Anthropologin über deutsche Muslime: „Die Erinnerung an den Holocaust gehört uns allen“
Muslimische Menschen stünden unter Generalverdacht, antisemitisch zu sein. Das verschleiere den Antisemitismus weißer Deutscher, sagt Esra Özyürek.

taz: Frau Özyürek, Sie sagen, Sie haben keine persönlichen Bezüge zu Deutschland und dem Holocaust. Jetzt haben Sie ein Buch über die deutsche Erinnerungskultur geschrieben. Warum?
Esra Özyürek: Ich bin nach dem Militärputsch in der Türkei 1980 groß geworden. In einer militaristischen, nationalistischen Umgebung. Linke Menschen in der Türkei wie ich haben wirklich zum deutschen Beispiel aufgeschaut. Wir dachten: Wenn die Türkei davon lernen kann, um den Völkermord an den Armenier:innen aufzuarbeiten, dann wäre die Demokratie in der Türkei eine bessere. Auch in Bezug auf die Beziehung zu den Kurd:innen und anderen Minderheiten.
taz: Deutschland als erinnerungspolitisches Vorbild. Entspricht dieses Bild der Realität?
Özyürek: Aus der Türkei, aus Großbritannien und aus den USA betrachtet ist Deutschland immer noch anders. Als ich 2006 erstmals nach Deutschland kam, war ich wirklich beeindruckt von der Art, wie diese Verantwortung in Erinnerung gehalten wird. Hier in Großbritannien, wo ich heute lebe, mussten wir sogar im Einbürgerungstest beantworten, warum der Kolonialismus auch Gutes hervorgebracht hat. Das ist in Deutschland undenkbar. Zumindest bis jetzt.
Professorin für Anthropologie an der Cambridge Universität. Sie studierte Politikwissenschaft und Soziologie an der Bogazici-Universität in Istanbul und promovierte an Universität von Michigan. Ihr Buch „Stellvertreter der Schuld. Erinnerungskultur und muslimische Zugehörigkeit in Deutschland“ erschien im März 2025.
Ich habe aber festgestellt, dass es auch Probleme in dieser Erinnerungskultur gibt. Und ich war überrascht zu sehen, dass dieses wichtige Beispiel, die Bekämpfung des Antisemitismus, zu einem Weg wurde, eine andere diskriminierte Gruppe weiter zu marginalisieren, die Muslim:innen.
taz: Was meinen Sie damit?
Özyürek: In Deutschland gab es Holocaust-Bildungsprogramme, die extra für Muslim:innen konzipiert wurden. Das hat mich wirklich überrascht. Ich fragte mich: Gibt es das auch für Thailänder:innen oder Neuseeländer:innen? Und was macht man, wenn jemand Halbpolin ist? Als jemand, der sich selbst als eine Antinationalistin definiert, finde ich, dass die Erinnerung an den Holocaust uns allen gehört.
Bestimmte Gruppen als bildungsbedürftiger hinzustellen als andere und zu sagen, Muslim:innen bräuchten sie mehr als weiße Deutsche, ist ein Problem. Muslimische Gastarbeiter:innen haben Westdeutschland mit wiederaufgebaut und ebenfalls die Nachkriegszeit durchgemacht. Es ist nicht so, dass sie das verpasst hätten. Zu sagen, dass Muslim:innen aus dieser Zeit nichts gelernt hätten, radiert die Tatsache aus, dass muslimische Kinder zum Beispiel den gleichen Schulunterricht durchlaufen wie nicht-muslimische. Auf diese Weise werden Muslim:innen immer als getrennt angesehen, und dieser Gedanke widerspricht einer kohärenten Gesellschaft.
taz: Sie schreiben, dass deutsche Nicht-Muslim:innen ihren eigenen Antisemitismus verschleiern, indem sie sich auf Muslim:innen konzentrieren. Wie funktioniert das?
Özyürek: Wenn man immer den muslimischen Antisemitismus betont, dann sieht es so aus, als wären die nicht-muslimischen Deutschen die weniger antisemitischen oder als wären sie diejenigen, die „dazugelernt“ haben. So entsteht das Gefühl, der ganze Antisemitismus sei den Muslim:innen zuzuschreiben und der Antisemitismus der weißen Deutschen wird unsichtbar.
taz: Ist Antisemitismus dennoch ein Problem unter deutschen Muslim:innen?
