Als Journalistin auf Lesbos: Die Wut der Insel
Seit 2018 lebt und arbeitet unsere Autorin auf Lesbos: für Geflüchtete seit Jahren ein rechtsfreier Raum. Allmählich auch für Journalistinnen.
Sie werden von der Polizei eingekesselt. Ich stehe bei ein paar Fotografen und schaue mir die Szene aus der Entfernung an. Immer wenn der Chef der Polizeieinheit vor mir einen Schritt zurücktritt, trete auch ich zurück. Bis ich stehen bleibe. Er dreht sich um. In seinen Augen dieser blanke Hass. „Geh nach Hause!“, sagt er. „Wir brauchen dich hier nicht.“
Klar braucht er uns nicht. Die Polizei will die Menschen zurück ins Camp und aus dem öffentlichen Bewusstsein schaffen. Da braucht er keine Bilder von fallenden Menschen, von einer Polizei mit Schlagstöcken.
Seit jenem Tag im Februar fällt die Rechtsstaatlichkeit, die für die Geflüchteten auf den Ostägäischen Inseln schon vorher nicht galt, nun auch für Europäer in sich zusammen. Wut entlädt sich. Nicht einfach so, für den Hass braucht es Raster, die lange vorher festgelegt wurden. Von der Regierung in Athen, von den europäischen Staaten.
Die, die ihr Land verteidigen
Zwei Wochen ist es her, da versammelten sich Tausende Inselbewohner auf den Straßen rund um ein Feld im schroffen Nordosten. Die Regierung will dort Land konfiszieren für ein sogenanntes geschlossenes Camp, das sie bis zum Sommer bauen will. Bauern fällten Bäume, um der aus Athen entsandten Bereitschaftspolizei den Weg zu versperren. Unter den Demonstranten waren auch Studenten, Priester, die Kommunistische Partei, rechtsradikale Gruppen, Familien, Barbesitzer und Bäcker aus der Hafenstadt. Viele waren froh, dass wir berichteten, aber eine Frau spuckte uns aus ihrem Auto heraus an: „Medienpack!“, schrie sie.
Mit der Ankündigung der türkischen Regierung, die Grenzen zu Europa zu öffnen, kommen die internationalen Fernsehteams auf die Insel. Bei der Ankunft eines Bootes mit Geflüchteten schlagen Autotüren zu, Kameramänner blenden den Angekommenen im Morgengrauen ins Gesicht,
Journalisten halten kleinen Kindern, die zitternd am Strand stehen, ein Mikrofon hin. Die Sensation rennt, obwohl die Menschen schon seit Monaten ankommen.
Autovermietungen sind leer gebucht, Journalisten rasen in abgelegene Dörfer, Neonazis tarnen sich als Berichterstatter und interviewen Inselbewohner, um sie anschließend auf YouTube für PR-Kampagnen zu instrumentalisieren. In all der Aufmerksamkeit entlädt sich Gewalt auf der Insel.
Die, die uns angreifen
Vergangene Woche, auf einer Fahrt nach Moria, werde ich mit meinem Fotografenkollegen Julian Busch von etwa hundert Männern gestoppt. Die Gruppe läuft mit Schlagstöcken, Steinen und Motorradhelmen die Straße entlang. Drei Männer laufen rasch auf uns zu. Wieder dieser Hass in den Augen. Sie können nicht wissen, dass wir Journalisten sind. Sie halten uns für Helfer oder für jemand von „außen“. In ihren Augen sind wir dafür verantwortlich, dass die flüchtenden Menschen nach Europa kommen. Wir schaffen es unter den Würfen von Steinen und unter den Schlägen von Schlagstöcken, zu wenden und uns unversehrt in Sicherheit zu bringen.
Wir sind nicht die Einzigen, die angegriffen werden. Eine Woche zuvor wurde eine Helfergruppe aus dem Auto gezogen. Es gibt ein Video davon, wie die Angreifer die Fenster des Autos einschmeißen und die Türen fast rausreißen. Und auch eine Gruppe von Ärztinnen flüchtete sich vor einer Woche ins Lager von Moria, nachdem sie im Auto von einer Gruppe mit nagelgespickten Brettern angegriffen wurde. Die Polizei arbeitete erst am nächsten Tag wieder. Ruft man sie an, legen die Beamten manchmal einfach auf. Überfordert? Oder willentlich?
