Andrea Nahles und die SPD: Basteln am linken Profil
SPD-Chefin Nahles wirbt vor einer Fraktionsklausur für eine Kindergrundsicherung. Über allem schwebt die Frage: Wer wird Kanzlerkandidat?
Dann widmet sich Nahles dem neuesten Projekt ihrer Partei: einer Kindergrundsicherung. „Wir wollen das kinderfreundlichste Land werden.“ Kinder, die in Hartz IV lebten, sollten bessere Startchancen bekommen, weil sie sie verdienten. Und wenn die Union mauert? „Steter Tropfen höhlt den Stein. Nur munter weiter.“ Nahles lächelt wieder.
Die SPD-Fraktions- und Parteichefin hat es nicht leicht. Das vergangene Jahr war fürchterlich. Das Leiden an der Groko, der Dauerstreit mit Seehofer, der verflixte Fall Maaßen: 2018, so fasste es Juso-Chef Kevin Kühnert zusammen, sei „ein Seuchenjahr“ für die SPD gewesen. Nun soll vieles anders werden: Am Donnerstag und Freitag treffen sich die gut 150 SPD-Abgeordneten zu einer Fraktionsklausur, um sich über die Grundlinien zu verständigen.
Schwerpunkte der Klausur sind die Europa- und die Familienpolitik. Die SPD wolle das Jahr 2019 zu einem Jahr der „Chancen für Kinder und Familien machen“, heißt es in einem Beschlusspapier, das der taz vorliegt. Dies gehe nur, „wenn Kinder-, Familien- und Bildungspolitik im Mittelpunkt unseres politischen Handelns stehen.“ Die gut 150 Abgeordneten sollen das Papier nach der Klausur absegnen.
„Frei von finanziellen Nöten“
Die SPD will dem Wortlaut nach entschiedener gegen Kinderarmut vorgehen. Alle Kinder und Familien sollten „frei von finanziellen Nöten“ selbstbewusst am gesellschaftlichen Leben teilhaben, heißt es in dem Papier. Das Versprechen: „Mit Kinderarmut werden wir uns nicht abfinden.“ Deshalb arbeite die SPD an einer eigenständigen Absicherung für Kinder – und wolle in diesem Jahr ein Konzept vorlegen.
Eine Kindergrundsicherung, die auch von Linkspartei und Grünen gefordert wird, würde Sozialleistungen und Förderungen für Familien bündeln. Nahles bleibt bei der Ausgestaltung erstmal vage. Vor allem sollten Eltern belohnt werden, die arbeiteten, sagt sie im Bundestag. Aber es werde auch geschaut, wo Kinder in Hartz-IV-Familien unterversorgt seien.
Der Kern einer Grundsicherung ist nach allgemeinem Verständnis, dass Kinder aus dem Hartz-IV-System herausgenommen würden. Stattdessen würde eine einzige Transferleistung ihren Grundbedarf abdecken. Der Paritätische Wohlfahrtsverband fordert zum Beispiel eine Grundsicherung in Höhe von 618 Euro. Jene müsste versteuert werden. Gutverdienende Eltern würden also Steuern abführen, Niedrigverdiener könnten den Betrag ganz behalten.
Die SPD sieht eine Grundsicherung als nächsten Schritt auf einem Weg, den sie schon länger geht. Am Mittwoch hatten Familienministerin Franziska Giffey und Arbeitsminister Hubertus Heil ein Gesetz mit dem PR-trächtigen Titel „Starke-Familien-Gesetz“ vorgestellt. Es enthält mehrere Maßnahmen gegen Kinderarmut. Zum Beispiel wird der Kinderzuschlag für einkommensschwache Familien erhöht oder ein kostenloses Mittagessen in Kitas und Schulen für Kinder aus diesen Familien eingeführt.
Neue Töne von den Seeheimern
Die SPD bastelt unter Nahles eifrig an einem linkeren Profil. Selbst der Seeheimer Kreis, der rechte Parteiflügel, wirbt seit Neuestem für einen Mindestlohn von 12 Euro, eine längere Zahlung des Arbeitslosengeld I und für eine weitgehende Abschaffung der Leiharbeit. Mitte Februar fällt zudem die Entscheidung, wie radikal sich die SPD von Hartz IV abwendet. Dann trifft sich der SPD-Vorstand zu seiner Klausurtagung. Nahles hatte im November angekündigt, die SPD werde die unter Gerhard Schröder eingeführte Reform hinter sich lassen.
Umstritten ist vor allem die Frage der Sanktionen: Während Finanzminister Olaf Scholz und Arbeitsminister Heil im Grundsatz an Kürzungen festhalten wollen, wenn Arbeitslose nicht kooperieren, werben SPD-Linke wie Karl Lauterbach oder Juso-Chef Kühnert für deren komplette Abschaffung.
Für Ärger sorgte in der SPD zuletzt eine Debatte über die Kanzlerkandidatur. Scholz hatte in der Bild am Sonntag seine Ambitionen klar gemacht. Er bejahte die Frage der Journalisten, ob er sich die Kandidatur zutraue. Dies werde von einem Vizekanzler erwartet. Der Vorstoß sorgte für Irritationen. „Das Letzte, was die SPD vor der so wichtigen Europawahl braucht, ist es, eine Kanzlerkandidaten-Debatte zu führen“, sagte Sebastian Hartmann, der SPD-Landeschef von Nordrhein-Westfalen, der Funke-Mediengruppe.
Die Frage ist, ob Scholz an Nahles vorbei gehandelt hat. Der oder die Parteivorsitzende entscheidet in der SPD traditionell über die Kandidatur. Gegen einen Alleingang spricht, dass sich beide in wichtigen Fragen eng absprechen und ein gutes Verhältnis pflegen. Scholz lobt Nahles, wo er kann – und umgekehrt. Es ist deshalb auch denkbar, dass beide die K-Frage schon besprochen haben. Nahles weiß, dass sie in Beliebtheitsumfragen regelmäßig schlechter abschneidet als Scholz.
Wer wird Kanzlerkandidat?
Am Donnerstag begrüßt sie ausdrücklich Scholz' Äußerungen. „Das war meiner Meinung nach die richtige Antwort“, sagt Nahles in der ARD. Das gesamte Spitzenpersonal der SPD traue sich viel zu. Aber diese Frage stehe derzeit nicht an, betont sie. Diesen Satz hatte auch Scholz in seinem Interview nachgeschoben. Als weiterer möglicher Kandidat wird auch Niedersachens Ministerpräsident Stephan Weil genannt.
Offen ist, ob die SPD die Kanzlerkandidatur in einer Urwahl klärt. Dann läge die Entscheidung nicht bei Nahles, sondern bei den Parteimitgliedern. Für diese Idee werben zum Beispiel der frühere Kanzlerkandidat Martin Schulz und SPD-Vize Ralf Stegner. Ein solcher Wettbewerb, so ihr Argument, belebe den innerparteilichen Diskurs und wecke in der Öffentlichkeit Interesse für die SPD. Interne Gegner von Scholz liebäugeln damit. Das Kalkül: Scholz könnte es in einer Urwahl schwer haben, weil er bei Vorstandswahlen auf Parteitagen stets schlechte Ergebnisse einfährt.
Nahles verschaffte sich in der brisanten Personalfrage erst einmal Aufschub. Sie kündigte an, dass am Wochenende eine „organisationspolitische Kommission“ eingesetzt werde, die die Frage der Urwahl prüfen solle. Diese Grundsatzfrage werde aber in diesem Jahr nicht mehr entschieden. Damit hält sie sich auch eine eigene Kandidatur offen.
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