Essay Novemberpogrome von 1938: Kein deutsches Schicksalsdatum

Die Juden sollten nicht länger als Statisten im deutschen Gedächtnistheater dienen. Sie brauchen ihre eigenen Rituale.

Illustration von Katja Gendikova zu Gedenkkultur an die Novemberpogrome von 1938

„Juden tauchen an beiden Tagen nur als Opfer der Deutschen auf“ Foto: Katja Gendikova

Achtzig Jahre sind seit den Novemberpogromen vergangen, und die Erinnerung an den Terror hat mittlerweile ihre eigene Geschichte. Nach Jahren des relativen Beschweigens in Deutschland brach im November 1988 die Erinnerung an die sogenannte Reichskristallnacht mit voller Wucht los und besetzt seitdem die große Öffentlichkeit. Vergessen wird dabei, dass den Juden in Deutschland wie auch andernorts von Beginn an die Pogrome durchaus präsent waren und in privaten Kreisen wie auch in vielen Synagogen über viele Jahre hinweg der Novemberterror ein Thema war.

Ausgelöst wurde diese Wende in der deutschen kollektiven Erinnerung vor allem auch durch einen von außen kommenden Schock – die vierteilige Fernsehserie „Holocaust“, basierend auf dem Roman des US-Schriftstellers Gerald Green, die bereits neun Jahre zuvor in Deutschland ausgestrahlt worden war. Damals fanden sich nach den Ausstrahlungen vielerorts Menschen, die das Bedürfnis hatten, sich mit anderen, oft ihnen unbekannten, zu treffen und auszusprechen.

Zum runden Jahrestag 1988 dann wurde dieses Miteinander-Erinnern und -Reden möglich. Auf dem Kurfürstendamm in Berlin brannten unzählige Kerzen, und auf Initiative der Berliner Geschichtswerkstatt wurden die damals arisierten Gebäude angestrahlt und wurde die Geschichte ihrer dort zur Nazizeit lebenden Juden auf großen Tafeln dargestellt. Gitarrenmusik war zu hören, und verschiedentlich blieben junge Leute mit Schlafsäcken über Nacht.

Mehr als 10.000 Veranstaltungen thematisierten in Deutschland den Terror in Hunderten Städten und Gemeinden. Vorträge, Radio- und Fernsehsendungen, Mahnwachen und nicht zuletzt Programme in Kirchen und Gemeinden fanden statt. Es war ein wildes, spontanes, zivilgesellschaftliches Gedenken, noch ohne disziplinierte Erzählung. Am deutlichsten wird das daran ersichtlich, dass die damalige persönlich gehaltene, redliche Ansprache des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger 1988 zu einem Eklat führte und viele Abgeordnete den Saal verließen. Sie hatten sich an der Täterperspektive gestoßen, aus der heraus Jenninger sprach.

Der Terror begann am nächsten Morgen

Mittlerweile verläuft das deutsche, von nichtjüdischen Deutschen initiierte Gedenken an die Novemberpogrome jedoch in strukturierten Bahnen. Weiterhin mit vielerlei Gedenkritualen, ­Celans „Todesfuge“, Anne Frank, Prozessionen mit Kerzen zur Synagoge, Zeitzeugenvorträgen und Gemeindefeiern. Das etablierte Narrativ vereinnahmt die Novemberpogrome für die deutsche Geschichte, und deklariert den 9. November als „deutsches Schicksalsdatum“: die Abdankung ­Kaiser Wilhelms am 9. November 1918 und die Ausrufung der Republik; Hitlers Marsch auf die Feldherrnhalle in München am 9. November 1923. Und dann eben die Novemberpogrome 1938 und zuletzt der Fall der Mauer am 9. November 1989.

Eine wichtige Tatsache jedoch wird weiterhin hartnäckig ignoriert: Der 9. November 1938 war ein ruhiger Tag, der Terror begann erst am frühen Morgen des 10. November und erreichte am helllichten Tag mit den Plünderungen und Verhaftungen seinen Höhepunkt. So wird dann dieser „jüdisch“ besetzte Raum geschaffen, und zum deutschen Schicksalsdatum deklariert. Es war zuerst auch kein deutsches, sondern ein jüdisches Schicksalsdatum.

Im Übrigen war der 9./10. November ohnehin aus Sicht der Politik kein ­günstiges Datum, denn die Initiativen zur Erinnerung an den antisemitischen Terror beinhalteten ein potenziell explosives Gedenken. Diese Initiativen kamen aus der Zivilgesellschaft, von unten, und waren überdies zu nahe am Eingemachten: an den eigenen Großvätern und -müttern, die passiv vor brennenden Synagogen und zerstörten Wohnhäusern gestanden oder sich als Mittäter aktiv beteiligt hatten.

Protest gegen Missachtung als „Zaungäste“

So gesehen war für die Politik der 27. Januar der geeignetere Gedenktag: die apathische Ereignislosigkeit des Geschehens am 27. Januar 1945, fern von Deutschland, als die Rote Armee ­Auschwitz – nein, nicht befreite, sondern betrat. Denn zu jenem Zeitpunkt war ­Auschwitz längst evakuiert, die noch halbwegs „funktionsfähigen“ Gefangenen befanden sich auf den Todesmärschen in Schnee und Eis, nur etwa 7.500 kranke und sterbende Gefangene waren zurückgelassen worden, die Wachmannschaften längst verschwunden.

