Altkanzler Helmut Kohl ist gestorben: Er ist Geschichte
Europäer, ewiger Kanzler, Despot – Helmut Kohl war zeitlebens umstritten. Nun ist er im Alter von 87 Jahren in Ludwigshafen gestorben.
Ein leichtes Alter ist Helmut Kohl, der jetzt mit 87 Jahren gestorben ist, nicht vergönnt gewesen. Ausgerechnet der Mann, dessen unangefochten mächtige Position ihm einst den Beinamen „der ewige Kanzler“ eingetragen hatte, musste in den letzten Lebensjahren erleben, was Vergänglichkeit bedeutet. Vieles ist ihm entglitten – auch die Deutungshoheit über sein eigenes Leben. Das dürfte ihn, der auch in den letzten Jahren noch bei klarem Verstand war, tief geschmerzt haben.
Etwas allerdings ist ihm nicht zu nehmen: Seine Bedeutung ist so groß, dass die Nachricht von seinem Tod auch für viele derjenigen einen tiefen Einschnitt bedeutet, die ihn niemals geschätzt haben.
Helmut Kohl verkörperte den letzten Abschnitt der westdeutschen Geschichte – und den ersten Abschnitt der Geschichte des vereinigten Deutschlands. Wie kein anderer Regierungschef der deutschen Nachkriegszeit wurde er zum Prototyp des Machtpolitikers, an dem niemand vorbeikam und dem niemand gefährlich werden konnte. Ausgerechnet ein Mann, der als 50-Jähriger seine Zukunft bereits hinter sich zu haben schien, hat später während seiner Amtszeit also so dicke Bretter gebohrt, dass ihm ein Platz in den Geschichtsbüchern sicher ist.
Das wird gerne über Verstorbene gesagt, stimmt jedoch selten. Im Falle von Helmut Kohl ist es wahr. Womit noch nichts darüber ausgesagt ist, wie sein Wirken zu beurteilen ist.
Als „Kanzler der Einheit“ und als großer Europäer wird er jetzt gewürdigt werden. Wer hätte das für möglich gehalten, als er 1982 vom Bundestag zum ersten Mal in das Amt des Regierungschefs gewählt wurde? Kaum jemand, vielleicht nicht einmal er selbst. Trotz seines großen Selbstbewusstseins.
Kanzler dank konstruktiven Misstrauensvotums
Linke und Liberale haben den CDU-Kanzler ja nicht einmal dann ernst genommen, als er endlich die Macht in Händen hielt. Provinziell, unbeholfen, fast tumb wirkte der 1930 in Ludwigshafen geborene Sohn eines Finanzbeamten mit nationalkatholischem Hintergrund, der schon als Heranwachsender in seine Partei eingetreten war. Zum Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz hatte er es gebracht, immerhin. Aber damit schien das Ende der Fahnenstange auch erreicht zu sein.
Helmut Kohl war zunächst nichts anderes als der ewige Verlierer. Zweimal, 1972 und 1980, war er im Kampf um die Position des Kanzlerkandidaten der Union unterlegen, zunächst Rainer Barzel, später Franz Josef Strauß. Der starke Mann der CSU hatte verächtlich über Kohl gesagt, der werde „nie“ Kanzler werden. Was nur eines von vielen Fehlurteilen über den Pfälzer war.
Dazwischen – 1976 – hatte Kohl als Spitzenkandidat ein sehr schönes Ergebnis bei der Bundestagswahl erzielt: 48,6 Prozent stimmten für die Union. Aber es reichte eben nicht für die Ablösung der sozialliberalen Koalition.
Dass Helmut Kohl endlich doch Regierungschef wurde, verdankte er zunächst allein der kleinen FDP. Die hatte 1982 das Bündnis mit der SPD vor dem Hintergrund steigender Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung aufgekündigt und wechselte zur Union. Am 1. Oktober wurde Kohl mithilfe eines konstruktiven Misstrauensvotums vom Bundestag zum Kanzler gewählt.
Bleierne Zeit
Die vorgezogenen Neuwahlen am 6. März 1983 gewann die neue Koalition – und legitimierte damit den aus formalen Gründen umstrittenen Machtwechsel. Insgesamt sollte Helmut Kohl 16 Jahre im Amt bleiben und somit länger regieren als alle, die vor und nach ihm diesen Posten übernommen haben. Es begann eine Zeit, die seine politischen Gegner als „bleiern“ empfanden.
Zunächst glaubten sie, ihn achselzuckend und spöttisch als Übergangserscheinung abtun zu können. Der Spitzname „Birne“ schien Kohl hinreichend zu charakterisieren – warum sollte man sich intellektuell ernsthaft mit ihm auseinandersetzen? In den Augen der Opposition war seine Erklärung, die „geistige und moralische Wende“ herbeiführen zu wollen, nicht bedrohlich, sondern lächerlich.
Was für ein Irrtum! Die Gegner von Helmut Kohl haben lange übersehen, wie groß sein Bedürfnis nach Macht war. Und wie ausgeprägt seine Fähigkeit, sie zu festigen.
Aussitzen: Ein Wort, das bis dahin vorwiegend in der Reitersprache gebräuchlich war, wurde in der Regierungszeit von Helmut Kohl zum festen Bestandteil des Vokabulars von Leitartiklern. Sie bezogen es auf den Umgang des Kanzlers mit Skandalen und Kritik. Ein Beispiel von vielen: In der Flick-Affäre 1984, bei der es um illegale Zuwendungen des Konzerns an deutsche Politiker ging, war Kohl schwer belastet worden. Vor einem Untersuchungsausschuss hatte er nachweislich gelogen. Die Folge? Keine Folge.
Einen „Blackout“ habe Kohl eben gehabt, erklärte der damalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler. Protest, Wut, Getümmel. Und weiter? Nichts weiter.
Aufschrei der Empörung
Am 5. Mai 1985 legte Helmut Kohl gemeinsam mit US-Präsident Ronald Reagan einen Kranz auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg nieder, was zu einem Aufschrei der Empörung im In- und Ausland führte, weil dort auch Angehörige der Waffen-SS beerdigt sind. Der Gast aus Washington geriet wegen der Kontroverse sogar innenpolitisch unter Druck. Und weiter? Nichts weiter.
Im Zusammenhang mit der Bitburg-Kontroverse erinnerte man sich daran, dass Kohl im Jahr zuvor in der israelischen Knesset von der „Gnade der späten Geburt“ gesprochen hatte. Was von Kritikern als Versuch gewertet worden war, sich aus der historischen Verantwortung zu stehlen. Die Wendung stammte übrigens gar nicht von ihm. Sein Redenschreiber hatte bei meinem Vater abgeschrieben, dem Diplomaten und Publizisten Günter Gaus. Ihn hat das bis zu seinem Tod 2004 geschmerzt – er fühlte sich von Kohl intellektuell missbraucht.
Mein Vater schrieb: „Wäre ich nicht 1929 geboren worden, sondern zehn Jahre früher – wie hätte ich mich denn verhalten als Scherge in Bergen-Belsen? Oder, dieses Entsetzen drang etwas später in mein Bewusstsein, an der Rampe in Auschwitz? Könnte ich meine Hand für mich ins Feuer legen? Helmut Kohl hat das Wort von der Gnade der späten Geburt in einer Rede in Israel benutzt, als sei es von ihm nicht nur entlehnt, sondern auch falsch verstanden und als Teil eines Ablasszettels missbraucht.“ Die Metapher sollte stattdessen „in streng lutherischem Sinne eine Gnade bezeichnen, die keine Schuld tilgt, die nicht erworben werden kann, sondern unverdient gewährt wird“.
Ob Helmut Kohl von der Kritik im Zusammenhang mit seinem Auftritt in der Knesset berührt wurde, ist schwer zu beurteilen. Er hat erst nach Jahren wenigstens den Versuch unternommen, den Eindruck allzu großer Leichtfertigkeit zu zerstreuen. Und weiter? Nichts weiter.
Mindestens bis zum Jahr des Mauerfalls 1989 könnte dies die passende Überschrift über dem Leben und Wirken von Helmut Kohl sein: Und weiter? Nichts weiter. Nichts und niemand schien dem Kanzler, der auch körperlich immer massiger wurde und somit auf seltsame Weise unbesiegbar, unverrückbar zu werden schien, gefährlich werden zu können.
Deutungshoheit über sich und sein Wirken
Innerparteiliche Gegner – Heiner Geißler, Norbert Blüm, Rita Süssmuth – stellte er, allem Anschein nach mühelos, kalt. Noch lange nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik war Angst bei Gesprächspartnern spürbar: Bloß nichts Böses über ihn sagen! Wer weiß, wie weit sein Einfluss noch immer reicht … wer weiß, was „er“ noch unternehmen könnte. Auch diese Sorge dürfte mitgezeichnet haben am positiven Bild des ehemaligen Kanzlers.
Helmut Kohl ist es in fast beispielloser Weise gelungen, lange die Deutungshoheit über sich und sein Wirken zu behalten. Offensichtlich wurde das 2001 im Zusammenhang mit dem Freitod seiner Ehefrau Hannelore, mit der er mehr als 40 Jahre lang verheiratet war.
Sie hatte unter einer Lichtallergie gelitten. Fast alle Nachrichten hörten sich so an, als sei ihr Lebensende fast unvermeidlich gewesen angesichts des Martyriums dieser Krankheit. Schüchterner Widerspruch medizinischer Organisationen verhallte. Der Gedenkgottesdienst für die Protestantin wurde im Dom zu Speyer abgehalten. Eine katholische Totenmesse.
Das Trojanische Pferd ist nicht zufällig eines der wirkmächtigsten Bilder der Mythologie. Eine unbezwingbar erscheinende Macht kann nur von innen, nicht durch einen äußeren Feind geschwächt oder gar besiegt werden. Das familiäre Zerwürfnis zwischen Kohl und seinen beiden Söhnen, das diese öffentlich machten, und auch ihre scharfe Kritik an der zweiten Ehefrau ihres Vaters, der 34 Jahre jüngeren Maike Richter, dürfte mehr am Denkmal gekratzt haben als jede nüchterne Kritik von Außenstehenden. Ist das legitim? Welche Rolle sollen private Informationen bei der Beurteilung einer historischen bedeutenden Person spielen?
Darstellung eines heilen Familienlebens
Sie spielen eine Rolle, das ist unvermeidlich. Natürlich liegt der Verdacht nahe, dass Voyeurismus die treibende Kraft war hinter dem Interesse am Familienleben von Helmut Kohl. Das mag ja auch so gewesen sein. Aber festzuhalten bleibt dennoch: Der Kanzler hat mit seinen regelmäßigen Foto- und Presseterminen vom Urlaubsort Wolfgangsee selbst eine politische Absicht verfolgt. Die Darstellung eines heilen Familienlebens, das ein Vorbild sein sollte für alle Deutschen – oder doch zumindest eine Blaupause für jene Deutschen, die der Union nahestanden.
Inzwischen wissen wir: Dieses heile Familienleben hat es niemals gegeben. Die Söhne haben uns, die Öffentlichkeit, das wissen lassen. Und damit deutlich gemacht, dass der Mann, der sich für berufen hielt, die „geistige und moralische Wende“ einzuleiten, seinen eigenen Ansprüchen nicht genügte.
Das ist kein Blick durchs Schlüsselloch, das ist eine politisch relevante Information. Und weiter? Nichts weiter. Selbst diese Familienkatastrophe hat der Altkanzler auszusitzen vermocht.
War der „ewige Kanzler“ also lediglich ein Despot, der nichts als die eigenen Interessen im Blick hatte, unnachsichtig und rücksichtslos sowohl die eigene Partei als auch die eigene Familie regierend? Ein unbelehrbarer Reaktionär, der die Aushöhlung des Asylrechts ebenso zu verantworten hat wie die Remilitarisierung der Außenpolitik – mithin den Glauben daran, dass sich politische Probleme auf militärische Weise lösen lassen? Helmut Kohl darauf zu reduzieren wäre eine allzu schlichte Skizze eines „Gesamtkunstwerks“, wie ihn der grüne Politiker Joschka Fischer einst nannte.
Die Gunst der Stunde
Zwei wichtige Verdienste werden ihm auch seine schärfsten Kritiker nicht absprechen können: Er wusste die Gunst der Stunde zu nutzen, nachdem am 9. November 1989 die Mauer gefallen war. Dieses Ereignis war eine Folge des inneren Zerfalls des Ostblocks und eines Kurswechsels der sowjetischen Politik, nicht das Ergebnis sorgfältiger strategischer Planung in Bonn.
Daraus ist der westdeutschen Regierung kein Vorwurf zu machen – niemand hat bis heute glaubwürdig von sich behaupten können, die Entwicklung vorhergesehen zu haben. Was Kohl vermochte und was eine unbestreitbar große Leistung war: Er erkannte die Möglichkeiten, die in der Entwicklung lagen. Und er machte Gebrauch davon.
In Verhandlungen mit den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges, insbesondere mit dem damaligen sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow, gelang es ihm, die Zustimmung des Auslands zur deutschen Vereinigung zu erreichen. Das war – und ist – allen Schwierigkeiten und Problemen zum Trotz ein großes Glück für Deutschland.
Es war übrigens auch ein großes persönliches Glück für Helmut Kohl. Ende der 1980er Jahre war der innerparteiliche Widerstand gegen ihn gewachsen. Vermutlich verdankte er es nur den Stimmen der Ostdeutschen, dass er 1990 und 1994 in weiteren Bundestagswahlen in seinem Amt bestätigt wurde.
Vision eines vereinten Europa
Das zweite Verdienst von Helmut Kohl: Er hat wie kaum ein anderer den Prozess der europäischen Integration vorangetrieben. Er mag ein Reaktionär gewesen sein, gelegentlich auch fürchterlich deutschtümelnd – aber zugleich war ihm die Vision eines vereinten Europa stets ein persönliches Anliegen.
Das ist ein Widerspruch in sich, nicht nur im Hinblick auf den persönlichen Lebenslauf von Kohl, sondern auch im Hinblick auf die deutsche Geschichte. Manches, was einem seltsam erscheint, muss man einfach stehen lassen können.
Ist die persönliche und die politische Biografie von Helmut Kohl mit seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik, hinreichend umrissen? Nein.
Hat ein Politiker keine Ämter mehr, dann steht das historische Urteil über ihn im Regelfall fest – unabhängig davon, wie alt er wird. Für Helmut Kohl gilt das nicht. Die CDU-Spendenaffäre hat dem Bild des Exkanzlers eine unerfreuliche Facette hinzugefügt. Bis zu seinem Tod hat er die Namen von angeblichen Großspendern für seine Partei nicht genannt, denen er sein Ehrenwort gegeben haben will. Anders ausgedrückt: Er hat deutlich gemacht, dass er in seiner eigenen Wahrnehmung über dem Gesetz stand. Und weiter? Nichts weiter.
Wieder einmal hatte er eine Affäre „ausgesessen“. Und wieder einmal hatte er gezeigt, dass er damit gewinnen konnte. Wenn jemand dauerhaft unter den Verfehlungen von Helmut Kohl zu leiden hatte, dann waren es ehemalige enge Mitstreiter wie sein langjähriger Kronprinz Wolfgang Schäuble, dem die Affäre jede Hoffnung auf die Kanzlerschaft raubte. Und was weiter im Hinblick auf Helmut Kohl? Nichts weiter. Jedenfalls nicht viel.
Genug der Buße und Reue
Eine Zeit lang wurde er geächtet, gewiss. Auf den CDU-Ehrenvorsitz verzichtete Kohl ohne äußeren Druck. Aber irgendwann schien die Öffentlichkeit zu meinen, es sei nun auch genug der Buße und Reue. Er bekam wieder Preise und wurde geehrt.
Eine Auswahl: Im September 2005 wurde Helmut Kohl Ehrenbürger seiner Heimatstadt Ludwigshafen. 2007 erhielt er den „Preis für Verständigung und Toleranz“ des Jüdischen Museums in Berlin. 2010 wurde er für sein politisches Lebenswerk mit dem „Roland Berger Preis für Menschenwürde“ geehrt. Und seit 2012 kann man mit dem Konterfei von Helmut Kohl sogar Briefe frankieren – obwohl es eigentlich sonst nicht üblich ist, Lebende mit einer Briefmarke zu ehren.
Die Hoffnung darauf, dass die CDU-Spendenaffäre jemals endgültig aufgeklärt werden kann, wird nun wohl gemeinsam mit Helmut Kohl begraben.
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