Anklage gegen Boliviens Ex-Präsidentin: „Putsch 2“ vor Gericht
Boliviens Ex-Präsidentin Áñez muss sich ab Donnerstag vor Gericht verantworten. Kam sie rechtmäßig ins Amt? Ein fairer Prozess ist zweifelhaft.
Der Prozess ist schon jetzt eine Posse. Beim ersten Anlauf war die Verteidigung nicht fristgerecht geladen worden. Dieses Mal vergaß das Gericht laut Áñez’ Verteidigung die Zeug*innen. Das sind nur einige der Formfehler, die diese bemängelt hatte. Die mündliche Anhörung von Añez findet laut ihrem Anwalt virtuell statt, was gegen das „Unmittelbarkeitsprinzip“ verstoße.
Staatsanwaltschaft und Justiz in Bolivien orientieren sich stark an der jeweiligen Regierung und werden zur Verfolgung politischer Gegner*innen benutzt. Diese fehlende Unabhängigkeit kritisierten unter anderem die US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch und die Vereinten Nationen – im fallen gelassenen Fall der Anklagen gegen den früheren Präsident Evo Morales ebenso wie im Fall Áñez.
Zur Erinnerung: Der linksgerichtete indigene Präsident Evo Morales wollte sich im Oktober 2019 zum vierten Mal wieder wählen lassen. Die Kandidatur war umstritten, die Wahl von Manipulationsvorwürfen überschattet. Morales erklärte sich ohne Stichwahl zum Wahlsieger. Darauf gingen Tausende auf die Straßen und forderten erst eine Stichwahl, schon bald aber Morales’ Rücktritt wegen Wahlbetrugs.
Offene Fragen
Im November meuterten erste Polizisten und auch das Militär legte ihm den Rücktritt nahe. Morales kam dem schließlich nach und floh nach Mexiko. Die rechtskonservative Hinterbänklerin Áñez wurde Interimspräsidentin und zog Bibel schwenkend in den Präsidentschaftspalast ein.
Áñez bezog sich damals auf eine Erklärung des Verfassungsgerichts von 2001, wonach ein Machtvakuum bei Nachfolgeproblemen vermieden werden soll. Allerdings lässt auch diese Erklärung Fragen offen.
José Luis Exeni Rodríguez ist Politologe bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in La Paz. Er war Präsident des Nationalen Wahlgerichts und Vizepräsident des Obersten Wahlgerichtshofs. Für ihn steht fest: „Ein verfassungsgemäß gewählter Präsident wurde abgesetzt, das heißt zum Rücktritt gezwungen.“
Exeni sieht außerdem Verstöße bei dem Verfahren zur Ernennung von Übergangspräsidentin Áñez: Das vorgeschriebene Quorum bei der Sitzung sei weder erfüllt noch die Rücktrittserklärung öffentlich verlesen beziehungsweise angenommen worden. Es sei kaum Zeit für eine Debatte gewesen, Áñez sei weder zuerst zur Senatspräsidentin noch anschließend zur Präsidentin gewählt worden. „Es war eine Selbsternennung (autoproclamación).“
Keine Beweise
Waren Morales’ Abgang ein normaler Rücktritt, eine Entmachtung oder ein Putsch? Ging dem ein Wahlbetrug voraus – der so gravierend war, dass er den Ausgang der Präsidentschaftswahl veränderte? Diese Fragen werden bis heute in den bolivianischen Medien und in der Politik diskutiert und es ist fraglich, ob sie sich jemals werden komplett klären lassen.
Exeni sagt: „Bis heute sind der Justiz keine definitiven Beweise präsentiert worden, dass es einen Betrug gab, der das Wahlergebnis entscheidend veränderte.“ Ein Teil der Wahlakten aus Papier wurden, wie auch die fünf regionalen Wahlgerichte, bei den folgenden Unruhen angezündet.
Tatsächlich hat die MAS-Partei bei den Wahlen 2020, der Morales und der jetzige Präsident Luis Arce angehören, noch bessere Ergebnisse geholt, als Morales 2019 gehabt haben soll. Darin sah die Organisation Amerikanischer Staaten ein Indiz für Manipulationen. Dafür, dass Morales kein viertes Mal hätte antreten dürfen, spricht nicht nur sein verlorenes Referendum, sondern seit August 2021 auch eine Resolution des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte.
Jeanine Áñez hat sich auf Twitter beklagt, dass all ihre Rechte verletzt würden. In Haft soll sie mangelhaft medizinisch versorgt worden sein, unternahm angeblich einen Selbstmordversuch und begann einen Hungerstreik. Das EU-Parlament nominierte sie wohl auch deshalb für den Sacharow-Preis für geistige Freiheit.
Doch zur Heldin taugt sie wenig: Während ihrer Präsidentschaft sind – gedeckt durch ein von ihr unterzeichnetes Dekret, das den Sicherheitskräften Straffreiheit zusicherte – zwei offiziell von der Interdisziplinären Gruppe Unabhängiger Experten anerkannte Massaker in Sacaba und Senkata verübt worden. 37 Menschen starben. Die rechtliche Aufarbeitung dieser Fälle, für die Áñez ebenfalls Verantwortung übernehmen muss, gerät wegen der beiden Putsch-Prozesse ins Hintertreffen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos