Max Czollek über Erinnerungskultur: „Instrument der Disziplinierung“

Der Autor Max Czollek über die Veränderungen seit dem 7.Oktober, seine Vertrauenskrise und unsere gewaltvolle Gesellschaft.

Teilnehmer einer Demonstration protestieren unter dem Motto «Deutschland steht auf - Nie wieder ist jetzt!» gegen Antisemitismus.

Teilnehmer einer Demonstration gegen Antisemitismus tragen ein Plakat mit der Aufschrift „Nie wieder ist jetzt“ Foto: Carsten Koall/dpa

taz: Herr Czollek, reden wir zu oft nur von der Shoa, wenn wir über jüdische Geschichte reden?

Max Czollek: Die Gewaltgeschichte gegen Juden und Jüdinnen ist eine deutsche Vergangenheit, die nichts unberührt gelassen hat. Aber auch darüber hinaus ist die deutsch-jüdische Geschichte eine Aneinanderreihung von Niederlagen und Katastrophen. Ich sage das nicht, damit wir den Mut verlieren. Sondern um daraus die Energie zu schöpfen, Erinnerungskultur als Motivation zu verstehen.

Motivation Wofür?

Die Gegenwart so einzurichten, dass sich die Vergangenheit nicht wiederholt. Es ist Zeit, sich zu fragen, was machen wir eigentlich in der jetzigen Situation, in der sich die deutsche Gewaltgeschichte augenscheinlich für eine nächste Runde warm läuft?

Zeigt sich die Vergangenheit auch in Form des 7. Oktobers und seiner Folgen?

Am 7. Oktober ist etwas deutlich geworden, das davor sicher schon da gewesen ist. Aber was sich dann an solchen Momenten fokussiert: dass Antisemitismus existiert in allen Teilen dieser Gesellschaft. Wenn ich „alle“ sage, dann meine ich das auch so. Wir hatten im Jahr 2023 unterschiedliche Anlässe, über die Kontinuität von Geschichte und also über die Gegenwärtigkeit von Gewalt nachzudenken. Und es beunruhigt mich, dass diese Gesellschaft von all diesen Anlässen, die ja von astronomischen AfD-Umfragewerten bis zu Hubert Aiwanger reicht, vor allem den Anlass skandalisierte, der am wenigsten am Selbstbild der erfolgreichen deutschen Aufarbeitung kratzt. Das zeigt, einmal mehr, dass diese Gesellschaft keine Lust hat, Erinnerungskultur als ein Instrument der Selbstkritik zu verstehen, sondern eher als ein Instrument der Disziplinierung der vermeintlich Anderen oder Fremden einsetzt.

Inwiefern?

Das aktuellste Beispiel dafür sind die Bauernproteste. Die Bauernproteste, die nicht nur gewaltvoller sind, als die meisten Klimaproteste es je waren, sondern die auch begleitet werden von einer überraschend hohen Zahl offen rechtsradikaler Teilnehmer und den damit einhergehenden Aufrufen zur Abschaffung der Demokratie, Hass gegen Linke und Rassismus, der bis zu Gewaltaufrufen und Mordphantasien reicht. Aber auf Seiten der deutschen Politik oder Medienlandschaft sehen wir nicht mal annähernd eine Reaktion wie nach dem 7. Oktober. Ist doch merkwürdig, dass der Bundeskanzler nun schweigt, nachdem er im Herbst noch ganz groß: „Nie wieder ist jetzt“ gesagt, die Bekämpfung von Antisemitismus gemeint und damit die Abschiebung von Asylsuchenden im großen Stil begründet hatte.

Ist „Nie wieder!“ denn wirklich jetzt?

Nein, offensichtlich nicht, offensichtlich geht es der Gesellschaft um etwas anderes, wenn sie diesen Satz sagt. Für „Nie wieder ist jetzt“ müssten wir doch überhaupt erst mal anfangen zu verstehen und anzuerkennen, was da draußen gerade passiert. Ich meine, hallo, die AfD liegt bei einem Viertel Wählerzustimmung, die nächsten Wahlen werden systemgefährdend. Das dürfte es dem eigenen Selbstbild von der guten Aufarbeitung zufolge gar nicht mehr geben. Und da angesichts dieser Realität die Krise des eigenen Selbstbildes ausbleibt, entsteht bei mir der Eindruck, dass die Leute einfach keine Lust haben, ihre eigene Erzählung der guten Aufarbeitung in Frage zu stellen. Stattdessen fragen sie: „Ja, und was müssen wir denn jetzt tun, damit die Geschichte sich nicht wiederholt?“ Ich verstehe diese Frage nicht, die Geschichte wiederholt sich doch gerade!

Wie k ö nnen wir uns selbst schützen?

