Angriffe bei „Querdenken“-Protest: Neue Normalität
Am Samstag wurden bei einer verbotenen „Querdenken“-Demo in Berlin Journalist:innen angegriffen und verletzt. Beteiligt waren Neonazis.
„Wurf einer vollen Getränkedose auf einen Journalisten.“ „Journalist zu Boden geprügelt.“ „Demo-Teilnehmer spuckt Journalistin ins Gesicht.“ „Kamerateam wird mit ‚Lügenpresse‘-Rufen beschimpft.“ Steinwürfe. Verbale Attacken. Körperliche Angriffe.
Diese Nachrichten beschreiben nur einen Bruchteil dessen, was Pressevertreter:innen seit nunmehr anderthalb Jahren am Rande von „Querdenker“-Protesten und Coronaleugner-Demonstrationen widerfährt. Die Gewalt gegen Journalist:innen nimmt massiv zu. Bereits im vergangenen Jahr ging ein großer Teil der Angriffe auf Journalist:innen von „Querdenker“-Demos aus. Insgesamt 252 Angriffe auf Journalist:innen waren es in Deutschland, wie aus einer Kleinen Anfrage der Grünen an die Bundesregierung von Januar 2021 hervorgeht. Die Dunkelziffer dürfte höher sein.
Am vergangenen Samstag kam es in Berlin nun erneut zu Angriffen. Trotz Verbots versammelten sich Anhänger der „Querdenken“-Szene. Sie zogen stundenlang durch verschiedene Bezirke der Stadt, auch ein Autokorso fuhr ab Mittag durch Berlin. Die Polizei sei an diesem Tag den Ereignissen hinterhergelaufen, sagt Jörg Reichel, Geschäftsführer der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) der Verdi in Berlin-Brandenburg, der taz.
Fünf Angriffe auf Journalist:innen zählt Verdi an diesem Samstag in Berlin. Einer der Betroffenen ist Julius Geiler, Reporter beim Tagesspiegel. Seit anderthalb Jahren berichtet er regelmäßig von den Protesten. Am frühen Nachmittag wurde in Berlin-Friedrichshain ein spontaner Demozug von der Polizei gestoppt. Geiler machte am Straßenrand Videoaufnahmen von einer Gruppe um den bekannten Rechtsextremisten Amin K. Er hörte, wie die Gruppe Pläne machte, Verdi-Journalistengewerkschafter Reichel anzugreifen, der ebenfalls vor Ort war und bereits im August bei „Querdenken“-Protesten geschlagen wurde. So erzählt es Geiler der taz. Geiler sei daraufhin von einer Person das Handy entrissen worden. „Ziel war es eindeutig, die Berichterstattung zu behindern. Gleichzeitig handelt es sich um einen Raub, weil der Täter versuchte, mit dem Handy zu flüchten“, sagt Geiler. Die Polizei stellte den Täter später und nahm ihn fest. Gegen ihn wurde ein Ermittlungsverfahren wegen versuchten räuberischen Diebstahls eingeleitet.
Angreifer identifiziert
Weitere Pressevertreter, die in dieser Situation zu intervenieren versuchten und die Geiler zu Hilfe kamen, wurden ebenfalls attackiert. In mehreren Videos, die Geiler selbst auf Twitter teilte und die den Angriff aus verschiedenen Perspektiven zeigen, sieht man Angreifer, die mit Fäusten auf die Unterstützer losgehen.
Kurze Zeit später kam es an einem weiteren Ort zu einer Attacke. Eine Gruppe Neonazis stürzte sich auf Medienvertreter. Zwei von ihnen sollen dabei verletzt worden sein.
Mittlerweile wurden Teile der Angreifer von Szenekennern identifiziert. Die zweite Tätergruppe soll Division MOL zuzuordnen sein, einer Jugend-Neonazigruppe aus Strausberg bei Berlin, die der rechtsextremen Kleinpartei III. Weg nahesteht. Die Männer, die Tagesspiegel-Reporter Geiler und weitere Kollegen angriffen, wurden als Rechtsextremisten identifiziert. Sie agierten, so schreibt Geiler, gemeinsam mit dem Berliner Neonazi Amin K.
Einzelne in den Fokus gerückt
Die Geschehnisse vom Wochenende sind erschütternd. Bei der Betrachtung und Einordnung bleibt jedoch wichtig zu betonen, dass diese Gewalt nicht neu ist. „Übergriffe auf,Querdenker'-Demos passieren ständig“, sagt Geiler. Als Reporter kenne man das schon. Vielleicht ist dieser Umstand genau das Dramatische an der Sache. Wer am Rande dieser Proteste berichtet, stellt sich auf Übergriffe ein. Die Gewalt wird so zur neuen Normalität.
Eine neue Dimension bemerke Geiler aber doch auch: Die Aggression habe etwas zugenommen und Journalisten würden als einzelne Personen stärker in den Fokus gerückt. Und noch etwas anderes fällt auf, und zwar nicht auf der Seite der Betroffenen, sondern bei den Angreifern: Wo es sonst überwiegend einzelne Personen sind, die am Rande von Demonstrationen Müll auf Journalist:innen werfen, die sie beschimpfen, mal eine Hand vor die Kamera halten oder körperlich angreifen, war es im Falle des vergangenen Samstags auch eine Gruppe, die aktiv wurde. Gewerkschafter Reichel sieht darin einen kleinen qualitativen Sprung im Bezug auf diese Angriffe. Bedrohungen und Bedrängungen habe es immer gegeben, sagt er. Aber: „Die zweite identifizierte Gruppe, Division MOL, war bislang als Gruppe nicht durch körperliche Angriffe auf Journalisten sichtbar.“
Die Aggressionen gegen Pressevertreter:innen haben auf „Querdenken“-Demonstrationen ein neues Ventil gefunden. Rechtsextreme Gruppen wie der III. Weg, andere Neonazis und Reichsbürger treffen dort regelmäßig auf ein Umfeld der Akzeptanz. Hier tanzt barfuß ein Hippie, dort spielen Kinder einer Impfgegner-Familie aus Baden-Württemberg und zwei Meter weiter werden Fahnen rechtsradikaler Gruppen geschwenkt. Wo sich Coronaleugner, Impfgegner und „Querdenker“ treffen, war das bislang eben möglich. Rechtsradikale Gruppen waren von Beginn an auf „Querdenker“-Demonstrationen aktiv und sichtbar, sagt Reichel. „Sie standen in der Demo und am Rande und wurden von den anderen,Querdenkern‘ toleriert.“
Bewusst akzeptiert
Diese Toleranz ist es, die Angriffe unter anderem auch möglich macht. Julius Geiler drückt es so aus: „Solche Angriffe passieren, weil sie sich in der Masse sicher fühlen.“
Wenn Journalist:innen von rechtsradikalen Gruppen gezielt angegriffen und bei ihrer Arbeit behindert werden, ist das nicht nur staatliches Versagen. Nicht nur die Polizei ist zu verurteilen, weil sie nicht ausreichend Schutz gewährleistete. Das Versagen fand schon viel früher statt, als es ein gewisser Teil der Gesellschaft akzeptabel fand, diese Menschen bei ihrem Protest mitlaufen zu lassen und ihre Anwesenheit ganz bewusst zu normalisieren.
Wer über die Ursachen der Gewalt und Übergriffe gegen Medienvertreter:innen spricht, darf das nicht verschweigen.
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