Psychologe über Hamburger Messerangriff: „Der Vorfall war nicht vorhersagbar“
Die Verdächtige der Messerattacke wurde kurz zuvor aus der Klinik entlassen – in die Obdachlosigkeit. Kein Einzelfall, meint Psychologe Thomas Bock.

taz: Herr Bock, am vergangenen Freitag gab es am Hamburger Bahnhof einen Messerangriff. Die mutmaßliche Täterin, eine 39-jährige Frau, soll wahllos auf Wartende eingestochen haben. 18 Menschen wurden verletzt, manche lebensgefährlich. Hätte die Tat verhindert werden können?
Thomas Bock: Das kann niemand sicher beantworten. Was passiert ist, war ein in jeder Hinsicht ungewöhnlicher Vorgang. Als Täterin passt die Frau nicht in bekannte Muster und Stereotype. Es gab kein politisches Motiv, keinen Migrationshintergrund, keine Horde alkoholisierter junger Männer und keinen Drogenkonsum. Sicher ist, für den mir vertrauten Bereich psychischer Erkrankungen: Wer so unvermittelt gefährlich wird, muss sich enorm bedroht fühlen.
taz: Was ist über die mutmaßliche Täterin bekannt?
Bock: In den Medien heißt es, sie sei „im psychischen Ausnahmezustand“ gewesen, mehrfach in psychiatrischer Behandlung, zuletzt in einer niedersächsischen Klinik. Es wird die Diagnose einer schizophrenen Psychose genannt. Erst einen Tag vor der Tat war sie entlassen worden, in die Obdachlosigkeit. Eine menschliche Tragödie, die viele Fragen aufwirft, zunächst diese: Warum wird eine offenbar Psychose-erfahrene Frau so „ins Nichts“ entlassen?
ist der Gründer und ehemaliger Leiter der Psychosenambulanz am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf. Mit Dorothea Buck entwickelte er die Idee des Trialogs zwischen Betroffenen, Angehörigen und Behandlern.
taz: Ja, warum?
Bock: Laut Klinik habe es keine medizinischen Gründe gegeben, sie zu behalten. Aber was ist mit sozialen Gründen? Was ist mit der Fürsorgepflicht? Wir sollten uns fragen, ob Obdachlosigkeit im psychischen Ausnahmezustand wirklich freie Wahl sein kann.
taz: Wer wäre denn verantwortlich?
Bock: Das Problem ist jedenfalls nicht allein den Kliniken anzulasten. Die dramatische Zunahme obdachloser, psychisch erkrankter Menschen spiegelt ein gesellschaftliches Problem und ein politisches Versagen. In manchen Berliner Kliniken werden bis zu 50 Prozent der Patient*innen in die Obdachlosigkeit entlassen. Oft fehlt die verbindliche Übernahme gemeinsamer Verantwortung. Betreute Wohneinrichtungen veranlassen Einweisungen in die Psychiatrie, nehmen ihre Bewohner*innen aber nicht zuverlässig zurück. Psychiatrische Akutstationen quellen über, finden keinen Ort, wohin die Entlassenen gehen können. Vor allem aber fehlt Wohnraum.
taz: Was bedeutet die Diagnose „Psychose“ überhaupt?
Bock: Das heißt, sozusagen durchlässig zu werden, zumindest vorübergehend. Das ist, als würde die eigene Haut nicht mehr schützen. Innen und außen lassen sich nicht mehr richtig trennen, innere Dialoge können zu fremden Stimmen werden, äußere Ereignisse filterlos eindringen.
taz: Was heißt das, in so einem Zustand wohnungslos zu sein?
Bock: Die eigene Wohnung, das eigene Zimmer, unser Zuhause, das ist unsere zweite Haut, unser Schutzraum. Obdachlos zu sein, heißt, all das nicht mehr zu haben. Den Blicken aller ausgesetzt zu sein, sich nicht mehr abgrenzen zu können. Die Angst wird zum ständigen Begleiter, die Paranoia zu Realität.
taz: Sind psychisch erkrankte Wohnungslose eine Gefahr?
Bock: Obdachlosigkeit stellt immer eine Gefährdung dar, allerdings zunächst einmal für die Betroffenen selbst. Menschen mit psychischer Erkrankung und erst recht obdachlose Frauen werden sehr viel häufiger Opfer, als Täter – was nicht relativiert, dass diese Frau in ihrer Not schrecklich handelte. Das seltene, aber statistisch etwas erhöhte Risiko, im psychotischen Zustand gewalttätig zu werden, betrifft weniger Fremde und eher das persönliche Umfeld. Denn ohne das Gefühl eigener Grenzen kann Nähe wie Eindringen wirken.
taz: Was würde helfen?
Bock: Wir brauchen Kliniken, die auch nachgehend und aufsuchend tätig werden, Wohneinrichtungen mit regionaler Verpflichtung. Dazu eine enge Kooperation mit der Wohnungslosenhilfe mit einem großzügigen Housing-First-Programm, also schützender Wohnraum als erste Priorität.
taz: Ist das mit den vorhandenen Ressourcen überhaupt möglich?
Bock: Wir leisten uns in Deutschland ein Hilfesystem, das auf der einen Seite zu niedrigschwellig ist. Wenn jede seelische Not gleich zur Erkrankung erklärt wird, um überhaupt Hilfe zu bekommen, gerät es unter Druck. Gleichzeitig ist es für diejenigen, die am dringendsten Hilfe benötigen, zu hochschwellig: Wir schaffen es nicht, mit einer kontinuierlichen Beziehungskultur Menschen in größter Not Halt zu geben – und schon gar nicht, Grundrechte wie Wohnen zu sichern.
taz: Im Januar, nachdem ein psychisch Kranker in Aschaffenburg ein Kleinkind und einen Erwachsenen getötet hatte, forderte die Innenministerkonferenz, den Schutz von Patient*innendaten bei psychischer Erkrankung aufzuweichen. Die Sicherheitsbehörden sollten leichter Zugang zu solchen Informationen bekommen. Hätte das hier geholfen?
Bock: Der Vorfall in Hamburg war so ungewöhnlich, dass ihn keine Statistik hätte vorhersagen können. Würden wir alle psychisch Erkrankten registrieren, wäre fast ein Drittel aller Einwohner in Deutschland betroffen und stigmatisiert. Diejenigen, die Hilfe am dringendsten brauchen, könnte das noch mehr abschrecken, sie aufzusuchen. Informationsaustausch muss aber möglich sein – im Notfall auch mit den Sicherheitskräften. Aber nicht mit dem Ziel der Ausgrenzung und der Verschiebung von Verantwortung, sondern dem der gemeinsamen Zuständigkeit.
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