Alternative Nobelpreise bekanntgegeben: „Systemwandel ist möglich“
Die „Alternativen Nobelpreise“ 2022 unterstützen „neue Modelle gesellschaftlichen Miteinanders“ aus Somalia, Venezuela, Uganda und der Ukraine.
Geehrt werden die PreisträgerInnen Fartuun Adan und Ilwad Elman aus Somalia, Oleksandra Matwijtschuk und das Center for Civil Liberties in der Ukraine, sowie das Kollektiv Cecosesola aus Venezuela und das Africa Institute for Energy Governance in Uganda, weil sie „auf Krisen infolge autoritären Regierungshandelns, Kriegen, profitorientierten Wirtschaftssystemen und politischer Untätigkeit angesichts der Klimakatastrophe“ mit „neuen Modellen gesellschaftlichen Miteinanders antworten, die den jeweiligen Status quo herausfordern und in Frage stellen“.
Für die Förderung von Frieden, Entmilitarisierung und Menschenrechten in Somalia angesichts von Terrorismus und geschlechtsspezifischer Gewalt werden die Menschenrechtsverteidigerinnen Fartuun Adan und Ilwad Elman – Mutter und Tochter – geehrt. Mit ihrer Organisation Elman Peace unterstützen sie Überlebende geschlechtsspezifischer Gewalt, resozialisieren ehemalige KindersoldatInnen, ermöglichen Frauen und Jugendlichen berufliche Bildung und leiten Projekte zur Friedenskonsolidierung.
Zu ihrem gemeindebasierten Entwaffnungs- und Wiedereingliederungsansatz gehören psychosoziale Unterstützung, Rehabilitierung, Bildung, Qualifizierung und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Das Modell setzt bei den Ursachen von Extremismus an und bietet damit sowohl ehemaligen KindersoldatInnen wie gefährdeten Jugendlichen neue Perspektiven. Aufgrund seines Erfolgs wurde es von Adan und Elman auf ähnliche Konflikte in West- und Zentralafrika ausgeweitet. Zum Netzwerk Peace by Africa gehören inzwischen 61 friedensfördernde Organisationen.
Einsatz für Menschenrechte in der Ukraine
Erstmals in die Ukraine geht ein Alternativer Nobelpreis mit der Auszeichnung der Juristin und Menschenrechtsaktivistin Oleksandra Matwijtschuk und des Zentrums für bürgerliche Freiheiten (Center for Civil Liberties, CCL) dessen Vorsitzende sie ist. Die 2007 gegründete Organisation will Menschenrechte, Demokratie und Solidarität in der Ukraine und Eurasien fördern.
2013 erlangte sie größere Bekanntheit, als sie während der gewaltsamen Niederschlagung der Euromaidan-Proteste Menschenrechtsverletzungen dokumentierte und Rechtshilfe leistete. Das CCL entwickelte außerdem Initiativen, um Bürgerrechtsverletzungen durch verschiedene Regierungsbehörden zu erfassen, sowie den Druck auf die Zivilgesellschaft und die Verfolgung von MenschenrechtsverteidigerInnen zu dokumentieren.
In der Folge des Euromaidan „begann in der Ukraine ein Wandel zu einer regelgebundenen Demokratie“, schrieb Matwijtschuk Anfang des Jahres in einem Beitrag für den Tagesspiegel: „Dieser Prozess ist nicht immer reibungslos abgelaufen, und es liegt noch ein gutes Stück Weg vor uns, doch das Ziel ist klar. Putin ist in die Ukraine eingefallen, weil er diesen Umbruch vereiteln will. Ihn schert weniger eine Nato-Erweiterung als vielmehr die Vorstellung, von Menschen umgeben zu sein, die frei über ihre Zukunft entscheiden und die Machteliten zur Rechenschaft ziehen können.“
Im Bereich des internationalen Rechts engagieren sich Matwijtschuk und die CCL für den Beitritt der Ukraine zum Internationalen Strafgerichtshof. Matwijtschuk trage „seit über einem Jahrzehnt mit ihren Dokumentationen von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen maßgeblich zur Stärkung der ukrainischen Zivilgesellschaft und staatlicher demokratischer Strukturen bei“, heißt es in der Preisbegründung: Die Arbeit für den Aufbau nachhaltiger demokratischer Institutionen und die Gestaltung eines Weges zur internationalen Strafverfolgung von Kriegsverbrechen sei seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 umso wichtiger geworden damit „in der Ukraine eine demokratische Zukunft entstehen kann“.
Ohne Chefs aktiv in Venezuela
Die 1967 gegründete venezolanische Kooperative Cecosesola (Central de Cooperativas de Lara) ist ein Netzwerk von Gemeinschaftsorganisationen aus einkommensschwachen Regionen, das Waren und Dienstleistungen für mehr als 100.000 Familien in sieben venezolanischen Bundesstaaten produziert und bereitstellt. In den vergangenen 55 Jahren stetig gewachsen, umfasst es nun auch Lebensmittelmärkte, ein Gesundheitsnetzwerk, Spar- und Darlehensdienste sowie landwirtschaftliche Produktion und kleine Verarbeitungsbetriebe sowie genossenschaftliche Bestattungsdienste.
