AfD in Thüringen: Radikale Realitäten
Im kommunalpolitischen Alltag ist die Brandmauer gegen rechts bröckelig. In thüringischen Sonneberg hat der AfD-Kandidat Chancen bei der Landratswahl.
F ast 500 Menschen sind an diesem Sommerabend Anfang Juni ins Gesellschaftshaus in Sonneberg gekommen, damit ist der Saal der Kreisstadt im Thüringischen an der Grenze zu Bayern fast voll belegt, es ist warm und stickig. Noch wenige Tage sind es bis zur Wahl eines neuen Landrats am kommenden Sonntag, Wahlkampf liegt in der Luft, und die Sonneberger:innen haben sich schick gemacht: Die Männer tragen Sakkos, die Frauen Sommerkleider, Pumps und Lippenstift. Es riecht nach Parfum und Schweiß. Und nach viel Konfliktpotenzial – was auch daran liegt, dass der AfD-Kandidat durchaus Chancen hat, in eine mögliche Stichwahl ums Amt zu kommen.
Noch bevor der Moderator die erste Frage stellt, zeigt sich, wie gespalten das Publikum ist. Auf einer Leinwand läuft ein Video, in dem sich die vier Landratskandidat:innen kurz vorstellen. Als der AfD-Kandidat für das Landratsamt, Robert Sesselmann, dran ist, jubelt die Hälfte der Zuschauer:innen. Besonders laut applaudieren sie, als er sagt, dass Geflüchtete den Sonneberger:innen die Wohnungen wegnähmen und Deutschland „kein Weltsozialamt“ sei. Die andere Hälfte im Saal buht ihn lautstark aus.
Mehrmals muss der Moderator die AfD-Anhänger:innen ermahnen, sich „anständig“ zu verhalten. Als die Kandidatin Anja Schönheit (parteilos) erklärt, was eine gute Integration ausmache, dringt sie mit ihrem Wortbeitrag kaum noch durch und muss beinahe abbrechen. „Das ist wirklich nicht sonderlich respektvoll“, sagt der Moderator zu den AfDlern. „Wir hören Ihrem Kandidaten genauso zu, wie Sie bitte auch den anderen zuhören.“
Die AfD erlebt derzeit ein Allzeithoch. Wäre in Thüringen am Sonntag Landtagswahl, käme sie laut Insa-Umfrage auf 28 Prozent und wäre damit stärkste Kraft. Bundesweit liegt die rechtspopulistische Partei aktuell bei 19 Prozent, was der höchste Wert ist, den ein Meinungsforschungsinstitut bisher für die AfD gemessen hat. Der Thüringer Verfassungsschutz hat den dortigen Landesverband – Fraktionschef ist der einflussreiche, radikal Rechte Björn Höcke – im Mai 2021 als gesichert rechtsextremistisch eingestuft.
Wer ist der AfD-Mann in Sonneberg?
Die AfD verfolgt schon lange das Ziel, erstmals einen Landrat in Deutschland zu stellen. Während sie bei den Landratswahlen in der AfD-Hochburg Sachsen vor einem Jahr noch klar gescheitert ist, hat sie den Landratsposten im brandenburgischen Oder-Spree Mitte Mai nur um Haaresbreite verpasst. 47,6 Prozent der Stimmen bekam der AfD-Kandidat. Als Nächstes nun also die Landratswahl im südthüringischen Sonneberg am 11. Juni: „Stellt euch vor, die AfD gewinnt ihren ersten Landkreis, was wäre das für eine Schlagzeile. Die Bundesrepublik Deutschland würde beben“, sagte der Rechtsextremist Höcke Anfang Mai.
Wer ist der Mann, den die AfD in Sonneberg ins Rennen schickt, und hat er eine Chance, die Landratswahl zu gewinnen? Und wie viel Einfluss hat die AfD in Sonneberg ohnehin schon?