Özyürek: Antisemitismus ist ein erstaunlich weit verbreitetes, schreckliches Phänomen. Es gibt Antisemitismus unter deutschen Muslim:innen, die Teil der deutschen Gesellschaft sind, in der es ebenfalls Antisemitismus gibt. Ein Teil davon ist ganz „typischer“ Antisemitismus – ein anderer ist Wut über Israels Behandlung der palästinensischen Bevölkerung.
Wenn Kritik an Israel pauschal als Antisemitismus definiert wird, dann werden viele deutsche Muslime als antisemitisch definiert. Wenn wir jedoch legitime Kritik an Israel ausschließen können, würde Antisemitismus als ein kleineres Problem erscheinen – aber nicht verschwinden.
taz: Wann mündet Kritik an Israel in Antisemitismus?
Özyürek: Wenn von Israel mehr oder weniger erwartet wird als von jedem anderen Land der Welt, weil es ein jüdischer Staat ist.
taz: Wer deutscher Staatsbürger werden will, muss heute auch Fragen zu erinnerungspolitischen Themen beantworten können. Wie stehen Sie dazu?
Özyürek: Wie der türkisch-deutsche Journalist Zafer Şenocak einmal sagte, wandert jemand, der nach Deutschland einreist, auch in die deutsche Geschichte ein. Es stimmt, dass jede:r, der nach Deutschland einreist, etwas über die Vergangenheit jenes Landes erfahren sollte, das rechtsextreme Ideologien an den Rand des Abgrunds brachten, und über die Anstrengungen, die unternommen werden mussten, um Deutschland zu einer Demokratie zu machen.
Ich mag die konkreten Fragen gut finden oder auch nicht, aber insgesamt denke ich, dass es für neuere Migrant:innen gut ist, die Geschichte des Landes zu kennen und zu verstehen.
taz: In Ihrem Buch schreiben Sie, es habe eine Verschiebung der Wahrnehmung von Muslim:innen als Diskriminierte hin zu Diskriminierenden gegeben. Können Sie das erklären?
Özyürek: So funktioniert Rassismus. So funktionierte es auch mit den Jüd:innen unter den Nazis: Man gab ihnen die Schuld für gesellschaftliche Probleme. Es ist eine sehr typische rassistische Aussage über eine Gruppe: „Oh, ich beschuldige sie nicht grundlos. Ich beschuldige sie, weil sie antisemitisch sind, weil sie sexistisch sind, weil sie homophob sind. Sie sind also an sich schlecht.“ Wir wissen, dass die Rechtsextremen weltweit und auch in Deutschland auf dem Vormarsch sind und dass sie Feinde brauchen: Muslim:innen, Transpersonen, Jüd:innen, Geflüchtete.
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts ist viel passiert, was Muslim:innen zu Außenseiter:innen gemacht hat, vom 11. September bis zur Vereinigung Europas und dem Wunsch Deutschlands, eine gemeinsame Identität zu finden. Vor 1992 war die EU noch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Irgendwann hieß es: Wir sind auch eine kulturelle Union. Es muss also Außenseiter:innen geben.
taz: Wie hat sich die Rolle von Menschen türkischer und arabischer Herkunft für den deutschen Erinnerungsdiskurs verändert?
Özyürek: Bis zum Jahr 2000 wurde die Vergangenheitsbewältigung als ein Problem der nicht-muslimischen Deutschen angesehen. Sie geschah durch die Auseinandersetzung mit den Sünden der Eltern und Großeltern. Das demokratische Deutschland ist entstanden, indem man diese Verantwortung übernommen hat. In den Schulen haben muslimische Kinder von den Lehrkräften oft gehört: „Ach, das ist nichts für dich. Warum machst du nicht etwas anderes?“ Sogar die Hausaufgaben waren so: „Frag deinen Großvater, was er während des Krieges gemacht hat.“ Diese Frage war nicht für die muslimischen Kinder bestimmt, das haben sie verstanden.
Irgendwann kam in der Gesellschaft aber das Bild auf, Muslim:innen hätten ihren Teil der Gedenkarbeit nicht getan. Aber wenn die Familie erst nach dem Krieg nach Deutschland gekommen ist, wie soll man dann diesen Weg gehen? Man weiß, dass man diese spezifische Sünde nicht zu büßen hat. So wurden sie vom Weg, „gute Deutsche“ zu werden, ausgeschlossen.
taz: Was hat sich 2000 geändert?
