Abgehängt in Frankreich: Frustriert auch ohne gelbe Weste
Fünf Millionen Franzosen leben in sogenannten Problemvierteln. Ihr Alltag ist geprägt von Armut, Kriminalität und Polizeigewalt.
Es verhält sich bodenständig und freundlich hier rund um den Bahnhof. Mantes, wie die Einheimischen sagen, hat rund 45.000 Einwohner, die Arbeitslosenquote liegt je nach Viertel teilweise bei fast 25 Prozent. Die Kleinstadt direkt an der Seine ist 50 Kilometer von Paris entfernt und noch auf der Île-de-France. So heißt der Großraum der Hauptstadt: In ihm leben zirka 12,2 Millionen Menschen – fast 20 Prozent der Französ*innen leben also auf nur 2,2 Prozent der gesamten Landesfläche.
„Das stresst“, sagt Hassan, Mitte vierzig und Tresengast. Er macht technische Gemeindedienste und er ist zu Hause im Viertel Val Fourré, einer Trabantensiedlung am Rande von Mantes, die von 1959 bis 1977 entstand. Heute leben dort nur noch rund 7.000 Menschen von einst über 20.000 – schon ab Anfang der 1990er Jahre wurden immer wieder Hochhäuser in der extrem verdichteten problematischen Zone gesprengt.
Hassan will nicht seinen ganzen Namen preisgeben, er fürchtet Jobprobleme. Der gebürtige Marokkaner, der wie die meisten Bewohner*innen der sogenannten Cités (siehe Kasten) einen französischen Pass hat, bestellt noch einen Espresso. Im Val Fourré, einem der vielen „quartiers sensibles“ des Landes, sei man unter sich. „Wir sind schon seit mindestens 20 Jahren kein gemischtes Viertel mehr. Von den ‚echten‘ Franzosen setzt hier fast niemand einen Fuß rein.“
Nur für „echte“ Franzosen
Und die Gilets jaunes? Die Bewegung, die mit ihren Aktionen so viele Verletzte und vorübergehende Festnahmen ausgelöst hat, wie seit dem tumultartigen Mai 1968 nicht mehr? „Die Gelbwesten“, sagt Hassan, „na ja ,das sind eben ‚les français‘, die sich jetzt gegen ihren ‚roi‘, gegen ihren König Macron, stellen. Die Leute, die da aufbegehren, das sind nicht wir, das ist nicht die Banlieue.“ Die Probleme, etwa das fehlende Haushaltseinkommen oder die schlechten Jobs, die seien zwar teilweise in den oft armen, migrantischen Problembezirken innerhalb und außerhalb der Städte die gleichen. „Aber die allermeisten von uns hier haben sich längst damit abgefunden, dass, egal welche Regierung und welcher Präsident dran sind, sich an unserer Misere nichts ändert.“ Den Gelbwesten wünscht Hassan „viel Glück, zumindest denen, die keine Rechten sind.“ Es sei schon erstaunlich, wie schnell „der weiße Durchschnittsfranzose“ zumindest monetäre Verbesserungen erzwingen könne. „So ein Einlenken, das gibt es für die Banlieue nicht.“
Auf das Gemeindeamt von Val Fourré scheint am nächsten Morgen, an einem belebten, leicht rumpeligen Marktplatz mit Geschäften und Straßencafés, die Sonne. Ihre Strahlen, sie verschieben im Eingang der Gemeinde den Schattenwurf des dort angebrachten Mottos „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ stetig nach rechts. Hassan, zuverlässiger, sympathischer Blick, wohnt hier nahbei. Und er hat einen 16-jährigen Sohn Ali.
Die Cités
Rund 5 der 65 Millionen Französ*innen leben in „quartiers sensibles“, oft liegen diese in sogenannten „Cités“, Hochhäusersiedlungen rund um Großstädte, die frankreichweit in den 1960er und 1970er Jahren entstanden. Heute wohnen dort vor allem Menschen aus dem arabischen, türkischen und afrikanischen Raum. Rund 75 Prozent der Bewohner*innen haben keinen französischen Berufsabschluss oder kein Abitur. Die Armutsquote liegt zwischen 25 und 75 Prozent. Drogenkriminalität und Polizeigewalt sind in den Cités beide virulent. Gegen Polizist*innen im Dienst laufen mehrere Verfahren.