Der Landkreis Sonneberg liegt ganz im Süden von Thüringen an der Grenze zu Bayern, nur 20 Bahnminuten vom bayrischen Coburg entfernt. Es ist der kleinste und einwohnerschwächste Landkreis in ganz Ostdeutschland. Knapp 57.000 Menschen leben dort, die Hälfte davon in der gleichnamigen Kreisstadt, die auch Spielzeugstadt genannt wird. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden dort 20 Prozent der weltweiten Spielwaren hergestellt. Die Region hat etwas Märchenhaftes: bergige Landschaften, grüne Täler, dichte Tannenwälder, kleine Dörfer.
Der ganze Landkreis ist, man kann es nicht anders sagen, mit Wahlplakaten der AfD zuplakatiert. Seit Wochen fährt der AfD-Kandidat Sesselmann von Dorf zu Dorf, baut Wahlkampfstände auf und ab, verteilt Flyer und Bratwurstgutscheine. Auf Facebook teilt er zahlreiche Videos von AfD-Bundestagsabgeordneten, die dazu aufrufen, Sesselmann zu wählen. Berührungsängste mit den Radikalen seiner Partei hat er keine. Er postet Fotos mit Höcke und Videos, in denen er mit Mitgliedern der Jungen Alternative, die vom Bundesverfassungsschutz ebenfalls als rechtsextrem eingestuft wird, auf einem Marktplatz steht.
Mit Sesselmann schickt die AfD einen Kandidaten ins Rennen, der schon einmal gescheitert ist – ebenfalls bei der Landratswahl, im Jahr 2018. Der 50 Jahre alte Rechtsanwalt schied damals mit knapp 30 Prozent im ersten Wahlgang aus. Gewonnen hatte der von der Linken und SPD unterstützte Hans-Peter Schmitz (parteilos). Schmitz allerdings erkrankte schwer und war zwei Jahre krankgeschrieben, ehe er im März 2023 in den Ruhestand versetzt wurde – regulär wäre seine Amtszeit erst am 30. Juni 2024 zu Ende gegangen. Daher findet vorzeitig eine Neuwahl statt.
Ein Gespräch mit der taz lehnt Sesselmann ab
Genauso wie 2018 setzt Sesselmann, der im Thüringer Landtag sowie im Sonneberger Kreistag und Stadtrat sitzt, auch bei dieser Landratswahl fast nur auf bundespolitische Themen. Er will den Rundfunkbeitrag abschaffen, aus dem Euro austreten, die Russlandsanktionen aufheben, die Abschiebung „krimineller“ Geflüchteter beschleunigen, überhaupt „sichere Grenzen“ und ein Ende der „linksgrünversifften Verbotspolitik“. Kaum ein Thema, mit dem er Wahlkampf macht, wird im Kreistag entschieden.
In seinem Wahlprogramm macht Sesselmann lieber systematisch Stimmung gegen Geflüchtete: Deutsche, insbesondere Rentner, würden als „Bürger zweiter Klasse“ behandelt. Während Geflüchtete Geld vom Staat erhielten, blieben „Krankenhäuser auf der Strecke“. Ginge es nach ihm, würden Geflüchtete Sachleistungen statt Geld bekommen. Ein Gespräch mit der taz lehnt Sesselmann ab, auch auf Fragen per Mail antwortet er nicht.
„Sesselmann ist ein rechtsradikaler Populist“, sagt Nancy Schwalbach, 52, gemeinsame Kandidatin der Linken und Grünen. In der Fußgängerzone von Sonneberg – einer gepflegten Stadt mit prächtigen Gründerzeithäusern – hat die Grünen-Politikerin an einem Vormittag Anfang Juni einen Wahlkampfstand aufgebaut, mit rotem Sonnenschirm und kleinen Geschenken: Buntstifte, Einkaufswagenchips, Brillenputztücher, Flaschenöffner. Abends wird sie beim Wahlkampfduell im Gesellschaftshaus auf Sesselmann treffen.
