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Nahles will BürgergeldVorsichtiges Abrücken von Hartz IV

Die SPD-Chefin ist für ein neues „Bürgergeld“, sagt aber nichts zur Höhe des Regelsatzes. Regelungen zur Sanktionspraxis bleiben unklar.

Geht es zu Ende mit Hartz IV? Und kommt dann das „Bürgergeld“? Foto: dpa

Berlin taz | In der Diskussion um eine Abschaffung von Hartz IV hat sich die SPD-Vorsitzende An­drea Nahles mit einem Debattenbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Samstagsausgabe) zu Wort gemeldet. „Zum Symbol für das Misstrauen des Staates gegenüber den Grundsicherungsbeziehern sind die Sanktionen geworden. Sie wirken, als würde den Leistungsbeziehern von vornherein unterstellt, betrügen zu wollen.“ Dies sei „für alle ehrlichen Personen frustrierend und demotivierend“. Für ein völliges Ende der Sanktionen sprach sich Nahles nicht aus. Wie genau die Sanktionspraxis neu geregelt werden soll, bleibt in dem Artikel unklar. Das „Existenzminimum eines Menschen“ dürfe aber niemals „in Frage gestellt“ werden, so Nahles.

Auch die Regel, dass angespartes Vermögen bis auf einen kleinen Teil ausgegeben oder verkauft werden muss, ehe ein Anspruch auf Hartz IV entsteht, will Nahles ändern: „Wer lange gearbeitet hat, darf daher auch nicht gezwungen sein, seine Ersparnisse zu verbrauchen“, schreibt sie. „Erspartes muss großzügiger geschützt werden.“

„Die neue Grundsicherung muss ein Bürgergeld sein – ein Recht auf Teilhabe für alle Bürgerinnen und Bürger“, schließt der Beitrag. Im Berliner Regierungsviertel wurde ihr Artikel als eindeutige Abkehr der SPD von Hartz IV gelesen: „Wir dürfen und wir werden Hartz IV nicht abschaffen“, entgegnete Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU). „Solche Vorschläge sind hochgefährlich und schaden der Zukunft unseres Landes.“ Die Hartz-Reformen unter Gerhard Schröder seien richtig gewesen, so Altmaier gegenüber der Welt.

Allerdings erscheinen manche Passagen von Nahles’ Artikel wie eine Rechtfertigung der Hartz-IV-Regeln. So heißt es: „Es sind oft gar nicht die Leistungen selbst, die für Verdruss sorgen, sondern die erfahrenen Demütigungen und Stigmatisierungen.“ Dies lässt sich als Plädoyer für die Beibehaltung des jetzigen Hartz-IV-Regelsatzes von 416 Euro lesen, während gleichzeitig ein neues Wort für die Grundsicherung gefunden werden soll – das „Bürgergeld“.

Nahles hatte bereits auf dem Debattencamp der Sozialdemokraten am vorletzten Wochenende angekündigt: „Wir werden Hartz IV hinter uns lassen.“ Die SPD steht unter Zugzwang, nachdem Grünen-Chef Robert Habeck einen noch weiter reichenden Vorschlag zum Ende von Hartz IV gemacht hat. Demnach sollen Sanktionen gänzlich abgeschafft werden, auch der Regelsatz soll – in unbekannter Höhe – steigen. Die Linkspartei will einen Regelsatz von 560 Euro.

Kritik an Nahles’ Text kam am Wochenende von der FDP. Die SPD laufe den Grünen hinterher. Beide Parteien versprächen „Millionen an Sozialtransfers“, sagten aber nicht, „woher das Geld dafür kommen soll“, so der FDP-Vorsitzende Christian Lindner.

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10 Kommentare

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  • Andrea Nahles (SPD): „Es sind oft gar nicht die Leistungen selbst, die für Verdruss sorgen, sondern die erfahrenen Demütigungen und Stigmatisierungen.“

    Das ist ja schon mal lobenswert, dass Frau Nahles einsieht, dass die Demütigungen durch die Jobcenter endlich einmal für 5,7 Millionen Hartz IV Empfänger ein Ende haben müssen.

    „Millionen an Sozialtransfers“, sagten aber nicht, „woher das Geld dafür kommen soll“, so der FDP-Vorsitzende Christian Lindner.

    Christian Lindner könnte ja mal gegenrechnen, was das schon für eine Einsparung wäre, wenn man die BA und ihre Jobcenter mit über 100.000(!) Mitarbeitern verschlanken würde, denn die BA, die einen unglaublichen Bürokratismus betreibt, kostet dem Steuerzahler jährlich einige Milliarden Euro an Gehältern und andere Dinge, die im Jobcenter getan oder auch nicht getan werden. Letztendlich verwalten Jobcenter doch nur noch die steigende Arbeitslosigkeit und die Armut in Deutschland und zwingen Arbeitslose mit § 10 SGB II in Zeitarbeitsfirmen, die sich an dem Elend der Arbeitslosen sogar noch eine goldene Nase verdienen.

