicht verschwiegen werden, denn die israelische Botschafterin ist eine Rassistin die die Geschichte leugnet und für Hassrede bekannt ist. So bezeichnet sie die Vertreibung der einheimischen palästinensischen Bevölkerung 1947/48, während der Staatsgründung Israels als „arabische Lüge“, sie war war zuvor Siedlungsministerin, die sich um die Belange der völkerrechtswidrigen israelischen Siedlungen in der Westbank kümmerte und die Besatzung leugnet, die sie als Mythos bezeichnet und sich gegen die Gründung eines palästinensischen Staates ausspricht. Gegen ihre Ernennung zur israelischen Botschafterin haben im Juni 2020 britische Juden eine Petition eingereicht (1).



    Die Student:innen, die die Demonstration organisiert haben, haben ein Statement veröffentlicht und erklärt, dass sie die Botschafterin nicht bedroht hätten und sie nicht aus der Universität fliehen hätte müssen. Hotovely sei mit ihrem Blumenstrauß aus dem Gebäude gegangen und dann eiligst von Sicherheitspersonal davon gefahren worden. Man findet das Statement auf Twitter, (2) ebenso wie ein Video, dass die Szene zeigt(3).

    (1) english.alaraby.co...-new-uk-ambassador



    (2) twitter.com/LSEfor...458407137391042564



    (3) www.middleeasteye....sts-tzipi-hotovely

    • 4G
      46057 (Profil gelöscht)
      @Martha:

      Ich muss jetzt kurz wegen der "Vertreibung der einheimischen palästinensischen Bevölkerung 1947/48, während der Staatsgründung Israels" nachfragen. Sie beziehen sich sicher auf die Situation im und nach dem ersten arabisch-israelische Krieg, in dem fünf arabische Staaten Israel angriffen, der sich im Mandatsgebiet "Palästina" abspielte und im Zuge dessen rund 750.000 Arabaer aus Palästina flohen oder vertrieben wurden und durch etwa die gleiche Menge Juden ersetzt wurden, die gleichzeitig aus den umliegenden arabischen Staaten fliehen mussten oder vertrieben wurden?

  • Nimmt alle Stichworte auf, bleibt mir aber ein bisschen zu sehr an der Oberfläche. Frau El- Hassan beruft sich auf ihre palästinensische Identität und wird allein schon dafür verbläut, als rückständig, identitär, antisemitisch geschmäht, ausgerechnet von denen, die alle Tage ihre jüdische Identität betonen und ihre Solidarität u Unterstützung f. die israelische Politik medial ausstellen (aber dann bitte nicht persönlich auf die Probleme, die andere Leute mit dieser Politik haben angesprochen werden wollen, wie antisemitisch, schließlich sind sie doch keine Israelis, sondern normale Deutsche, die max. im Urlaub da waren) Diese Leute raten ihr dann, sich doch gefälligst hier voll zu assimilieren, ihre Identität abzulegen (sie wolle doch nicht wie diese Nazis sein, die nach dem Krieg ewig ihrem Pommern u Schlesien nachtrauern), besser solle sie dem Konflikt in ISR/PL gleichmütig zuzuschauen, da sie doch schließlich hier geboren wurde. Sie könne auch in den Libanon gehen, sagen sie, so deutsch, nie verlegen um gute Ratschläge, da sucht man händeringend Ärzte... Und wenn man gar keine "Wurzeln" da hat sollte man sich auch gefälligst gleich ganz raushalten. Nebenbei, von welchen "Liberalen" reden wir, die El- Hassan mobben? Sind das die gleichen, die auch gern bei Welt.de, Menawatch etc publizieren oder bei der Achse des Guten, Tichy usw gleich neben den Kämpfern für die Freiheit gegen die Merkel- u Coronadiktatur schreiben. Oder sind das jene "Liberale", die festlegen wollen welche anderen Juden, außer ihnen, sich sonst noch als Juden definieren dürfen?

    • @ingrid werner:

      "wird allein schon dafür verbläut, als rückständig, identitär, antisemitisch geschmäht"

      Das stimmt nicht.

  • Einfach mal zu der besagten israelischen Botschafterin, Tzipi Hotovely, informieren. Dann kommt man auch ganz schnell darauf, warum Leute gegen sie protestieren.

  • Erinnert sich noch jemand an Jürgen Elsässer und andere Zeloten gegen den Antisemitismus. Heute sind diese Leute alle im rechten Lager.

    Aufwiegelung und Aufmerksamkeit und Hatz. Antisemitismus ist der Satanismus für links.

    El-Hassan hat, das hat ihr Artikel klar gemacht, ein Recht auf andere Maßstäbe.

  • 4G
    45408 (Profil gelöscht)

    Vielleicht sollte man noch ergänzen, dass das ZDF kein Problem mit Frau Nemi El-Hassan hat. Soviel dazu.



    www.sueddeutsche.d...l-hassan-1.5457599

  • 0G
    05989 (Profil gelöscht)

    Dieser Absatz scheint mir ganz entscheidend für die Probleme in der Bewertung von Antisemitismus zu sein:

    "Über politische Lager hinweg ist Antisemitismus attraktiv. Ein gemeinsames Feindbild hat sogar etwas verbindendes. Bei Rechtsextremen und Islamisten finden sich große Überschneidungen."

    Der europäische Antisemitismus ist historisch, rassistisch und von stumpfen Stereotypen und Projektionen geprägt.

    Der islamische oder arabische Antisemitismus hat seine Wurzeln in einem Konflikt, der von den "islamischen Antisemiten" als existenzielle Bedrohung gesehen wird - die sie stets war.

    Die Gleichsetzung von Ungleichem zerstört jede Diskussion. Deswegen ist auch dieser Artikel wertlos.

    Es ist kein Antisemitismus, wenn ich fordere, dass sich Israel nicht aufführt wie ein pubertäres @rschloch - und dazu gehört nun mal ein ehrlicher Umgang mit den Palästinensern, der ihnen seit Jahrzehnten verwehrt wird.

    Und in meinen Augen hat El-Hassan nichts anderes Ausdrücken wollen.

    Das Problem in dem speziellen Fall ist, dass der WDR diese Diskussion nicht führen möchte, weil sich da so merkwürdige Deutungsmehrheiten gebildet haben. Und der WDR hätte sie führen können und müssen. Stattdessen hat er das Symptom beseitigt. Nicht gut...

    • @05989 (Profil gelöscht):

      Vor Gründung Israels gab es genügend islamischen oder arabischen Antisemitismus.

  • Die Autorin benennt in ihrer Argumentation die Schlüsselfrage nicht: wann darf die Kritik an der völkerrechtswidrigen Siedlungsspolitik Israels in den besetzten Gebieten als Antisemitismus bezeichnet werden und wann nicht? Rassistische antisemitische Einstellungen deutscher Nazis vereinfachend gleich zu setzen mit der politischen Feindschaft arabischer Länder mit Israel, ist verwegen und geht an einer objektiven Analyse des europäischen Antisemitismus vorbei.

  • Wow, super Artikel. Und zwischendurch haut Ihr einfach mal so zutreffende und gute Sachen raus, die hier bestimmt vielen Lesern und Kommentatoren nicht schmecken dürfte. Für dieses "Finger-in-die-Wunde-legen" Danke.

  • Vielen Dank für diesen Text.

    Die Bataillone unter der Flagge der "Antisemitismuskeule" werden sich sicher bald sammeln.

    • @Jim Hawkins:

      Ich schließe mich an, ein wirklich sehr guter Text von Frau Zingher.