Die aufgeheizte Stimmung, die man am Abend noch spüren wird, spiegelt sich vormittags in der Fußgängerzone nicht wider. Der Zulauf von Passant:innen, die etwas von Schwalbach wissen wollen, ist mau. Genug Zeit also, um sich auf eine Bank zu setzen und zu quatschen. Schwalbach – kurzes, grau-braunes Haar, schwarzes T-Shirt, Sneaker – ist im Brandenburger Dorf Schwerin aufgewachsen und saß dort elf Jahre in der Gemeindevertretung. Sie war 27 Jahre bei der Bundespolizei tätig, unter anderem in der öffentlichen Verwaltung. „Die Hauptaufgabe eines Landrats ist es, den Kreis zu verwalten. Ich bringe viel Verwaltungserfahrung mit“, sagt Schwalbach. Seit März ist sie Sprecherin des Grünen-Regionalverbands Sonneberg-Hildburghausen.
Im Vergleich zu den anderen Kandidat:innen ist Schwalbach im Landkreis eine Unbekannte. Sie ist erst 2020 mit ihrer Patchworkfamilie aus dem Südosten Brandenburgs in die Spielzeugstadt gezogen. „Sonneberg war viele Jahre unser Urlaubsort“, sagt Schwalbach. Mit Mann und Kindern war sie oft beim Tag der offenen Tür des Modelleisenbahnherstellers Piko, der seinen Sitz in Sonneberg hat. Die Kinder, erzählt Schwalbach, wollten immer wieder Urlaub in Sonneberg machen. Irgendwann habe die Familie entschieden, dorthin zu ziehen.
Schwalbach sagt, sie wolle gerne Rufbusse einführen und außerdem dafür sorgen, dass Geflüchtete, die nicht mehr im schulpflichtigen Alter sind, an der Volkshochschule einen Haupt- oder Realschulabschluss machen können.
Nicht unwahrscheinlich, dass AfD-Kandidat gewinnt
Seit 2015 engagiert sich die Landratskandidatin für Geflüchtete. Sie und ihr Mann kaufen alte Häuser, sanieren und vermieten sie günstig an Schutzsuchende und Migrant:innen. Damit allein sei es aber nicht getan, sagt Schwalbach. „Ich helfe ihnen, wenn sie Post vom Jobcenter oder dem Migrationsamt bekommen, gehe mit ihnen zum Elternabend der Kita und unterstütze sie bei der Jobsuche.“
Als ein Ukrainer und sein elfjähriger Sohn, die in einem von Schwalbachs Häusern wohnen, an ihrem Wahlkampfstand vorbeispazieren, geht Schwalbach sofort zu den beiden hin. Mithilfe einer Übersetzungs-App fragt sie den Vater, ob er schon einen Unterhaltsvorschuss beantragt habe. Als er verneint, begleitet sie die beiden zum wenige Meter entfernten Sozialamt. Später erklärt sie, dass die Frau des Ukrainers wieder in die Ukraine gegangen sei, samt Kindergeld. Der Vater habe keinen Cent mehr.
Gegen Nancy Schwalbach tritt Jürgen Köpper von der CDU an. Er vertritt seit knapp zwei Jahren den erkrankten Landrat und hat also den Amtsinhaberbonus. Seine Vorhaben: Schwimmbäder erhalten, die Digitalisierung in der Kreisverwaltung voranbringen, den ÖPNV ausbauen.
Laut Köpper ist es nicht unwahrscheinlich, dass der AfD-Kandidat die Wahl gewinne. „Die Menschen hier fühlen sich in Berlin nicht mehr gehört“, sagt der 57-Jährige am Telefon. Er fränkelt so sehr, dass man ihn kaum versteht. Vor allem das geplante Heizungsgesetz sorge bei den Sonneberger:innen für Frustration – was der AfD in die Karten spiele. „Die AfD muss nichts weiter tun, als auf den nächsten Blödsinn aus Berlin zu warten“, sagt Köpper. Er selbst spricht beim Heizungsgesetz vom „Durchsetzen grüner Ideologie mit brutalster Gewalt“ – womit er sich rhetorisch und inhaltlich kaum von der AfD unterscheidet.
Die vierte Kandidatin ist die 43 Jahre alte Anja Schönheit, eine zierliche Frau mit blonden, schulterlangen Haaren. Sie ist Pflegedirektorin der Helios-Klinik im fränkischen Kronach und möchte vor allem Schulden im kommunalen Haushalt abbauen. Erfahrungen in der Kommunalpolitik hat sie keine.
