Angriff auf Hilfskonvoi: Im falschen Film
Israel muss nach dem Auftauchen eines Videos seine Angaben zur Tötung von 15 Rettungskräften in Gaza revidieren. Auch die übrige Erzählung wirft Fragen auf.

Der Bildschirm wird schwarz, doch das Telefon nimmt noch minutenlang Schüsse auf. Immer wieder spricht der Filmende, mutmaßlich der 36-jährige Radwan, Abschiedsgebete: „Mutter, vergib mir. Ich habe diesen Weg gewählt, weil ich Menschen helfen wollte. Gott vergib mir.“ Eine Woche später wurde er mit einem Kopfschuss aus einem Massengrab gezogen.
Nach der Veröffentlichung des Videos durch die New York Times musste die israelische Armee ihre Darstellung korrigieren. Zuvor hatte ein Sprecher behauptet, der Konvoi habe sich ohne Beleuchtung, Koordinierung und „auf verdächtige Weise“ Soldaten genähert. Diese Darstellung ist nun offenkundig widerlegt. Doch auch die übrige Erzählung der Armee, der Angriff habe Hamas-Terroristen gegolten, wirft Fragen auf.
Von Anfang an: Am 23. März erhielt die Koordinierungsstelle des Roten Halbmondes (PRCS) im Gazastreifen laut Sprecherin Nebal Farsach einen Notruf nach einem israelischen Bombenangriff auf eine Unterkunft in Rafah. „Es wurden zwei Rettungswagen von zwei Stationen losgeschickt, doch zu einem brach kurz darauf der Kontakt ab.“
An Bord: Der 27-jährige PRCS-Sanitäter Munther Abed. Er überlebte vermutlich als Einziger und schildert am Telefon aus Chan Junis seine Eindrücke: Er sei im britischen Feldlazarett in Chan Junis stationiert gewesen und gegen 4 Uhr morgens mit seinen Kollegen Mustafa und Ezzedin Schaath zu einem Notruf in der Haschaschin-Nachbarschaft Rafahs aufgebrochen. Die Signalleuchten waren eingeschaltet. Plötzlich gerieten sie unter Beschuss. „Ich habe mich hinten auf den Boden geworfen, während ich vorne meine Kollegen sterben hörte, bevor alles still wurde und die Lichter ausgingen.“
Beweise für eine Terroristen-Tötung legt Israel nicht vor

Kurz darauf hätten israelische Soldaten mit Sturmgewehren und Nachtsichtgeräten die Tür geöffnet und ihn festgenommen. Er habe sich bis auf die Unterhose ausziehen müssen, sei gefesselt und verhört worden. In Gefangenschaft habe er gesehen, wie weitere Zivilschutz- und Sanitätsfahrzeuge eintrafen und nacheinander beschossen wurden.
Die PRCS-Einsatzzentrale versuchte laut Sprecherin Farsach über eine Stunde, Kontakt zu Abeds Krankenwagen herzustellen. Schließlich entdeckte ein Rettungswagen das unter Beschuss geratene Fahrzeug und alarmierte die Leitstelle. Daraufhin brach der Konvoi aus dem Video auf: drei Rettungswagen, zwei Zivilschutzfahrzeuge und ein Feuerwehrfahrzeug.
In ihrer Richtigstellung vom Samstag bestreitet die Armee, dass es sich um ein Massaker oder eine Hinrichtung gehandelt habe, wie das Video nahelegt. Die Besatzung eines ersten Wagens habe aus Hamas-Polizisten bestanden, der Konvoi habe sich „auf verdächtige Weise“ genähert. Unter den Toten des Konvois seien „sechs Terroristen“ gewesen. Beweise dafür legte der Sprecher nicht vor. Der Name des angeblich getöteten Hamas-Kämpfers Amin Ibrahim Schubaki, der am Terrorangriff vom 7. Oktober beteiligt gewesen sein soll, taucht nicht unter den 15 erschossenen Rettungskräften auf. Auch die Frage, was am Verhalten der Rettungskräfte „verdächtig“ gewesen sei, blieb unbeantwortet. Der Fall werde untersucht und dem Generalstab vorgelegt.
Der Angriff wirft weitere Fragen auf: Die Rettungswagen sollen ihren Einsatz nicht mit der Armeeführung koordiniert haben. Doch die Nachbarschaft Tel Sultan wurde erst am Morgen des 23. März um 8.31 Uhr von Armeesprecher Avichai Adraee zum Kampfgebiet erklärt. Zudem beklagen Hilfsorganisationen, dass die Armee seit Wiederaufnahme der Angriffe die Koordinierung humanitärer Fahrten im Gazastreifen teilweise verweigere.
Auch der Rettungswagen wurde vergraben
Alle Schüsse seien laut der Armee aus der Ferne abgegeben worden. Berichte von Bergungskräften und einem palästinensischen Forensiker widersprechen dem. Der Gerichtsmediziner Ahmad Dhaher, der nach dem Angriff fünf der Toten untersucht hat, sagt am Telefon: „Alle bis auf einen wurden mit mehreren Kugeln getötet.“ Erste Untersuchungen würden nahelegen, dass sie exekutiert wurden. Die Schüsse seien sehr gezielt und auf bestimmte Körperteile gerichtet gewesen und wahrscheinlich „nicht aus der Ferne“ abgegeben worden. Allerdings schränkt Dhaher ein, dass die Leichen teils verwest waren, was eine klare Beurteilung erschwere. Ob die Opfer vorher festgehalten oder gefesselt wurden, ließ sich nicht feststellen.
Dass die Armee sowohl die Leichen als auch die Rettungswagen nach dem Angriff im Sand vergraben hat, sorgt für weitere Irritation. Laut einem Sprecher geschah dies, um die Toten vor wilden Tieren zu schützen. Warum auch die Fahrzeuge von Bulldozern zerstört und vergraben wurden, bleibt ungeklärt. Nach dem Angriff habe die Armee den Vereinten Nationen sofort den Ort mitgeteilt und sie zur Bergung aufgefordert, erklärte der Sprecher. Diese Darstellung widerspricht jedoch den Angaben von PRCS und UNO, die erst eine Woche später zum Ort gelangten.
Der 23. März war laut Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften der tödlichste Angriff auf Mitarbeiter seit 2017. Ein Einzelfall ist er nicht: Seit Kriegsbeginn wurden 27 PRCS-Mitarbeiter getötet. Laut UN starben in den vergangenen 18 Monaten 408 ihrer Mitarbeiter bei Angriffen in Gaza.
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