Rechtsextreme Gruppen patrouillieren in der Einkaufsstraße oder auf dem Weg zum Lager, Schlagstöcke und Steine in der Hand. Immer wieder stellen sich Inselbewohner ihnen bei Angriffen in den Weg. Jedoch immer weniger. Die Fischer, die 2015 Hunderte Menschen aus dem Wasser retteten, Restaurantbesitzer, die bis heute für die neu Angekommenen kochen, werden jetzt selbst von Nachbarn oder anderen Dorfbewohnern verbal angegriffen. Humanitäre Organisationen müssen ihre Arbeit einstellen.
Doch auch jene, die damals Tag und Nacht Hilfe leisteten, können die Frustration ihrer Mitmenschen hier verstehen: die Wut darüber, dass die Regierung Spezialeinheiten aus Athen schickt, um Land von Bauern zu konfiszieren.
Die, die verstummen – und die, die berichten
Vor einer Woche brannte die School of Peace, in der täglich 200 geflüchtete Kinder unterrichtet wurden. Sie befand sich auf dem Gelände eines Gemeinschaftszentrums namens One Happy Family: einer der wenigen Orte, wo Geflüchtete Fahrräder bauen, Yoga machen und Gemüse pflanzen konnten – wo sie als Handelnde und nicht als Schutzbedürftige gesehen wurden.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Ich sehe den Rauch der Bücher, der Tafeln, das verkohlte bunte Dach. Wieder schlagen Autotüren, Fernsehteams kommen an, machen einen Aufsager, die humanitären Helfer, die hiergeblieben sind, stehen neben dem Rauch.
Viele Journalisten haben den Ort niemals voller Leben gesehen. Eine Helferin setzt sich in ihrer hellgelben Weste auf einen verkohlten Stuhl. Dem Ort ist die Luft ausgegangen. Wie uns allen.
Der Hass lässt die einen verstummen und die anderen berichten. In diesem Moment schaffe ich es nicht, jemanden zu interviewen. Ich kapituliere vor dem Ausmaß der Gewalt.
Und wessen Problem ist all das?
Am 1. März setzt die griechische Regierung das Asylrecht für einen Monat aus. Rund 600 Menschen, die in den letzten Tagen hier ankamen, wurden am Hafen isoliert und schließlich auf ein Militärschiff gebracht, das noch immer neben den Touristenfähren vor Anker liegt. Dort harren sie aus, bevor sie in ein völkerrechtswidriges Gefängnis auf dem Festland überstellt und dann abgeschoben werden sollen. Im Gegensatz zu den Geflüchteten können wir Journalisten uns um rechtliche und medizinische Beihilfe bemühen. Wir können uns an Medien und Gewerkschaften wenden, selbst wenn wir die griechische Polizei nicht erreichen können oder diese sogar unsere Arbeit erschwert.
Immer wieder kontrollieren Beamte Ausweise und nehmen Journalistinnen mit auf die Polizeistation. Als der Fotojournalist Michael Trammer von einer Gruppe Männer mit schweren Faustschlägen zu Boden geschlagen wird, schickt die Polizei zunächst keine Streife – sie sei „überlastet“.
In Moria wiederum kommen auf 20.000 Menschen drei Polizisten. „Wir werden am Krankenhauseingang abgewiesen“, sagt eine junge Somalierin am Montagabend am Telefon, „eine Frau stirbt hier am Tumor.“
Die letzten Tage schrieb ich in meiner Wohnung. Führte Interviews. Schlief wenig. Koordinierte und plante. Immer wieder erreichten mich Nachrichten von Verletzten, von Journalistinnen, die sich aus Brüssel oder Kanada nach der Sicherheitslage für die Berichterstattung erkundigten, von fassungslosen Freunden in Deutschland, von Vertrauten, die sich in Athen in Sicherheit bringen mussten.
Der Weg zum Café, wo ich sonst schreibe, wird zur inneren Hetzjagd. Warum setzten sich zwei Männer direkt hinter mich, obwohl alle Tische frei sind? Wenn jemand auf den Boden spuckt, schlägt er dann auch? Hass verunsichert, er kann einen von überall treffen. Lesbos bleibt mein Zuhause. Diese Spirale der Rechtlosigkeit und Gewalt gegen die Schutzbedürftigsten ist kein Inselproblem. Es ist ein europäisches.
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