Schönheit wird auch von der Wählergruppe Pro Landkreis Sonneberg (Pro LK Son) unterstützt, die zusammen mit der FDP seit knapp einem Jahr eine Fraktion im Sonneberger Kreistag bildet. Zuvor waren CDU und FDP eine gemeinsame Fraktion. Diese brach auseinander, weil die CDU bei der Sonneberger Bürgermeisterwahl nicht erneut den damals wie heute amtierenden Bürgermeister Heiko Voigt (parteilos) nominiert hatte, sondern die CDU-Politikerin Uta Bätz. Sieben Mitglieder der CDU/FDP-Fraktion waren daraufhin aus der Fraktion ausgetreten und haben Pro LK Son/FDP gegründet.
Jürgen Köpper, CDU-Kandidat
Keine Windkrafträder mit der AfD
Eigentlich wollten Linke, SPD und Grüne eine gemeinsame Kandidatin aufstellen. „Wir Grünen und die Linke waren aber nicht bereit, Schönheit zu unterstützen, weil sie sich nicht klar von der AfD abgrenzt“, erklärt Schwalbach. Spricht man Schönheit auf die AfD an, sagt sie, als Parteilose wolle sie mit allen Fraktionen zusammenarbeiten. Ihr gehe es um eine konstruktive Sachpolitik, nicht um Parteizugehörigkeit. Auf ihrer Webseite schreibt Schönheit, dass sie „großen Wert auf eine unabhängige Arbeit“ lege.
Während die im Thüringer Landtag vertretenen Parteien eine Zusammenarbeit mit der AfD strikt ablehnen, ist es im Kreistag von Sonneberg in dieser Legislaturperiode schon mehrmals zu Kooperationen mit der AfD gekommen – das zeigt ein Blick in die Kreistagsbeschlüsse.
Die CDU zum Beispiel hat einen Antrag zum Verbot von Gendersprache in Behörden mit Ergänzungen der AfD durchgebracht. Der AfD-Antrag „Verabschiedung einer Resolution: ‚Keine Windkraftanlagen im Sonneberger Land‘“ wurde mit Änderungen der damaligen CDU/FDP-Fraktion beschlossen. Im November 2022 hat der Kreistag einen AfD-Antrag zum Thema Energiepreise verabschiedet, in dem der Landrat dazu angehalten wurde, die Landes- und Bundesregierung aufzufordern, „Energiepreise für Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen auf ein verträgliches Maß zu reduzieren“. Welche Abgeordneten mit Ja oder Nein gestimmt haben, wurde nicht dokumentiert.
Die AfD ist mit 9 Sitzen die drittgrößte Fraktion im Kreistag. Die CDU sowie die Fraktion Linke/Grüne haben jeweils 10 Sitze, die Fraktion Pro LK Son/FPD hat 7, die SPD 3. „Die meisten AfD-Abgeordneten zeigen offen ihre Sympathie für Höcke“, sagt Philipp Müller, Linken-Abgeordneter und stellvertretender Vorsitzende der Fraktion Linke/Grüne. Zu den Mitgliedern der AfD-Fraktion zählt neben Sesselmann auch Holger Winterstein, der im Oktober 2022 mit ausgebreiteten Armen auf einem Holocaust-Denkmal posierte und sich dabei fotografieren ließ. „Danach hat sich die AfD-Fraktion nicht von ihm distanziert.“
Der CDU-Kandidat und stellvertretende Landrat Jürgen Köpper sagt, die Zusammenarbeit mit der AfD sei „bei Sachthemen ganz normal, sonst würden wir keine Kreistagsbeschlüsse fassen können“. Zum größten Teil säßen ja „vernünftige Menschen“ in der AfD-Fraktion, „darunter drei Rechtsanwälte“. Köpper nehme die AfD-Abgeordneten genauso ernst wie jeden anderen Abgeordneten im Kreistag. „Anders kriege ich auf kommunaler Ebene keine Sachpolitik zustande.“
Dem Antrag zu Energiepreisen wurde zugestimmt
Auf die Frage, ob man die AfD durch eine Zusammenarbeit nicht normalisieren würde, sagt er: „Was soll ich Ihnen jetzt drauf antworten? Die AfD ist eine Partei, die nicht verboten ist, sie ist legitim durch die Bevölkerung ins Parlament gewählt worden. Wie soll ich eine Zusammenarbeit verhindern, wenn es um Sachthemen geht?“ Anderswo, sagt Köpper, würde auf kommunaler Ebene auch mit der AfD kooperiert.