    Der kleine Steuerzahler weiß sicherlich auch nicht, dass der Hartz IV Regelsatz an den Freibetrag für die Einkommenssteuerzahler gekoppelt ist, und wenn der Hartz IV Regelsatz nicht erhöht wird, wird natürlich der Freibetrag auch nicht erhöht – und der Staat spart so jedes Jahr zusätzlich 15 Milliarden Euro, die er vom Steuerzahler bekommt (siehe ARD Fernsehmagazin 'Monitor'). Es geht doch gar nicht primär um die Erhöhung des Hartz IV Regelsatzes, sondern um die Einkommenssteuerzahler, wie auch der Sozialwissenschaftler Professor Sell meint.

    Dass der Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) auch ins gleiche Horn stößt, wie der BDI-Präsident Dieter Kempf, ist nicht weiter verwunderlich, denn mit den Hartz Reformen hat Deutschland innerhalb Europas die Stellung als Exportweltmeister erreicht – auch wenn dabei Millionen Menschen auf der Strecke geblieben sind.

  • Bei der zunehmenden Rechtsentwicklung in Deutschland wird aufgeklärte und zivilisierte Beurteilung des Sanktionssystems bei Hartz IV immer unpopulärer werden, zumal selbst in der SPD die völlige Aufgabe von Sanktionen keine Mehrheit finden dürfte. Der Glaube an die "Wirksamkeit" von Zwang und Gängeleien ist leider zu stark verankert in der Gesellschaft. Letztendlich ist das die logische Konsequenz einer Gesellschaft, die das Prinzip der Konkurrenz zur treibenden Kraft erklärt.



    Es gibt von der Propaganda der Nazis über "arbeitsscheues, asoziales Gesindel" bis Hartz IV eine gewisse Kontinuität. Wenn auch mit pseudodemokratischer Verbrämung.

  • Man muss natürlich erst die ausformulierten Rechtsnormen anschauen. Die zugrunde liegende Idee erscheint indes als Schrott, soweit die Leistung nicht wie früher zunächst an die Arbeit anknüpft = ein gutes (hohes) Arbeitslosengeld.

    Der Begriff "Bürgergeld" könnte das Signal dafür sein, dass die Leistung nicht mit der Staatsangehörigkeit verknüpft ist, mithin eine breit gestreute Leistung, die im Grunde keine oder nur sehr wenig Differenzierung zulassen müsste. Deshalb würde sie relativ niedrig ausfallen müssen. Da dies auch nicht geht, u.a. BVerfG, werden wir wohl erneut einem umfangreichen Regelwerk entgegensehen.

    Möglicherweise ändert sich letztlich nichts, außer dass der "Regelsatz" nach oben angepasst wird.



    Dort wird vielleicht noch etwas gestrichen, dort ein Häppchen dazugelegt.



    Arbeitsplätze in der Verwaltung werden verlorengehen.



    Holen wird man Mehrkosten aber wie immer vom s.g. Normalo.



    Sahnehäubchen: zusätzlich zu diesem Bürgergeldmurks noch den Soli abschaffen. Dann kracht's im Haushalt erstmal richtig.



    Gegenzug: Märchensteuer hoch.

    Da passt Ulrike Herrmann: Hurra, wir dürfen zahlen.

  • Die SPD bricht nicht mit ihrer Philosophie, die Arme und Armut als individuelles Vergehen der Armen betrachtet.

    Bei der SPD herrscht immer noch die Idee vor, ein Arbeitsloser habe seine Arbeitslosigkeit selber verursacht und müsse nun hart angefasst werden, damit dieser korrigiert und auf die richtige Spur gebracht wird.

    Das ist die Agenda-Philosophie und die steckt tief in der SPD drinnen, auch im linken Flügel steckt sie ein Stück weit. Warum die SPD die Sicht der Herrschenden, der Reichen und Mächtigen übernommen hat - war sie doch mal der Anwalt der kleinen Leute?

    Das ist eine gute Frage, aber die SPD wird mit einem Debattenartikel nicht aus der Falle rauskommen, dass ihr sehr viele Menschen misstrauen und den nächsten Sozialabbau fürchten, wenn die SPD mal wieder mit den Grünen regieren dürfte.

    Tatsächlich wäre es nur rational, den Irsinn Hartz IV so schnell es geht zu beerdigen. Dieses System führt zu nichts Guten, im Gegenteil in Kombination mit dem liberalisierten Arbeitsmarkt und einem schwachen Wirtschaftswachstum produziert Hartz IV Armut und sorgt für gewerkschaftsfreie Branchen, führt zu niedrigen Löhnen, niedrigen Sozialabgaben.