Die Gelbwesten-Proteste
Seit November protestieren Menschen in ganz Frankreich und zum Teil gewalttätig gegen die Regierung von Emmanuel Macron. Auslöser war die für Anfang 2019 geplante – und mittlerweile auf Eis gelegte – Erhöhung der Ökosteuer. Auch am Wochenende vor Weihnachten sind wieder Zehntausende Gelbwesten auf die Straße gegangen, deutlich weniger als in den vergangenen Wochen. Dennoch seien in ganz Frankreich 220 Menschen festgenommen worden. (haw, dpa)
Am 6. Dezember, knapp drei Wochen ist es her, rät er ihm, nicht zur Schule zu gehen. Er macht sich Sorgen, er hat gehört, dass es erneut zu Demonstrationen rund um das Lycée von Ali, das Saint-Exupéry, kommt. Die „Saint-Ex“ genannte Schule, ein großer und gesichtsloser Bau, hat ein weites Einzugsgebiet – hier funktioniert, am Cité-Rand gelegen, zumindest die soziale Mischung.
Schüler*innen dort zwischen 15 und 18 Jahren protestieren, wie vielerorts in Frankreich dieser Tage, unter anderem gegen eine Abiturneuordnung und eine aus ihrer Sicht ungerechte Neuregelung des Hochschulzugangs. Sie sind nicht Teil der Gelbwesten, sie haben sich aber angehängt an den hohen Mobilisierungsgrad der Bewegung. Seit dem 4. Dezember mischten sich auch in Mantes Leute unter die allermeist friedlichen Demonstrant*innen, die auf Krawall und Sachbeschädigung aus waren. Mülltonnen brennen, auch zwei geparkte Autos. Zunehmend wird es gewalttätiger, die Polizei setzt Tränengas ein und die in Deutschland verbotenen Hartgummigeschosse.
Am 6. Dezember verpasst dann ein um die Welt gehendes Video der tatsächlich hübschen Kleinstadt Mantes-la-Jolie (joli/e heißt hübsch auf Französisch, Anm. der Red.) ein gravierendes Imageproblem. Es zeigt, wie rund 150 junge Menschen zwischen 12 und 19 Jahren am abrupten Ende einer Demonstration des „Saint-Ex“ und umliegender anderer Schulen in einem Hof kollektiv niederknien. Die meisten tragen Handschellen oder Kabelbinder um die Hände. Alle haben die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Sie starren gegen Wände oder sie starren auf die Rucksäcke der anderen. Manche Augen sind aufgerissen, andere geschlossen.
Einige Schüler*innen haben in dieser martialisch anmutenden Aktion solche Angst, dass sie später berichten, sich in die Hose gemacht zu haben und so stundenlang eingenässt blieben. Vor Ort ist die Police Nationale und die zu ihr gehörende CSI, eine spezielle regionale Schutzpolizei. Ein schwer bewaffneter CSI-Polizist filmt die letztlich stundenlang andauernde Szene. Dessen Autorenschaft ist mittlerweise eindeutig bewiesen; das Video erscheint am selben Tag auf Twitter. Aus dem Video-Off kommt die Stimme: „Da haben wir aber mal eine brave Klasse.“ Eine Demütigung wie aus dem Lehrbuch.
Yasser Sriti, 17, ist einer der 151 Festgesetzten von Anfang Dezember. Er kommt in einer Schulpause mit seiner Mutter Rachida in das kleine marokkanische Imbisslokal „Délices de Fez“. Schräg gegenüber liegt es vom „Saint-Ex“ und Yasser zieht sich erst mal einen „gateau“ rein, ein Küchlein, verziert mit Smarties. Er wirkt besonnen und offen, „ich hatte bis zu diesem Tag nichts mit der Polizei am Start.“ Das ist in einem schwierigen Bezirk wie Val Fourré und gerade bei jungen Männern eher eine Seltenheit. Personenkontrollen durch die patrouillierende Polizei kommen hier wie überall im Land sehr häufig und oft völlig anhaltslos vor. Sie betreffen fast nur arabische oder nichtweiße Männer, besonders jüngere. Immer wieder gibt es Berichte von rassistischen Sprüchen und zum Teil brutal auftretender Polizei.
