Anklage nach Tod eines Obdachlosen: Der einsame Tod von Martin H.
Ein 17-Jähriger attackiert einen Obdachlosen. Wenig später stirbt der Mann. Die Rechtsmedizin sieht einen Zusammenhang zwischen Tat und Tod.
Spätabends am 6. Mai 2024, es war ein Montag, wurde der Obdachlose Martin H. am Bahnhof von Immenstadt im Allgäu von einem 17-Jährigen attackiert. Auf einer Bank an einem kleinen Platz hatte H. seinen Stammplatz, er übernachtete auch meist in Bahnhofsnähe. Der 53-Jährige ging zur Polizei, erzählte von der Gewalttat und beschrieb den 17-Jährigen sehr genau.
Martin H. lehnte die Untersuchung und Behandlung durch einen Notarzt ab, die Polizei bestand nicht darauf. Er ging in den Eingangsbereich einer Bank, um dort zu schlafen. Am nächsten Tag wurde er dort tot gefunden, laut einer Obduktion war er an Hirnblutungen gestorben. Die Bestürzung war nicht nur in Immenstadt mit seinen knapp 15.000 Einwohnern groß, der Fall gelangte bundesweit in die Medien. Doch war der Angriff des 17-Jährigen, der H. zu Boden stürzen ließ, die Ursache für seinen Tod ein paar Stunden später?
Das war lange nicht klar. Nun, nach fünf Monaten, liegt die rechtsmedizinische Stellungnahme der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München vor. Sie belegt, dass die Gewalttat zum Tod des Obdachlosen geführt hat. Demnach erlitt H., so berichtet die Staatsanwaltschaft Kempten, ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und ein „raumforderndes Subduralhämatom“, also eine Hirnblutung, weil er niedergeschlagen worden und sein Kopf auf den Boden geprallt war. Die Staatsanwaltschaft wird daher Anklage erheben. Sie sieht laut einem Sprecher einen „Kausalzusammenhang“ zwischen den Schlägen, dem Sturz und dem Tod. Bei der Tat waren drei Begleiter des mutmaßlichen Schlägers mit dabei, sie sind Zeugen.
„In der Wohnung kann ich nicht denken.“
Den 17-jährigen Tatverdächtigen – er ist weiterhin nicht volljährig – fasste die Polizei schnell. Er ist ihr nicht unbekannt, wird er doch als Intensivtäter geführt. Laut der Staatsanwaltschaft war schon wegen Körperverletzung, Einbrüchen und Bedrohung gegen ihn ermittelt worden.
Der Obdachlose Martin H. war erst im Februar in seinen Heimatort Immenstadt zurückgekehrt. Zuvor hatte er in Berlin gelebt, in einer selbst gezimmerten Behausung auf einer Verkehrsinsel in Kreuzberg, Mehringdamm Ecke Yorckstraße, umgeben vom brandenden Autolärm. Sehen konnte man ihn auch in der RTL-Doku „Ein Leben auf der Straße“ aus dem Jahr 2021, wo er als „Deutschlands beliebtester Obdachloser“ ausgerufen wurde.
Gezeigt wird darin ein Mann mit Strubbelbart, der gut gelaunt jeden grüßt und mit jedem quatscht, meist mit Bierflasche und Kippe in den Händen. Er nennt sein Domizil einen „Freistaat“ und meint: „Ich brauche Platz, in der Wohnung kann ich nicht denken.“
Keine heile Welt
Die Gewalt gegen Obdachlose nimmt in Deutschland zu. Menschen, die auf der Straße leben, werden bedroht, geschlagen, manchmal angezündet – in München etwa war im vergangenen November ein 78-Jähriger im Englischen Garten verbrannt. Laut Bundesinnenministerium ist die Gewaltkriminalität gegen Wohnungs- und Obdachlose von 2018 bis 2023 um 37 Prozent gestiegen. Die Gründe für die Attentate – etwa Hasskriminalität oder Nazigesinnung – werden in der Statistik nicht erfasst. Von 2022 bis 2024 ist die Zahl der in Einrichtungen untergebrachten Wohnungslosen zudem in die Höhe geschnellt: von 178.000 auf 439.500 Menschen. Schätzungsweise 50.000 Personen leben komplett auf der Straße.
In Immenstadt kannten noch einige Martin H. aus der Vergangenheit. Er war Fliesenlegermeister und beruflich erfolgreich. Er hat weiterhin viel Familie, die sich aber nicht zu seinem Fall äußert. Zurückgekehrt war er, um Kontakt zu seinem Sohn aufzunehmen. Herbert Gruber, Vorstand des Fußballvereins Immenstadt 07, kannte Martin H. noch aus der Jugend. „Er war ein extrem guter Fußballspieler“, sagte er im Gespräch mit der taz. Handwerklich sei er sehr begabt gewesen – „und fleißig, immer mit dabei“. Über die Tat meinte er: „Man denkt, man lebt in einer heilen Welt.“
In aller Stille
Das könnte man in der Tat denken, wenn man durch das schmucke Städtchen geht. Es kommen viele Touristen hierher, und drumherum steigen die Berge des Allgäus auf. Doch allein in Immenstadt hat das Polizeipräsidium Kempten zwölf Intensivtäter im System registriert. Laut Polizeisprecher Holger Stabik sind sie alle – ob freiwillig oder nicht – in einem Programm, in dem der Kontakt zur Jugendhilfe hergestellt und ihnen „ins Gewissen geredet“ wird. Man zeige: „Wir haben dich auf dem Schirm.“ Kriminelle Karrieren sollen so unterbrochen werden.
Der 17-Jährige Tatverdächtige sitzt weiterhin in U-Haft. Er wird von einem Anwalt vertreten und macht keine Angaben zur Tat. Martin H. ist am 22. Mai in Sonthofen beerdigt worden, neun Kilometer von Immenstadt entfernt, wo auch andere Familienmitglieder bestattet sind. Die Trauerfeier fand in aller Stille statt.
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