Chefs gibt es nicht, Jobrotation ist üblich, Entscheidungen werden im Konsens getroffen. „Die Organisation versteht sich als lernendes Kollektiv, das die Dynamiken, die im Arbeitskontext entstehen, gemeinsam reflektiert. Transparenz, gegenseitige Unterstützung und Gerechtigkeit sind die Leitwerte“, heißt es in der Preisbegründung: „Cecosesola ist eine Leuchtturminitiative und eine Inspiration für alle, die nach alternativen ökonomischen Ansätzen suchen und das traditionelle hierarchische Modell in privaten und staatlichen Unternehmen überwinden wollen.“ Der Preis sei eine Anerkennung „für die Entwicklung eines gerechten und kooperativen Wirtschaftsmodells als robuste Alternative zu profitorientierten Volkswirtschaften“.
Die Entdeckung der kommerziellen Ölreserven Ugandas im Jahr 2006 hat in den vergangenen Jahren vermehrt zu Landraub, illegalen Vertreibungen und Umweltzerstörung geführt. Mit dem Africa Institute for Energy Governance (Afiego) geht der Preis an eine ugandische Organisation, die durch Lobbyarbeit, Medienkampagnen sowie nationale und internationale Rechtsprozesse Gemeinden dabei unterstützt, sich gegen umweltschädliche Projekte bei der Öl- und Gasförderung zu wehren. Sie leiste „einen mutigen Einsatz für Klimagerechtigkeit und die Rechte betroffener Gemeinden, die durch ausbeuterische Energieprojekte verletzt werden“.
Im Zentrum der aktuellen Aktivitäten des Afiego stehen Kampagnen zum Stop des Baus der fast 1500 km langen East African Crude Oil Pipeline, die Rohöl aus Uganda zum Hafen von Tanga in Tansania transportieren soll. Die Dokumentation und Veröffentlichung der Auswirkungen der geplanten Pipeline auf die lokalen Gemeinden durch die AFIEGO habe „maßgeblich dazu beigetragen, dass es heute internationalen Druck gibt, um den Bau zu stoppen“, konstatiert die Stockholmer Stiftung.
PreisträgerInnen warnen vor Rechtsruck in Schweden
Die ugandische Regierung versuche daher, die Arbeit der Organisation zu sabotieren: „MitarbeiterInnen werden bedroht, schikaniert, festgenommen und inhaftiert. Afiego kämpft jedoch unerschrocken weiter für den Umweltschutz und das Wohlergehen der betroffenen Gemeinden – mit juristischen Mitteln und indem die Organisation den Stimmen der Zivilgesellschaft Gehör verschafft.“
„Für die Arbeit, die wir hier in Uganda leisten, braucht es Ermutigung, braucht es Motivation. Wir sind mit einem sehr feindseligen Umfeld konfrontiert, einschließlich Verhaftungen“, kommentiert Dickens Kamugisha, Vorstandvorsitzender von Afiego den Preis: „Wenn die Regierung weiß, dass es auf der ganzen Welt Menschen gibt, die unsere Arbeit für richtig halten, überlegt sie es sich zweimal, ob sie uns oder unsere Gemeinschaften angreift. Dieser Preis bedeutet also, dass wir noch viel mehr Gemeinschaften helfen können.“
Die Preise und deren Verleihung, die in diesem Jahr am 30. November im Rahmen einer live übertragenen Veranstaltung in Stockholm stattfindet, sind nur ein Teil der Arbeit der 1980 gegründeten Right Livelihood Stiftung. Die Auszeichnung ist mit einer langfristigen Unterstützung verbunden, um die Arbeit der PreisträgerInnen international bekannt zu machen und dauerhaft zu stärken.
Umgekehrt halten die PreisträgerInnen engen Kontakt zu Schweden. 32 von ihnen haben sich deshalb auch in einer in der vergangenen Woche veröffentlichten Erklärung kritisch zum Wahlerfolg der Schwedendemokraten geäußert, einer rechtsradikalen Partei mit Neonaziwurzeln, die – wie es darin heißt – „die Medien attackiert“, sich „offen mit autoritären Führern in anderen Ländern verbrüdert“ und „ihre hasserfüllte Rhetorik gegen Menschen anderen Glaubens und anderer ethnischer Herkunft“ richtet. Dies seien „typische erste Phasen des autoritären Drehbuchs, aber wir befürchten, dass es dabei nicht bleiben wird und dass die schwedische Demokratie allmählich untergraben wird“.
Wenn traditionelle Parteien die Macht mit so einer Partei teilen, sei „eine Grenze überschritten“ warnen die PreisträgerInnen aus 27 Ländern: „Wir sind zutiefst besorgt. Wir wissen, wie Demokratien sterben. Ihr Tod kommt lautlos.“ Dabei werde gerade Schweden in einer Zeit, „in der die Demokratie weltweit so stark unter Druck steht, sowohl innerhalb der Länder als auch durch den brutalen Krieg, den die russische Diktatur gegen die demokratische Ukraine führt, fest im demokratischen Lager gebraucht“.
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