Angela Merkel tritt ab: Die heimliche Revolutionärin

Die schafft das nie, meinten manche, als Merkel 2005 Kanzlerin wurde. Aber sie hat mehr bewirkt, als viele glauben – besonders in der Frauenpolitik.

Angela Merkel bei ihrer ersten Vereidigung im Bundestag 2015

Hat viel für Frauen gemacht. Angela Merkel bei ihrer Vereidigung 2005 Foto: Fritz Reiss/ap

Nun ist sie also wirklich bald weg. Am Donnerstag hat die Bundeswehr Angela Merkel verabschiedet, nächste Woche wird Olaf Scholz zum Kanzler gewählt. Seit Merkel nach der Bundestagswahl ihre Abschiedsrunden im Ausland drehte, wurde immer wieder deutlich, wie sie andernorts geschätzt wird: als moderierende, rationale Krisenmanagerin.

Hierzulande gehen die Menschen meist weniger schmeichelhaft mit Merkel um. Ihre politische Führungskraft sei überschätzt, findet der Wirtschaftsjournalist Wolfgang Münchau. Mit dem Titel „Es ist gut, dass Merkel vor dem Abschied steht“ kommentierte die Süddeutsche Zeitung Merkels bevorstehenden Abgang. Vor allem im Osten häuften sich zuletzt die „Merkel muss weg“-Rufe.

Dabei wird vergessen, dass Angela Merkel etwas Einzigartiges geschafft hat: Sie ist Deutschlands erste Bundeskanzlerin und die erste Ostdeutsche im Amt dazu. Merkel kam aus einem Land, dem ein Demokratieverständnis bis heute zuweilen abgesprochen wird, und in dem das Verdienst der weiblichen Emanzipation vielfach nicht den Frauen zugeschrieben wurde, sondern dem DDR-Verdikt der Vollerwerbstätigkeit.

Und sie kam in ein Land, das Frauen auf allen gesellschaftlichen Ebenen benachteiligt. Die schafft das nie, orakelten viele, als Merkel 2005 Gerhard Schröder aus dem Kanzlersessel kickte. Die Republik war damals eine machohafte, dünkelhafte politische Elite gewohnt. Wie soll eine Frau aus dem Osten damit umgehen?

Merkel ging damit um. In 30 Jahren politischer Praxis wurde aus „Kohls Mädchen“ eine „Teflonkanzlerin“ und die „Flüchtlingskanzlerin“, die „Mutti“, „Leader of the free world“ und schließlich die „ewige Kanzlerin“. Sie hat sich beharrlich von der Frauen- zur Umweltministerin und von der Generalsekretärin zur Parteivorsitzenden der CDU und schließlich ersten Bundeskanzlerin hochgearbeitet.

Der Aufstieg dieser Frau aus der Uckermark wäre ohne eine Modernisierung der Gesellschaft indes nicht möglich gewesen. Eine Frau an der Spitze des Staates war vor dem Mauerfall undenkbar. Der emanzipatorische Schub, den vor allem Ostfrauen ins wiedervereinte Land brachten, hat mit dazu beigetragen, dass sich das änderte. Gleichzeitig hat Merkel der Gesellschaft ein Update verpasst – und das stärker, als es manchen bewusst ist.

Durch ihre unprätentiöse Art zeigte sie, dass man sich als Ostdeutsche nicht dem Westen anpassen muss

In ihrer Amtszeit wurden für damalige Verhältnisse so revolutionäre Dinge eingeführt wie das Elterngeld und die Vätermonate, Quoten für Aufsichtsräte und Vorstände, die Homo-Ehe und ein Entgelttransparenz-Gesetz, das helfen soll, die noch immer schlechtere Bezahlung von Frauen zu beheben. Unter Merkel wurde das Scheidungs- und Unterhaltsrecht reformiert, damit Frauen nach der Elternzeit leichter in den Job zurückkehren können und nicht auf lange Sicht ein Dasein in Teilzeit oder als Vollzeitmutti fristen müssen – in finanzieller Abhängigkeit vom Mann.

In der Ära Merkel wurde der Gender-Care-Gap, der unterschiedliche Zeitaufwand zwischen Frauen und Männern bei unbezahlter Sorgearbeit, ins Bewusstsein gerückt, und mit „Nein heißt Nein“ das Sexualstrafrecht verschärft. Welcher frühere Kanzler kann sich einen solchen gesellschaftlichen Umbruch auf die Fahnen schreiben?

An dieser Stelle muss betont werden, dass Merkel Mitglied der CDU ist, einer wertkonservativen, besitzstandswahrenden und vor größeren Umbrüchen zurückscheuenden Partei. Man muss sich nur Helmut Kohl in Erinnerung rufen mit seiner Vorliebe für Pfälzer Saumagen – und seiner Bräsigkeit, seiner Provinzialität und seinem patriarchalen Auftreten in seinen Jahren als Kanzler.

Immer noch Ehegattensplitting

Natürlich ist vieles offen geblieben. Das Ehegattensplitting, das die Einverdiener-Ehe steuerlich fördert, gibt es noch immer. Frauen werden nach wie vor schlechter bezahlt als Männer; die Folge sind miese Renten für Frauen. Und die zwischen Frauen und Männern ungerechte Verteilung von Sorgearbeit wird die Sozialdebatten der kommenden Jahre bestimmen.

Zudem hat Merkel die Modernisierung nicht bewusst forciert, sie ließ sie eher geschehen. Sie erkannte, dass sie ihre Macht einbüßen könnte, wenn sie sich gesellschaftlichem Fortschritt verweigerte. Mit der ihr eigenen Unaufgeregtheit und ihrer sachlich-neutralen Art, Politik zu machen, hat Merkel so viel für Frauen und Familien getan wie kaum andere Po­li­ti­ke­r:in­nen zuvor in Deutschland.

Ihr wurde oft vorgeworfen, ihr Frausein nie zum Thema gemacht und stets auf Sachfragen gedrängt zu haben. Doch genau deshalb konnte Merkel nie auf die Frauenrolle reduziert werden. Anders hätte sie – zur damaligen Zeit – nicht Kanzlerin werden und ihre Rolle auf dem internationalen Parkett ausfüllen können.

Sie musste die Banken- und die Eurokrise und zum Schluss die Coronapandemie managen, mit der verstärkten Fluchtmigration umgehen, mit Autokraten wie Putin, Trump und Erdoğan verhandeln, den Rechtsterrorismus bekämpfen und die Klima­kri­se kommunizieren. Knallharte Themen, denen das Geschlecht von Staatsoberhäuptern egal ist.

Dem Osten treu

Ebenso wurde ihr vorgeworfen, zu wenig für die Ostdeutschen getan zu haben. In der Tat schenkte sie den besonderen ostdeutschen Interessen und Problemen keine besondere Beachtung. Sie ging ebenso wenig auf ostdeutsche Befindlichkeiten ein, noch setzte sie etwas daran, die ostdeutsche Wirtschaft speziell zu fördern.

Denn sie war, so sah sie es, Kanzlerin aller Deutschen. Wie hätte wohl die Kritik an Merkel ausgesehen, hätte sie vor allem Menschen zwischen Usedom und Thüringer Wald im Blick gehabt? Aber sie blieb dem Osten auf besondere Weise treu: Durch ihre bodenständige, unprätentiöse Art zeigte sie, dass man sich als Ostdeutsche nicht dem Westen anpassen muss.

Es mag pathetisch klingen: Merkel hat ihre Rolle, die für eine Frau und eine Ostdeutsche komplett neu war, voll ausgefüllt. Um es mit einem ihrer berühmtesten Sätze zu sagen, nur ein wenig umgedeutet: Sie hat es geschafft.

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Ressortleiterin taz.de / Regie. Zuvor Gender-Redakteurin der taz und stellvertretende Ressortleiterin taz-Inland. Dazwischen Chefredakteurin der Wochenzeitung "Der Freitag". Amtierende Vize-DDR-Meisterin im Rennrodeln der Sportjournalist:innen. Autorin zahlreicher Bücher, zuletzt: "Und er wird es immer wieder tun" über Partnerschaftsgewalt.

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