    Nur Idioten würden Hartz IV loben. Alle damals gemachten Versprechungen haben sich nicht erfüllt. Es sind nicht aus dem Standt Tausende Arbeitsplätze entstanden, die Armut ist größer nicht geringer geworden und viele Kinder und Jugendlichen hängen in diesem System fest und kommen da nicht raus, weil Hartz IV eben kein Sprungbrett nach Draußen ist, sondern die Menschen bleiben meist Jahre hier stecken.

    Und die ehemaligen Arbeitsämter sind jetzt als Jobcenter noch viel schlimmer geworden als früher. Sie sind weder bürgernah, hilfsbereiter, noch wird hier fleißig vermittelt. Aber sanktioniert wird und ständig landen Bescheide bei den Sozialgerichten.

    • @Andreas_2020:

      Es ist eine Frage der Perspektive. Kapitalist*innen freuen sich zumindest über ihre Kapitalerträge. Insofern wird HartzIV von entsprechenden Medien gelobt. Es sei Jobmotor. Es unterstützt das Ideal Arbeit "nur wer arbeitet, kriegt etwas zu essen" (gilt natürlich nicht für Kapitalist*innen ;)) ...

  • Schröders ganzer Stolz war der Niedriglohnsektor, die deutsche Waffe gegen die Konkurrenz in Europa. Der funktioniert aber nur, wenn ausgebeuteten Niedriglöhnern ein noch ärmeres Leben, eben ein gedemütigtes Leben mit Harz4, droht, sonst könnte Verweigerung um sich greifen. Das eben wäre "brandgefährlich" (Altmeier und vermutlich alle Seeheimer IN der spd).

  • Nahles legt mit dem völlig falschen Ansatz los.



    Nicht die Sanktionen sind das Problem. Das wird hochgekocht. Es sind gut 3$ der betroffenen Hartz-IV-Bezieher, die sanktioniert werden. Ebenso ist es schwachsinnig, ausgerechnet den Vermögensfreibetrag erhöhen zu wollen. Es ist ungerecht denen gegenüber, die kein Vermögen ansparen konnten in Zeiten des Billiglohns.

    Die Leistung ist ganz einfach zu gering und wertet dadurch die Lebensleistung eines/einer Arbeitnehmerin nicht, wenn nicht die Bezugsdauer von höheren Leistungen davon abhängig ist, wie lange jemand in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat.

    Aber schön, dass Altmaier offen sagt, dass die deutsche Wirtschaft ohne Hartz IV, diese heimliche Subvention zu Senkung der Lohnkosten, ganz schnell am Boden wäre und kaum noch konkurrenzfähig.

    • @Age Krüger:

      Wieviel Prozent meinen Sie?



      Ich würde sagen, dass Sanktionen zum Schreckens/Kriminalisierungs/Repressions-Konzept dazu gehören und auf viele "Eindruck macht", nicht nur auf diejenigen, die es direkt betrifft. Es wirkt wie eine Strafe durchaus verhaltensändernd und erhöht die Drohkulisse von HartzIV gegenüber Menschen, denen mit Erwerbslosigkeit gedroht wird.

  • Im Wesentlichen stimme ich dem Kommentar von Hrn. Rüdiger Fein zu.



    Was die SPD jetzt an Feuerwerk zu Änderungswünschen von sich gibt, muss vor dem Hintergrund der langjährigen SPD-Regierungsarbeit gesehen werden. Die SPD kann nicht mit dem gleichen Maßstab wie eine langjährige Oppositionspartei gemessen werden.



    Dazu kommt, dass es mit der SPD zwei langjährige Erfahrungen gibt;



    1.) Es gibt in der SPD zu jeder Meinung eine Gegenmeinung. Eine Meinung zu äußern heißt noch nicht, dass es die Parteimeinung oder ein Parteitagsbeschluss ist.



    2.) Die SPD bekommt immer ganz schnell kalte Füße und findet immer ganz schnell Gründe warum was überhaupt nicht oder noch nicht geht.



    Nein - die SPD muss durch ihr Handeln überzeugen und muss an ihrem Handeln gemessen werden.



    Aus Existenznot ein Feuerwerk von wohlgemeinten seit langen Jahren bekannten Ideen abzufeuern reicht nicht aus, ist im Gegenteil sogar vertrauensschädigend, weil so durchsichtig.

  • Liebe Frau Nahles, aktuell regieren Sie in der Großen Koalition. Warum nicht einfach einen Gesetzentwurf einbringen und im Bundestag diskutieren und abstimmen lassen?



    Die Frage nach der Finanzierung können Sie Ihrem Regierungspartner doch mit einer Wiedereinführung der Vermögenssteuer - einst von der SPD fast abgeschafft - und einer Anpassung der Erbschaftssteuer schmackhaft machen. Unter Umständen könnte man hinter diesen Maßnahmen mal wieder sozialdemokratische Politik erkennen.



    Lieb Frau Nahles, nur Mut, weiter abwärts kann es doch kaum gehen, was also soll passieren ? Oder wollen Sie dieses Feld den deutschen Rechtsaußen überlassen ? Machen Sie die SPD doch endlich wieder wählbar!