Özyürek: Ab Anfang der 2000er Jahre zeigen Untersuchungen, dass die Deutschen zunehmend das Gefühl hatten, genug getan zu haben, um ihre Vergangenheit zu bewältigen. Gleichzeitig zeigen Untersuchungen aber auch, dass die Menschen der Meinung waren, Deutschland müsse weiterhin mehr tun, um des Holocaust zu gedenken und gegen Antisemitismus zu kämpfen.
Dadurch wurden Muslim:innen zu Subunternehmer:innen beziehungsweise Stellvertreter:innen der Schuld: Durch die Konzentration auf muslimischen Antisemitismus wird beides erreicht. Nicht-Muslim:innen können sich gut fühlen, weil sie ihre Lektion gelernt haben und gleichzeitig gegen den Antisemitismus von Muslim:innen kämpfen.
taz: Welche Auswirkungen hatte das auf die Gesellschaft?
Özyürek: Daraus entstand auch nach Innen eine Art Gesellschaftsvertrag. Die Bedingung für die Aufnahme Westdeutschlands in die sogenannte freiheitliche Welt bestand darin, die eigene Geschichte zu akzeptieren und die Dinge zu verbessern. „Entnazifiziert und demokratisiert euch selbst, dann werdet ihr als normale Nation in der zivilisierten Welt angesehen.“
taz: Sie sprechen von Muslim:innen als Stellvertreter:innen oder Subunternehmer:innen der Schuld.
Özyürek: Genau. Ihr Beitritt zum Gesellschaftsvertrag ist nicht an dieselben Bedingungen geknüpft wie bei Nicht-Muslim:innen. Der rechte Diskurs über die Aberkennung doppelter Staatsbürgerschaften ist bisher zwar nicht in ein Gesetz gemündet. Aber allein die Tatsache, dass er im öffentlichen Raum präsent ist, macht es denkbar, dass er eines Tages umgesetzt wird.
Käme ein solches Gesetz, könnte es irgendwann dazu führen dass Menschen mit Migrationshintergrund, die zum Beispiel als antisemitisch eingestuft werden, die Staatsbürgerschaft entzogen wird. Antisemitischen Deutschen ohne weitere Staatsbürgerschaft kann das nicht passieren.
taz: Sie haben in Ihrer Forschung eng mit muslimischen Jugendlichen zusammengearbeitet. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Özyürek: Auch wenn sie andere Namen als die Mehrheitsgesellschaft haben oder vielleicht irgendwo in einem Dorf in Anatolien das Haus eines Urgroßvaters haben, wollen sie sich als Teil Deutschlands sehen. Sie sind Teil dieser deutschen Gesellschaft und wollen sich sichtbar machen. Sie wollen, dass andere Menschen sie so respektieren, wie sie sind.
taz: Die Projektgruppe „Junge Muslime in Auschwitz“ aus Ihrem Buch ist besonders engagiert. Lassen Ihre Recherchen allgemeinere Schlussfolgerungen zu?
Özyürek: Ich glaube nicht, dass diese jungen Menschen sich sehr von anderen unterscheiden. Sie sind nicht anders, sondern nur Menschen, die versuchen, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden.
Viele versuchen, die Verantwortung für den Holocaust auf ihre Schultern zu nehmen. Sie sagen: „Wir nehmen den Antisemitismus ernst. Wir bilden uns über den Holocaust weiter.' Sie gehen im Rahmen von Projekten in die Konzentrationslager. Und sie finden, „wir machen das eigentlich sogar besser als ihr. Wir wissen, wie es sich anfühlt, eine religiöse Minderheit zu sein, als Außenseiter gesehen zu werden. Also hört uns zu.“
taz: Wird ihnen zugehört?
Özyürek: In gewisser Weise: Jedes Jahr bekommen Muslim:innen, die sich gegen Antisemitismus engagieren, das Bundesverdienstkreuz. Sie kommen in die Zeitung, bekommen Geld, um nach Israel zu reisen, solche Dinge. Aber gleichzeitig sagten mir viele: „Anschließend, wenn ich etwa mit dem Auto unterwegs bin, durch die Straßen laufe oder versuche, einen Club zu betreten, dann verschwindet all die Anerkennung wieder.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!