Beate Meißner, Fraktionsvorsitzende der CDU im Kreistag, versichert hingegen, dass es keine Zusammenarbeit ihrer Fraktion mit der der AfD gebe. „Meiner Erinnerung nach hat die CDU-Fraktion im Kreistag keine Anträge gemeinsam mit der AfD beschlossen“, sagt sie. Auf die Frage, ob CDU-Fraktionsmitglieder denn schon mal für einen Antrag der AfD gestimmt hätten, antwortete Meißner nicht.
„Wir arbeiten nicht mit der AfD zusammen“, sagt Philipp Müller von der Linken. „Der einzige AfD-Antrag, dem wir als Fraktion je zugestimmt haben, ist der zum Thema Energiepreise. An diesem Antrag war nichts auszusetzen, er war sachlich und wurde fraktionsübergreifend angenommen.“
Holger Scheler, SPD-Kreistagsabgeordneter, teilt mit, er könne „nicht mit Bestimmtheit verneinen“, dass schon mal eines der drei Fraktionsmitglieder für einen AfD-Antrag gestimmt habe. „Ich denke, wir haben je nach Sachfrage entschieden und überdies auch keinen Fraktionszwang.“ Scheler hält es für falsch, die Zusammenarbeit mit der AfD im Kreistag kategorisch auszuschließen.
Natürlich müsse man sich von menschenfeindlichen Positionen abgrenzen, das verstehe sich von selbst, sagt er. Aber auf Kreisebene gehe es nicht um Parteipolitik oder Ideologie, sondern hauptsächlich um Sacharbeit, etwa um die Schließung einer Schule oder die Finanzierung des regionalen Krankenhauses. „Bei den Kreistagswahlen 2019 haben 24 Prozent der Wähler:innen für die AfD gestimmt. Man ist kein Demokrat, wenn man das ignoriert.“
Die Fraktion Pro LK Son/FDP hat sich auf Anfrage der taz nicht zurückgemeldet. Laut Kreistagsabgeordneten komme es aber häufiger vor, dass die AfD für Anträge der Fraktionsgemeinschaft stimme.
Landkreis ist ländlich und abgeschieden
Hat Robert Sesselmann eine Chance, die Landratswahl zu gewinnen?
Bei der Bundestagswahl 2021 wurde die AfD in Sonneberg mit 28 Prozent die stärkste Kraft. Nur in 4 von 17 Landkreisen in Thüringen haben noch mehr Wähler:innen für die Partei gestimmt. Auch bei der EU-Wahl 2019 hat die AfD in Sonneberg gewonnen.
„Die AfD hat in Sonneberg ein großes Wähler:innenpotential“, sagt Axel Salheiser vom Jenaer Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ). „Dort gibt es ein dezidiert rechtsextremes Publikum. In den letzten Jahren sind deutschlandweit bekannte Neonazis wie Frank Rennicke oder Sebastian Schmidtke in die Region gezogen. Der Landkreis ist sehr ländlich und abgeschieden, die Neonazis können dort ungestört ihr Ding machen.“ Auch Felix Steiner von Mobit, der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus in Thüringen, sagt: „In und um Sonneberg gibt es eine ganz klar rechtsextreme Szene, die sich von Reichsbürgern hin zu Neonazis streckt und sehr aktiv im Bereich Rechtsrock ist.“
Salheiser zufolge stehen die Chancen für Sesselmann nicht schlecht. „Die AfD ist in Südthüringen relativ mobilisierungsstark.“ Doch am Ende, vermutet der Soziologe, werde es zum „Alle-gegen-die-AfD-Effekt“ kommen – also dazu, dass im zweiten Wahlgang alle demokratischen Parteien den AfD-Konkurrenten unterstützen und so ein AfD-Sieg verhindert werde. „Wir haben ja gesehen, was passierte, als die Südthüringer CDU Hans-Georg Maaßen bei der Bundestagswahl 2021 als Direktkandidaten für den Wahlkreis 196 aufgestellt hat, zu dem auch Sonneberg gehört“, sagt Salheiser. „Die demokratischen Parteien haben gegen ihn mobilisiert, und er hat das Mandat nicht geholt.“
Auch der Linken-Abgeordnete Müller vermutet, dass spätestens in der Stichwahl ein:e Kandidat:in der demokratischen Parteien gewinnen werde. Es kommt dann zu einer Stichwahl zwischen den zwei stärksten Kandidat:innen, wenn im ersten Wahlgang kein:e Kandidat:in mehr als 50 Prozent der Stimmen holt. Thomas Heine dagegen, stellvertretender Kreisvorsitzender der Linken, hält „die Gefahr für real“, dass Sesselmann im ersten Wahlgang gewinnen könnte.