Was mich aktuell beschäftigt, ist die Frage, wie wir uns auf diese Niederlagen vorbereiten können. Das ist nämlich wahnsinnig schwierig. Gemeinsam gewinnen ist einfach. Gemeinsam verlieren ist schwer. Der 7. Oktober war in dieser Hinsicht eine Enttäuschung. Ein wichtiger Aspekt wäre vielleicht, dass man die gegenseitige Verletzbarkeit und Verstricktheit anerkennt: In einer von Gewalt strukturierten Gesellschaft kann es doch kein Skandal sein, wenn deutlich wird, dass wir mit der Gewalt verstrickt sind. Damit müssen wir umgehen lernen; als Einsicht, dass unser Gegenüber Fehler macht – aber auch, und das ist fast noch wichtiger, dass wir nicht automatisch zu den Guten gehören, weil wir etwa auf einer Ebene Diskriminierung erleben oder es wirklich gut meinen. Wir sind ja keine Staaten, wir haben keine Räson, wir sind Menschen. Und als solche sollten wir uns begegnen. Das ist es, was die Zivilgesellschaft staatlichen Akteuren voraus hat. Das sollte auch die Stärke sein, auf die sie sich besinnt.

Wer muss diese Grenze jetzt klarer ziehen?

Ich glaube, ein wirklich zentraler Aspekt besteht darin, Juden und Jüdinnen als Menschen wahrzunehmen. Das klingt jetzt vielleicht etwas merkwürdig, aber Juden und Jüdinnen werden auch in aktuellen Auseinandersetzungen weniger als lebendige Menschen und mehr als Symbole behandelt, an denen sich der eigene moralische Status beweisen lässt und um deren Besitz daher gerungen wird. Tatsächlich gibt es neben den symbolischen Juden aber auch echte Menschen, Menschen mit einer Gewalterfahrung, Menschen mit Angst. Menschen aber auch mit einer Handlungsmacht. Und es wäre schon wichtig, dass gerade auch eine linke, kritische, antirassistische Bewegung mehr Angebote schafft, bei denen Juden und Jüdinnen als Menschen Teil sein können.

*1987 in Berlin, besuchte dort die Jüdische Oberschule, studierte Politikwissenschaften und promovierte am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU. Am Maxim Gorki Theater initiierte er die „Tage der jüdisch-muslimischen Leitkultur“. Letzte Veröffentlichung: „Versöhnungstheater“, Hanser 2023, 176 Seiten, 22 Euro; E-Book 16,99 Euro.

Wie hat sich deine Arbeit seit dem 7. Oktober verändert?

Es gab ganz akute Veränderungen, wie dass ich einfach seitdem unter Sicherheitsvorkehrungen gelesen habe. Das war eine Erfahrung, die hatte ich seit dem Anschlag auf die Synagoge in Halle nicht mehr. Zweitens ist mir selbst in den vergangenen drei Monaten nochmal klarer geworden, dass mir Menschlichkeit wichtiger ist als Ideologie. Die Unfähigkeit, empathisch zu sein, ist ein Riesenproblem, egal bei welcher politischen Einstellung. Auf einer dritten Ebene ist mir klar geworden, dass Begegnung und Zusammenarbeit momentan vor allem auf individueller Ebene stattfinden müssen. Vorab weiß ich einfach nicht mehr, wie die verschiedenen Akteure mir gegenüber zum Thema Antisemitismus stehen. Das ist so eine Art Vertrauenskrise. Diese Zersplitterung bürgt riesige Gefahr angesichts der aktuellen deutschen Situation, weil wir doch alle Kräfte der Zivilgesellschaft brauchen werden, um dagegen vorzugehen.

Kannst du dir vorstellen, dass diese Vertrauenskrise wieder gel ö st werden kann?

Di. 9.1. 18 Uhr, Neumünster

Sinti Union Schleswig-Holstein

Feldstraße 31

Di, 23.1. 18.30 Uhr, Osnabrück

Kulturgeschichtliches Museum

Museumsquartier, Lotter Straße 2

So. 28.1 20 Uhr, Hamburg

Übel und Gefährlich

Ja, ich glaube, dass man diese Vertrauenskrise in so einer Gesellschaft immer irgendwie lösen können muss. Wenn ich eine einzige positive Vision formulieren müsste, dann, dass wir an dem Punkt weitermachen, an dem wir merken, dass auch die eigenen Bezugsgruppen knietief in den Diskriminierungs- und Gewaltkontexten drin stehen, die man kritisiert hat und überwinden wollte. Die eigene Diskriminierung bedeutet eben nicht, dass man selber nicht diskriminieren könnte. Und die Realität staatlicher Repressionen bedeutet nicht, dass man selbst frei ist von Gewalt. Die Debatte, ob jemand mit Diskriminierungserfahrung Antisemit oder Rassist oder Sexist sein kann, die können wir uns sparen. Die Antwort lautet immer: ja, ja, es ist möglich, all das zu sein. Es ist sogar wahrscheinlich, dass wir das verinnerlicht haben. Und dann gilt es zu überlegen, wie wir solidarisch und im Sinne eines „braver spaces“ voneinander lernen, einander weniger Gewalt anzutun. Und die Gesellschaft in diesem Sinne zu gestalten.

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