Der Begriff der „Befreiung“ ist natürlich allemal aufbauender als das wirkliche Drama, das sich um den 10. November 1938 in deutschen Städten abspielte. Das Datum 27. Januar befördert ein ab­stra­hierendes, ein verallgemeinerndes Gedenkziel. Wer also diesen 27. Januar als jüdisch zen­triert missversteht, hat den universalisierenden, doch deutschen Diskurs auch der vielen Gedenkreden zu diesem Tag nicht wahrgenommen. Eine Ausnahme war die Bundestagsrede Ruth Klügers 2016, die als Jüdin diesen Todesmarsch mit erleiden musste.

Genau aus dieser Entortung des Jüdischen heraus haben aber im Jahre 2006 und auch in den Folgejahren die Spitzen des Zentralrats der Juden gegen ihre Missachtung als „Zaungäste“ bei der Gedenkstunde im Bundestag protestiert. Dies war bereits 1988 der Fall, als Heinz Galinski, der neue Vorsitzende des Zentralrats und der Berliner Jüdischen Gemeinde dagegen protestierte, dass er nicht eingeladen worden war, anstelle von Jenninger im Bundestag zu reden.

Präsenz einiger Juden in der AfD

Sowohl für den 10. November wie auch für den 27. Januar gilt, dass die real existierenden, in Deutschland lebenden Juden nur Rollen als Statisten in diesem Gedächtnistheater übernehmen. Denn bislang wurde kein heute in Deutschland lebender Jude, keine Jüdin gebeten, in einer Gedenkstunde des Bundestags zu sprechen. Diese Rolle im Gedenken aber reflektiert deutlich ihre Position in der deutschen Gesellschaft insgesamt: Sie sind vermittels ihrer legitimatorischen ideologischen Arbeit eng an das politische System und sein „christlich-jüdisches“, den Islam ausschließendes Selbstverständnis gebunden.

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Sie suchen aber auch selbst die Anbindung an Zentren politischer Macht – vermehrt in den letzten Jahren aufgrund der Angst vor zunehmendem Antisemitismus, der stärkeren muslimisch-arabischen Präsenz und nicht zuletzt als Repräsentant*innen Israels in Deutschland und Apologeten der Politik Israels unter Netanjahu. Die Präsenz einiger Juden in der AfD ist dabei nur der absurde Ausdruck dieser ideologischen Gemengelage.

Diese Positionierung der jüdischen Institutionen in Deutschland ist keineswegs zwingend gegeben. Sie unterscheidet sich deutlich vom Beziehungsrahmen von Juden und Muslimen in Nordamerika, wo die beiden Religionsgemeinschaften vielerorts nachgerade herzliche Beziehungen zueinander entwickelt haben – zuletzt wurde dies sichtbar in der spontanen Spendensammlung der muslimischen Gemeinde Pittsburgh für ihre jüdischen Nachbarn nach dem Massaker in der Synagoge Tree of Life. Solch ein Engagement in einer breiteren jüdischen Organisation für Flüchtlinge ist in Deutschland nur in den allerwenigsten Synagogen zu finden.

Das Gedenken an die Judenverfolgung, vom 10. November und vom 27. Januar, hat seine eigene Geschichte: vom Beschweigen und der Verreligiösierung des „Holocaust“ in den frühen Jahren bis zur „Schoah“ heute. Die Erinnerung an die Schoah wird so zu einem Bauteil der neuen nationalen Identität, als Waffe gegen den wieder erstarkenden völkischen Rechtspopulismus. Als solches erfüllt dieses Gedenken die bestmögliche Aufgabe für die deutsche Gesellschaft. Seine vielen Akteure verdienen unseren Respekt.

Was das Gedenken betrifft, auch achtzig Jahre nach der jüdischen Katastrophe, so müssen wir erkennen, dass man mancher Dinge bei allem guten Willen nicht gemeinsam gedenken kann

Doch diese Gedenktage bleiben ein Gedächtnistheater. Juden tauchen an beiden Tagen nur als Opfer der Deutschen auf: am 9. November als Tag des Beginns der Vernichtung und am 27. Januar, der für das Ende steht. Als Opfer erhalten Juden eine nachgerade sa­kro­sankte Aura, aus der he­raus etwa Kritik an der Politik Netanjahus unterdrückt wird. Für die jüdische Gemeinschaft aber waren und sind die Novemberpogrome eine andere, persönliche und bedrohliche körperliche Erfahrung, deren sie anders gedenken müssen. Mancherorts geschieht dies übrigens schon seit vielen Jahren, etwa durch das Lesen der Namen der Ermordeten in Synagogen und ­Gemeindesälen.

Die jüdischen Vertreter sollten sich deshalb lossagen von ihrer alimentierten Rolle für die deutsche Politik und Kultur und sich auf sich selbst besinnen. Auch in Bezug auf Israel, wie es der jüdische Autor Max Czollek unlängst als „Desinte­gration“ gefordert hat. Was das Gedenken betrifft, auch achtzig Jahre nach der jüdischen Katastrophe, so müssen wir erkennen, dass man mancher Dinge bei allem guten Willen nicht gemeinsam gedenken kann. Und das müssen wir eben auch akzeptieren.

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ist emeritierter Soziologieprofessor der Universität von Toronto und Autor ­zahlreicher Bücher über Juden in Deutschland nach 1945.

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