Angriffskrieg gegen die Ukraine: Krieg fernab der Front

In einer groß angelegten Angriffsserie bombardiert Russland mehrere Städte in der Ukraine. In Kiew schlagen nach Monaten wieder Raketen ein.

Männer stürzen an einem brennenden Auto vorbei

Brennende Autos im Kiewer Zentrum nach den jüngsten Militärschlägen Russlands am 10. Oktober 2022 Foto: Gleb Garanich/reuters

BERLIN taz | Brennende Autos auf dem Schewtschenko-Boulvard unweit der Kiewer Schewtschenko-Universität haben am Montagvormittag den Verkehr in Kiews Innenstadt zum Erliegen gebracht. Schwarzer Rauch lag über der Stadt. So sah das Epizentrum der russischen Angriffe auf die ukrainische Hauptstadt zu diesem Zeitpunkt aus. Über hundert Raketen und Drohnen überfielen die meisten größeren Ortschaften der Ukraine. Zum ersten Mal seit dem 26. Juni wurde auch die Hauptstadt Kiew wieder Opfer russischer Luftangriffe. Dies berichtete Jurij Ignat vom Oberkommando der ukrainischen Streitkräfte gegenüber ukrainischen Medien.

„Ich war gerade auf dem Weg zu einer Routineuntersuchung im Krankenhaus“, berichtet auch die Kiewer Rentnerin Nadia Cholost der taz am Telefon, „als es fürchterlich krachte. Ich sah, wie Häuser zitterten. Im Krankenhaus angekommen, stand ich vor verschlossenen Türen.“ Nur Notfälle würden behandelt, hieß es dort. Als sehr schwierig gestaltete sich sodann der Weg nach Hause, seien doch nach den ersten Einschlägen keine Busse mehr gefahren. „Glücklicherweise konnte ich mit einem anderen Patienten im Auto ein Stück fahren“, erzählt sie. Zu Hause angekommen, habe sie sich sofort in einen Keller begeben. Sie hatte Glück. Allein im Kiewer Stadtteil Schewtschenkiwsk wurden 8 Menschen getötet und 24 weitere Zivilisten verwundet, so der Berater des ukrainischen Innenministers, Rostyslav Smirnov.

Auch in Poltawa, das bisher von russischen Luftangriffen weitgehend verschont geblieben war, gingen Raketen nieder. „Wir haben uns sofort auf den Weg in den Keller gemacht“, berichtet Maxim, ein 16-jähriger Schüler der taz. „Und im Keller haben wir uns weiter unterhalten und sogar gelacht. Angst hatten wir keine.“ Doch hätten sich ältere Bewohner von Poltawa über so viel Leichtsinn mokiert und die Jugendlichen zur Ruhe ermahnt.

Auch in dem bisher vom Krieg verschonten Konotop krachte es, ein Umspannwerk wurde beschädigt. Vielerorts war der Strom ausgefallen.

In den Schulen wieder Homeoffice eingeführt

„Sie wollen uns vernichten“, erklärte Präsident Wolodomir Selenski, „uns alle“

In Lwiw wurde auch das Stromnetz angegriffen, zeitweise war ein Drittel der Ampeln außer Betrieb. Vor den Tankstellen bildeten sich riesige Schlangen. Es gibt bereits erste Berichte von Fluchtbewegungen von den Städten auf das Land.

In Charkiw war der Strom ausgefallen, in Saporischschja berichteten Bewohnerinnen der taz von einer nicht funktionierenden Wasserversorgung.

Landesweit wurde in den Schulen wieder Homeoffice eingeführt. Doch wird dies angesichts der schwankenden Internetverbindungen nur eingeschränkt funktionieren. Kiews Bürgermeister Klitschko rief die Bewohner der Stadt auf, sich Vorräte zuzulegen und warme Kleidung bereitzuhalten.