Yassers Mutter Rachida, 39, die auf Lehramt studiert, hat kurz nach der Festsetzung und den vorübergehenden Festnahmen der 151 jungen Leute, das „C.D.J.M“ mitbegründet, das „Kollektiv zur Verteidigung junger Menschen aus dem Raum Mantes“. Mittlerweile gibt es über 30 Betroffene und Unterstützer*innen, die aktiv im Kollektiv sind. Unterstützt von drei gratis arbeitenden Pariser Anwälten, hat es bis jetzt bereits mehr als 30 Strafanzeigen und ebenso viele Zivilklagen bei der Staatsanwaltschaft von Versailles gestellt. Außerdem hat die Schülergewekschaft UNL-SD Anzeige erstattet.
15 in einer Zelle
Gegen unbekannt hat der Jurist Arié Alimi im Auftrag des Kollektivs jeweils einen „Akt der Folter- und Barbarei“ angezeigt sowie „illegale Verbreitung von Videos gefesselter Personen“. Die Ermittlungen laufen. Und „wir fordern“, so Rachida, „im neuen Jahr offene Gespräche mit der Schule, dem Bürgermeister – und der Polizei.“ Von diesen Seiten sei bis jetzt nichts gekommen.
Yasser schildert im Imbiss noch mal seine Erlebnisse, er bleibt ruhig, redet sanft. Er berichtet, wie die Polizei die Jugendlichen eingekesselt, zusammengetrieben habe in einem schulnahen Hof und mit Ausdrücken wie „der Araber da, der Bimbo da“. Manche Mitschüler hätten auf Knien und mit gefesselten Händen über drei Stunden warten müssen, bis ihre Personalien ermittelt und sie zu einer Wache gefahren wurden. Yasser hatte „Glück“, wie er es nennt – nach 35 Minuten brachten sie ihn zum „Hôtel de Police“ von Mantes. „Wir waren über Nacht 15 Schüler in einer Zelle für fünf. Ich habe mich wie ein Tier gefühlt. Wasser wurde uns nur selten gegeben.“
Irgendwann, Yasser nahm kein Essen zu sich, sei ihm ein Beamter mit einem Wattestäbchen im Mund herumgefahren. „Er wollte durch eine Speichelprobe herauskriegen, ob ich jemand vergewaltigt hatte. Es war einfach eklig.“ Für Yasser, der 2020 sein Abitur macht, steht fest: „Nach der Aktion verabscheue ich die Flics“, wie Polizisten in Frankreich genannt werden. „So was schürt Hass.“
„Unnötig brutal“
Sebastian Roché ist Soziologe, er forscht am weltbekannten Institut CNRS in Grenoble. Roché ist ein präziser, umgänglicher Mann, er unterrichtet auch an der renommierten nationalen Polizeischule in Lyon. Am Telefon spricht er von einem „Totalversagen“ der Einsatzkräfte in Mantes. Rochés Botschaft schon seit geraumer Zeit: „Unsere Polizei leidet. Und deshalb leidet die Banlieue an der Polizei.“ Es fehle der organisatorisch höchst kompliziert aufgestellten Behörde an einer grundlegenden, wertschätzenden und kommunikativen Strategie im Umgang mit der Bevölkerung. Auch unter Macron werde sich da nichts ändern: „Es wird weiterhin nur aus den Einsatzsituationen heraus entschieden werden und deshalb meist unnötig brutal.“
Am Bahnhof von Mantes ist in der Bar „Le Lutetia“ die TV-Fußballberichterstattung über „Shalkce“ zu Ende. Am Tresen steht immer noch Hassan, er trinkt einen letzten Espresso. Dann macht er sich auf den Weg nach Hause ins Val Fourré. „In unserem Viertel kommt die Religion zurück.
Das ist nicht gut. Religion ist Privatsache. Aber wenn sich der Staat nicht um seine schwierigen Ecken kümmert, muss er sich nicht wundern.“ Hassan geht hinaus in die Dunkelheit. Eine gelbe Warnweste hat er nicht dabei.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands