Antisemitismus im Karneval: Kein Witz
Hakennasen, Schläfenlocken und das Bild vom „wuchernden Juden“: Im belgischen Aalst wird Karneval zum antisemitischen Spektakel.
B ei so viel Habgier kann selbst der größte Teller nicht mithalten! In hohem Bogen fliegt ein Teil der Spezialitäten zu Boden, Aufschnitt und Fleischstücke, während der Mann, der sich dies alles aufgeschaufelt hat, im Weglaufen noch für das gute Mahl dankt. Hinter ihm ballt ein Händler die Faust. „Wenn du weiter so die Preise drückst, kann ich meinen Laden dichtmachen“, lamentiert er. Was den anderen freilich wenig kümmert, der sich mit süffisantem Grinsen entfernt. Der Mann trägt eine blaue Jacke mit dem Logo der Unesco, einen schwarzen Hut und Schläfenlocken.
Anfang Februar hat sich das Delikatessengeschäft Den Olijfboom im Zentrum von Aalst bereits in Schale geworfen für das, was die Kleinstadt zwischen Brüssel und Gent in ganz Belgien bekannt macht: den Karneval. Bunte, comicartige Zeichnungen in den Schaufenstern gehören zu diesem Brauch dazu. Der Olijfboom hat dabei ein Motiv gewählt, das noch deftiger ist als die Wurstwaren, die er anbietet. Emmelien Deshommes, deren Vater nebenan ein spanisches Restaurant betreibt, kommentiert: „Ich würde mich schämen, wenn das unsere Scheibe wäre. Und wenn ich jüdisch wäre und hier vorbeiliefe, fühlte ich mich erniedrigt.“
Es ist ein beklemmendes Déjà-vu, das sich dieser Tage in Aalst einstellt. Der Karneval steht vor der Tür, und wieder tauchen Karikaturen in der Stadt auf, die Juden darstellen sollen. Die am Schaufenster des Feinkostladens zielt eigentlich auf den Bürgermeister, erzählt der Besitzer. Dieser wolle in Kürze ein Restaurant eröffnen. Anscheinend witzelt man in der Stadt, er wolle das Preisniveau unterlaufen. „Wie Juden. Die probieren ja auch immer den besten Preis zu bekommen.“ Woher er das wisse? „Das sagt der Volksmund.“
März 2019, Karnevalssonntag, der große Umzug, Höhepunkt der närrischen Umtriebe. Auf einem Wagen der Gruppe Vismooil’n, was übersetzt so viel wie Fischmäuler bedeutet, sitzen zwei riesige Puppen mit Hakennasen, schwarzen Hüten und Schläfenlocken. Auf der Schulter der einen hockt eine Ratte, zu beider Füßen liegen Geldsäcke. Dahinter tanzen die ähnlich verkleideten Mitglieder der Gruppe auf Geldkisten zu den landesweit beliebten Billig-Beats, während aus den Lautsprechern aufgekratzte „sjalommekes“- Rufe klingen – ein flämischer Dialektausdruck, der sich mit „Schalömchen“ übersetzen lässt.
„Sabbatjahr 2019“ war der Titel der Darbietung, die Aalst weltweit in die Schlagzeilen brachte. Den Begriff wählte die Gruppe, weil sie knapp bei Kasse war und darum einen Wagen aus dem Vorjahr ohne viel Aufwand recycelte. Die Unesco, die das Aalster Brauchtum seit 2010 als Weltkulturerbe listete, zitierte Bürgermeister Christoph D’Haese an ihren Sitz nach Paris. D’Haese, der die Umtriebe der Narren stets mit Satire und Meinungsfreiheit rechtfertigt, musste Auskunft zum Hintergrund dieses Brauchtums geben. Doch bevor die UN-Organisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur über einen Ausschluss entscheiden konnte, zogen sich die Aalster selbst zurück. „Wir haben die Vorwürfe satt“, so D’Haese, Mitglied der flämisch-nationalistischen Partei N-VA. „Wir sind keine Antisemiten oder Rassisten. Wer das weiter behauptet, ist böswillig.“
Christoph D'Haese, Bürgermeister von Aalst
Was aber hat man in Aalst eigentlich mit Juden am Hut? Es gab in dieser Stadt mit ihren knapp 90.000 Menschen nie eine Gemeinde, man kennt weder jüdische Einwohner noch Organisationen. Wieso tanzt man um diese Puppen herum, die an Karikaturen auf Stürmer-Niveau erinnern, und gibt danach die Unschuld vom flämischen Lande? Und wie kommt man darauf, nach all dem zur neuen Saison noch einmal nachzulegen? Die besagte Gruppe Vismooil’n nämlich präsentierte unlängst eigens angefertigte Orden, die abermals vermeintliche Juden mit Hakennasen zeigen, versehen mit Losungen wie „Wir lachen über alle“, oder „Unesco. Was für eine Farce“?
Die Antwort springt einem nicht direkt ins Gesicht, wenn man am unscheinbaren Bahnhof von Aalst ankommt. Wohl fällt auf, dass dessen Fassade in den Farben der Saison geschmückt ist, Gelb, Rot und Weiß. Im Café des Arcades ein paar Meter weiter ziert ein „Werner“-Schriftzug die Scheiben. Ein Hinweis auf den Kandidaten, den man hier bei der Wahl zum Karnevalsprinzen unterstützte. Der Wirt freilich, der unaufgeregt die mittäglichen Tresengäste bedient, gesteht, dass er zu Karneval immer verreise. Was die Sache mit den Juden betrifft, kann er nicht helfen. Eine jüngere Kundin, im Glas eine knallrote Mischung aus Bier und Grenadine, zuckt nur die Schultern.
Es ist ein älterer Gast, der im Vorbeigehen deutliche Worte wählt: „Diese Karikaturen vom letzten Jahr, das war wirklich wie Deutschland in den 1930ern.“ Und wie kommt so etwas? „Das weiß ich nicht. Aber was ich weiß, ist, dass hier eine ganze Reihe Rassisten herumlaufen“, sagt er und empfiehlt sich. Die Denderstreek, das Gebiet um den Fluss Dender, ist in Belgien bekannt für stramm-rechte Wahlerfolge. Der identitäre Vlaams Belang ist hier in den letzten Jahren immer stärker geworden. Ist dies der Referenzrahmen der närrischen Abgründe?
Die besagte Karnevalsgruppe schreibt in einem Facebook-Post, man habe „ungewollt Traumata und Verletzungen“ verursacht und sich dafür entschuldigt – jedoch ausdrücklich „nicht für die Verwendung von Karikaturen und Spott“. Die Vismooil’n, scheint es, haben in diesen Zeiten ein wenig die Orientierung verloren. „In welchem Schnelltempo verändert sich die Welt um uns herum? Sind wir weltfremd geworden? Oder sind sie weltfremd? Müssen wir uns anpassen? Oder erst recht weitermachen?“, sinniert man in derselben Erklärung. „Sollen wir trotzig weiter gegen den ‚Rest‘ angehen? Und dieser Rest: Wer ist das? Die ganze Welt? Oder der intellektuelle, politisch korrekte Teil?“
Die Reaktionen zeugen von wachsender Bunkermentalität: „Karneval ist für Außenstehende nicht zu verstehen. Schlimm genug, dass ihr es so was wie der Unesco erklären musstet“, schreibt jemand. „Nur noch regionale Presse zulassen“, schlägt jemand anders vor. „Der Rest versteht es doch nicht und tut alles, um einseitig zu berichten.“ Eine dritte Antwort fordert: „Lass Aalst an Karneval den Aalstern. Ich finden es am Sonntag schon nicht mehr schön, weil zu viele Fremde rumlaufen. Und damit meine ich nur ‚Nicht aus Aalst.‘“ Was einer der folgenden User offenbar doch anders versteht: „Weißt du was, die Ausländer können nichts mehr ab.“
Schläfenlocken-Attrappen im Angebot
Wohin wendet man sich, wenn man inmitten dieser Überfremdungangst nun verstehen will, was die Aalster umtreibt mit ihrer eigenartigen Juden-Obsession? Das Verkleidungsgeschäft Liebaut, zentrumsnah und eine der beiden traditionellen Adressen für alles, was mit Karneval zu tun hat, ist das ästhetische Epizentrum dieser Umtriebe. Der Inhaber, Danny Liebaut, posierte bereitwillig mit schwarzem Umhang, Vollbart und Nasenmaske sowie einem vermeintlich jüdischen Hut am Verkaufstresen, als der Vertreter einer belgischen Tageszeitung vorbeikam. „Voriges Jahr hatte ich das nicht im Sortiment. Aber nach allem Getue mit der Unesco beschloss ich es einzukaufen“, zitiert ihn die Zeitung.
Der Umhang ist inzwischen ausverkauft, sagt die Chefin, die an diesem Mittag an der Kasse steht. Was die anderen Accessoires betrifft, bestreitet sie, dass diese spezifisch jüdisch sein sollten. „Die Nase ist eine Hexennase“, weist sie auf eine schrumpelige Maske in Plastikverpackung. „Der Umhang kann auch für Schornsteinfeger oder Zorro gebraucht werden. Der Bart für Klabauter und Scheichs.“ In den hinteren Regalreihen zwischen allerlei anderen Kopfbedeckungen findet sich schließlich auch das Modell, das ihr Mann auf dem Foto trug. Fünf Stück sind noch übrig, Material: 100 Prozent Polyester, made in China. „Hoed hat sombrero“, so das Etikett lapidar. Seitlich baumeln zwei dünne Schläfenlocken-Attrappen.
Warum sollen all diese Artikel eigentlich zu Juden passen? Sehen die so aus? Eigentlich hat sie noch keinen Juden getroffen, sagt die Inhaberin, und rät: „Da müssen Sie nach Antwerpen.“ Dass Juden letztes Jahr mit Geldsäcken dargestellt wurden, kann sie nachvollziehen. „Das sieht man doch in den Fernsehprogrammen, da sitzen sie in solchen schicken Restaurants.“ – Aber stimmt es überhaupt, dass Juden reich sind? „Das weiß ich nicht.“ Sicher ist sie sich dagegen bei einem: Das, was letzten Karneval in Aalst passierte, hätten „sie“ aufgebauscht. Und das, was jetzt käme, sei durch „ihre“ Reaktion provoziert worden. Wer „sie“ ist? „Juden!“ Immerhin, über Türken und andere Minderheiten habe man sich hier im Karneval auch schon lustig gemacht.
Tatsächlich wähnen sich manche hiesige Narren als Opfer. Die Vismooil’n haben als diesjähriges Motto „Aalst vogelfrei“ gewählt. Neulich verlosten sie Buttons, auf denen „Keine Zensur in Aalst“ stand oder, in geschriebenem Dialekt, „Zje swie (je suis) Vismooil“, also „Ich bin ein Fischmäuler“.
Johan Van der Speeten, Mitglied des Humanistisch Verbond, dessen Niederlassung schräg gegenüber des Verkleidungsgeschäfts liegt, erweist sich als Anthropologe Aalster Befindlichkeiten. „Beim Karneval wird alles und jeder verspottet. Der Zug ist anarchisch und nicht besonders subtil.“ Tatsächlich sorgte er schon 2013 für Empörung, als eine andere Gruppe in Nazi-Uniformen herumlief, mit „Zyklon B“-Dosen in der Hand – als Anspielung auf die rechte Stadtregierung.
Johan van der Speten, Humanistischer Verband
„Natürlich gibt es in Aalst wie überall Antisemitismus“, folgert Van der Speeten, der in einem Dorf in der Nähe aufwuchs. „Aber der war letzte Saison nicht die Grundlage. Weil die Leute hier denken, dass der Fall aufgebauscht wurde, befürchte ich, dass es nun noch mehr jüdische Karikaturen geben wird. Wenn Aalster finden, dass man ihnen vorschreibt, über wen sie spotten dürfen oder nicht, wehren sie sich.“ Neulich, bei der Wahl des Karnevalsprinzen, tauchten schon einige Karnevalisten in Kostümen auf, die Juden darstellen sollten, so die Zeitung Het Nieuwsblad, und zitierte einen davon: „Beim Zug werden auch viele Gruppen als Juden verkleidet sein.“
Der Politiker Michael Freilich hat in Aalst versucht zu vermitteln. Er ist nicht nur Jude, sondern sitzt auch für die N-VA im Brüsseler Parlament – die gleiche Rechtspartei, der auch Christoph D’Haese angehört, der Bürgermeister von Aalst. Er betont, die Leitung seiner Partei habe die Auftritte der Karnevalisten verurteilt, der Bürgermeister vertrete jedoch eine eher lokale Perspektive. Fundierte antisemitische Überzeugungen sieht Michael Freilich auf Seiten der Narren eher nicht. Wohl analysiert er, dass ihr Motto, alles und jeden durch den Kakao zu ziehen, nicht ganz zutreffend sei. „Über die ‚Bande von Nivelles‘ – eine Serie ungeklärter Raubüberfälle in Belgien –, die hier 1985 acht Menschen erschoss, wird auch nicht gespottet. Wenn es da also Selbstzensur gibt, ist es dann so schwer, das beim Holocaust auch zu tun?“
Eine seltsame Erklärung der Stadtverwaltung
Im Stadthaus hat man nach der anhaltenden Aufregung inzwischen Vorkehrungen getroffen. Die PR-Abteilung darf nichts mehr zum Thema sagen, jedenfalls nicht zu einem ausländischen Journalisten. Peter Van den Bossche, der Sprecher von Bürgermeister D’Haese, sagt, er glaube selbstverständlich nicht, dass Juden die Unesco kontrollierten. Aber was haben sie in dieser Stadt denn nun mit Juden? „Nichts! Im Karneval wird nur dargestellt, was aktuell auf der Welt geschieht. Der dicke Bürgermeister, der Fußballklub, der absteigt.“ – Und Juden? „Die haben sie abgebildet, wie man es oft in Filmen sieht. Der klassische Hut, die Locken. Über Stereotype dachten sie nicht nach. Erst später vertieften sie sich darin. Vorher wusste man kaum etwas darüber.“
Es kommt vor, dass einem in Aalst, einer gänzlich unspektakulären Kleinstadt in der belgischen Provinz Ostflandern, ein Schauer über den Rücken läuft. Und man realisiert, dass dies der nüchterne Zustand ist. Sozusagen die Wohlfühlversion. Wie wird es sein, wenn sie demnächst drei Tage lang ohne Pause an den Zapfhahn gekoppelt wird?
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