Auch in Donezk trafen die russischen Luftangriffe die Bevölkerung. Nach Angaben des oppositionellen ukrainischen Internet-Portals strana.news attackierte ein Geschoss eine Sekundarschule im Kalininsky-Bezirk. Dabei seien mehrere Räume und die Turnhalle zu Schaden gekommen und einige Fenster zu Bruch gegangen.

Grafik zeigt die Ukraine
Ukraine erteilt Verhandlungen mit Russland eine Absage

Schwierigkeiten mit dem Trinkwasser gibt es auch in Energodar, dem Standort des AKW Saporischschja. In Saporischschja aber war es ruhig. 20 Menschen waren dort in der vergangenen Woche bei russischen Luftangriffen ums Leben gekommen. „Sie wollen uns vernichten“, erklärte der ukrainische Präsident Wolodomir Selenski, „uns alle.“ Gleichzeitig forderte er die Bevölkerung auf, weiter in den Schutzräumen zu verbleiben.

Wenig Hoffnung auf Unterstützung durch die staatlichen Stellen hat der in Odessa lebende Blogger Wjatscheslaw Asarow. Nun gelte es, für die Zukunft gewappnet zu sein, meinte er auf Telegram. Letztendlich sei es sinnvoller, auf Nachbarschaftshilfe zu vertrauen als auf den Staat. „Das Wichtigste ist jetzt, die horizontalen Beziehungen wiederherzustellen. Wer mit seinem Nachbarn, seinen Freunden oder Verwandten Streit hat, soll diesen bereinigen.“ Denn wenn ein Haus einstürze, seien es vor allem die Leidensgenossen aus der Nachbarschaft, auf die man setzen könne. Das habe man auch bei den Angriffen auf Mariupol erkennen können.

Unterdessen hat die Ukraine jeglichen Bestrebungen nach Verhandlungen mit Russland eine Absage erteilt. In einer Reaktion auf einen Vorschlag des rumänischen Außenministers Vasile Dyncu für Friedensgespräche erklärte David Arahamia, der mehrmals für die Ukraine Verhandlungsleiter bei Gesprächen zwischen Russland und der Ukraine war, auf Telegram: „Wir sind bereit, mit westlichen Ländern zu verhandeln, allerdings nur über unseren baldigen Beitritt zur Nato. Dies ist das einzige Thema, über das wir derzeit sprechen können. Bei derartigen Verhandlungen ist Russland überflüssig. Die kollektive Sicherheit der Ukraine und ihre starken Streitkräfte sind die einzige Garantie für den Frieden auf dem europäischen Kontinent. Deshalb sollten die Verhandlungsbemühungen des Westens in diese Richtung gelenkt werden.“

Auch Michail Podoljak, Berater des Chefs der Präsidialadministration, ist gegen Verhandlungen. Auf Twitter schlug er folgende Vorgehensweise bei Verhandlungen vor: „Als Erstes sollen Fotos und Videos von Massengräbern angesehen werden. Dann ist über den Vorschlag an den Kreml über einen Truppenabzug zu diskutieren und in einem dritten Schritt muss ein Tribunal gebildet und müssen Kriegsverbrecher ausgeliefert werden.“

Türkei als Vermittler von Friedensgesprächen

In der vergangenen Woche hatte sich auch die Türkei als Vermittler von Friedensgesprächen angeboten. Istanbul könnte ein Ort für Gespräche zwischen Russland und vier westlichen Ländern – Deutschland, Frankreich, Großbritannien und den USA – werden, hatte Ismail Emrah Karayel, Vorsitzender des Gemischten Parlamentarischen Ausschusses Türkei-EU, gegenüber RIA Novosti erklärt.

Unterdessen fragt sich der Blogger Wjascheslaw Asarow, warum westliche Botschaften vor der Bombardierung der Krim-Brücke ihre Bürger aufgefordert hatten, die Ukraine dringend zu verlassen? „Haben sie schon gewusst, dass es so kommen wird?“

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