Alltag in Coronazeiten: Matratzen, setzt doch uns vor die Tür!

Die Polsterflächen sind die Gewinner und die Verlierer der Pandemie. Auf den Spuren einer verhängnisvollen Matratzisierung unseres Selbst.

Ausrangierte Matratze an Häuserwand

Sie hilft uns, wenn wir müde sind, aber wer hilft ihr? Foto: Gregor Fischer/dpa

Es ist Mitte November, als ich coronabedingt mal wieder nichts Besseres zu tun habe, als durch meinen Berliner Kiez zu spazieren. Ich denke noch darüber nach, ob ich lieber links- oder rechtsherum gehe, da stolpere ich fast über eine ausrangierte Matratze. Sie liegt da, ruhig und verlassen in der Dämmerung. Ihre Oberfläche ist mit Herbstlaub bedeckt, die Blätter auf ihr schimmern golden im Laternenlicht.

Erst freue ich mich, wie verträumt und poetisch sie aussieht, dann werde ich mit einem Mal sehr müde. Was gäbe ich jetzt dafür, mich einfach draufzulegen und von einer besseren, pandemiefreien Zukunft zu träumen! Doch mein innerer Kritiker raunzt mich an: Viel zu kalt und eklig! Also fotografiere ich die Matratze nur, um mich später an diesen Moment zu erinnern. Nein, seien wir ehrlich, eigentlich ist dieses Foto bloß für Instagram.

Und es wird nicht bei dieser einen hübschen, mit Herbstlaub verzierten Matratze bleiben. In den darauffolgenden Wochen entdecke ich bei jedem meiner Spaziergänge neue, mal 90, mal 140, mal 200 Zentimeter breite Exem­pla­re. Mal sind sie fast neu und prall, mal bis auf ihre Sprungfedern ausgeweidet.

Sie lehnen an Stromkästen, Wänden oder Zäunen. Sie gammeln vor Hauseingängen, Geschäften oder Restaurants herum, sie dürfen das ja noch. Manchmal liegen sie sogar so sehr im Weg, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als über sie hinwegzutrampeln.

„Lebst du im Matratzenland?“

Irgendwie fasziniert es mich, wie sie so ihrem Schicksal überlassen worden sind und nun ohne Sinn und Zweck vor sich hin modern, bis sich vielleicht doch noch eine Wohnungslose oder ein Müllmann ihrer annimmt.

Und irgendwie erinnern sie mich auch an Dou­glas Adams gutmütige Matratzenwesen aus „Per Anhalter durch die Galaxis“, die auf einem unaussprechbaren Sumpfplaneten fröhlich vor sich hin-„flollopen“, weil sie aufgrund der Tatsache, dass sie alle „Zem“ heißen, nie wirklich wissen, wer von ihnen gerade getötet und zur Liegefläche umfunk­tio­niert worden ist.

Und ich bin nicht die Einzige, die sich über ihr massenhaftes Auftauchen auf Berlins Straßen wundert. „Lebst du im Matratzenland?“, postet ein Bekannter unter meine Fotoserie bei Instagram, ein anderer unterstellt mir scherzhaft, dass ich immer ein- und dieselbe Matratze von einem Ort zum anderen schleppe, um sie in ständig neuen Settings zu fotografieren.

Aber zumindest in Prenzlauer Berg scheinen plötzlich viele Menschen gleichzeitig ihre Schlafsituation optimieren zu wollen. Sie kaufen neue Matratzen und werfen die alten vor die Tür.

Nur, ist meine Beobachtung wirklich mehr als bloß das Randphänomen eines viel zu wohlhabenden, durchgentrifizierten Viertels? Ist sie, stelle ich fest, als ich der Sache auf den Grund gehe. Bei meiner Recherche stoße ich auf zahlreiche Berichte über illegale Mülldeponien, die seit der Coronakrise noch mal mehr geworden sind.

Ob auf dem Land oder in der Stadt, in Waldgebieten oder am Straßenrand: Überall stapeln sich alte Küchenschränke, Fernseher und eben Matratzen, die zu allem Überfluss auch noch hin und wieder in Flammen aufgehen.

Als Grund für diese sich bundesweit zuspitzende Vermüllung nennen Ex­per­t:in­nen die neue, durch die Pandemie verursachte Häuslichkeit, die bei uns Menschen mit einer Marie-Kon­do­esken Wegwerfwut einherzugehen scheint.

Und die bringt nicht nur die zuständigen Wertstoffhöfe zunehmend an ihre Belastungsgrenze, sie führt eben auch zu jenen Abfallhalden, die zwar mit einem saftigen Bußgeld sanktioniert würden, doch dafür müssten die Um­welt­sün­de­r:in­nen ja erst einmal gefunden werden – und das passiert noch viel zu selten.

Der Matratzen­verband warnte zwischenzeitlich vor Liefereng­pässen, das Dänische Betten­lager machte Rekordumsätze

Letztlich schaden die illegalen Müllhaufen der Umwelt und kosten Unsummen an Geld wie beim Aktionsprogramm „Sauberes Berlin“, bei dem nun 3,3 Millionen Euro für Präventionsmaßnahmen und fachgerechte Entsorgung veranschlagt sind.

Die Profiteure der Ausmisthysterie sind auch nicht weit: Die Möbelindustrie und der dazugehörige Handel sind, nun ja, nicht gerade geschwächt aus dem ersten Pandemiejahr hervorgegangen. Auch wenn die Branche wegen der aktuellen Ladenschließungen nach eigenen Angaben wieder mächtig zu kämpfen hat. Nach dem ersten Lockdown nahm die Nachfrage nach neuen Sofas, Einbauküchen und Matratzen dermaßen zu, dass sie die Einbußen der ersten Monate, aufs Gesamtjahr betrachtet, fast wettmachte.

Rekordumsätze im Bettengeschäft

„Die Menschen haben im vergangenen Jahr mehr Zeit als sonst zu Hause verbracht (…) – und dabei den ein oder anderen Möblierungswunsch entwickelt“, schreibt der Verband der Deutschen Möbelindustrie noch einigermaßen nüchtern.

Wenn man aber mit Axel Augustin vom BTE Handelsverband Textil spricht, klingt das schon fast euphorisch: „Wir haben, was unsere Fachgeschäfte anbelangt, ein teilweise sehr gutes Jahr gehabt“, sagt er. „Die Leute sind in die Geschäfte gekommen und haben tatsächlich gesagt, ‚Jetzt fahre ich nicht in den Urlaub, jetzt gönne ich mir ein neues Bett.‘ “

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Der Matratzenverband warnte zwischenzeitlich sogar vor Lieferengpässen, das Dänische Bettenlager machte trotz Coronapandemie Rekordumsätze, und das Frankfurter Matratzen-Start-up Emma schloss das Geschäftsjahr 2020 mit einem niedrigen zweistelligen Millionengewinn.

Klar – in Lockdownzeiten müssen Matratzen, wie man so hört, recht viel Bewegung aushalten. Ein weiterer Grund für diesen Erfolgskurs dürfte aber die enorme Geschäftstüchtigkeit der Branche sein. So warb das Infoportal des Matratzen-Onlineshops Bett1 während der Pandemie mit der immunsystemstärkenden Wirkung von erholsamem Schlaf – pennen gegen die Pandemie. Das Bettenmobil des Matratzenhändlers Kolbe kommt seit Kurzem sogar mit einer kleinen Auswahl an Matratzen, Lattenrosten und Bettwäsche bis zu einem nach Hause.

Und was machen wir gutgläubigen Kon­su­men­t:innen? Wir klammern uns in unserer Verzweiflung an jede noch so kleine Aussicht auf Verbesserung. Können wir vor Sorge um die Liebsten oder den Job nicht mehr richtig schlafen, ist bestimmt die Matratze schuld. Wobei: Hängt sie nicht wirklich schon ein bisschen durch und müffelt streng?! Eben.

Doch auch wenn das Lebensalter der Matratze – sie wird maximal 10 Jahre alt, das ist in Menschenjahren gerechnet etwa 100 – noch längst nicht überschritten ist, wechseln sie gerade viele aus. Im Augenblick sind die sogenannten smarten Matratzen der neueste Schrei. Sie sollen sich mithilfe von künstlicher Intelligenz der jeweiligen Liegeposition des Körpers anpassen und die Schlafqualität analysieren können, sodass man die Ergebnisse am nächsten Morgen auf seinem Smartphone ablesen kann.

Schon die Römer wussten eine gute Liegeposition zu schätzen, und von Churchill ist bekannt, dass er seine Amtsgeschäfte gern von der ­Matratze aus erledigte. Ja, sogar Kanz­lerin Angela Merkel soll laut Bild-Zeitung nach ihrem Skiunfall 2014 eine Zeit lang vom Bett aus regiert haben.

Rumlümmelnde Hel­d:in­nen

Apropos Skifahren und Matratzen: Erst kürzlich regten sich manche mächtig auf, dass die Skispringerinnen des Damen-Weltcups den Werbeslogan „Wir sind Matratze“ auf der Brust tragen mussten. Unter sexistischen Gesichtspunkten war das ja auch wirklich ein böser Fauxpas, unter denen der Pandemie jedoch gar nicht so weit hergeholt. Denn sind wir Homeoffice-Privilegierten nicht momentan alle ein bisschen „Matratze“ – wenn wir nicht aus beruflichen Gründen stattdessen auf der Skischanze stehen oder als Ärz­t:in­nen im OP arbeiten?

Den Rest der Zeit lümmeln wir ja tatsächlich größtenteils als von der Bundesregierung ernannte Co­ro­na­hel­d:in­nen auf unserer neuen Premiummatratze herum. Einfach herrlich, wie sich von dort aus die Geschicke unserer kleinen Welt weich gebettet lenken lassen: Da setzt man seinen Namen unter eine Petition gegen Ausbeutung, bestellt sich aber parallel eine Salamipizza bei Lieferando und fühlt sich mal mindestens wie eine wichtige Aktivistin.

Doch wer rettet uns Prinzessinnen und Prinzen auf der Erbse jetzt aus der lähmenden Matratzisierung unseres Selbst?

Zwei vielversprechende Optionen gibt es: Der Berliner Graffitikünstler Sozi 36 könnte mit seinen sozialkritischen Slogans auf ausrangierten Matratzen, die er bei Instagram postet, zu uns durchdringen. Dann wären die abgelegten Liegegelegenheiten wenigstens noch als Kommunikationsmedium nütze. Oder aber es sind die zusammengequetschten Matratzen in unseren Schlafzimmern, die sich nach monatelangem Herumliegen erheben und zur Abwechslung mal uns vor die Tür setzen.

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Hat mal Jura studiert und danach Kreatives Schreiben am Literaturinstitut Hildesheim. Hat ein Volontariat bei der Märkischen Oderzeitung gemacht und Kulturjournalismus an der Universität der Künste Berlin. Schreibt über feministische Themen, Alltagsphänomene, Theater, Literatur und Film.

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