Bei der Stichwahl im brandenburgischen Landkreis Oder-Spree im Mai hat die AfD nur ganz knapp verloren. Anders als Linke und Grüne hatten CDU und Freie Wähler dort nicht explizit zur Wahl des SPD-Kandidaten aufgerufen – wofür sie scharf kritisiert wurden. Wie wollen sich die demokratischen Parteien in Sonneberg verhalten, falls es zu einer Stichwahl zwischen Sesselmann und einer Kandidat:in kommen sollte, die nicht ihre eigene ist?
Linke, Grüne und SPD versicherten der taz, dann „selbstverständlich“ die AfD-Konkurrent:in zu unterstützen. Die Kreisvorsitzende der CDU Beate Meißner hingegen wollte sich nicht klar äußern und antwortete nur: „Diese Annahme ist rein spekulativ und stellt sich nicht.“
Firmen und Tourismus würden Fern bleiben
Würde Sesselmann gewinnen, wäre das ein „sehr beunruhigendes und erschreckendes Signal“, sagt Salheiser vom IDZ Jena. Der Kreisvorsitzende der Linken, Michael Stammberger, fürchtet, dass dann weniger Tourist:innen nach Sonneberg kommen könnten und sich keine Firmen mehr ansiedeln würden: „Das wäre ein großer Nachteil für die weitere Entwicklung des Landkreises.“
Als Vorsitzender des Kreistags könnte ein AfD-Landrat zwar eine gewisse Richtung vorgeben, am Ende entscheidet er aber nicht alleine, was im Landkreis passieren soll, sondern muss umsetzen, was der Kreistag beschließt. Das heißt: Je mehr Abgeordnete er auf seiner Seite hat, desto größer sein Einfluss. Aktuell sieht es so aus, als würde sich die Zahl der AfD-Abgeordneten im Sonneberger Kreistag künftig eher vergrößern als verkleinern. Neben der Landtagswahl finden nächstes Jahr auch Kommunalwahlen in Thüringen statt. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die AfD dann Sitze dazugewinnt.
Die Sonneberger:innen, die man auf der Straße treffen kann für eine spontane Blitzumfrage, sind, und das immerhin macht Hoffnung, entschlossene Demokrat:innen: „Ich wähle Herrn Köpper, er hat seinen Job gut gemacht die letzten beiden Jahre“, sagt eine 83-jährige Sonnebergerin, die an einer Bushaltestelle in der Sonneberger Innenstadt wartet.
„Die AfD schimpft nur.“ Eine 33 Jahre alte Mutter: „Ich weiß noch nicht, wen ich wähle, aber definitiv nicht die AfD.“ „Die AfD wäre das Letzte, was ich wählen würde“, versichert eine Rentnerin. Ihre zwei Freundinnen stimmen ihr bei. „Die reden einem nur nach dem Mund, bieten aber keine Lösungen an.“ Ein Rentner mit kurzer beiger Hose und Sandalen sagt: „Falls Robert Sesselmann Landrat werden sollte, gehen wir so lange auf die Straße, bis er freiwillig wieder zurücktritt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen