75 Jahre Grundgesetz: Verfassungsauftrag nicht erfüllt
Von Beginn an sah die deutsche Verfassung vor, jahrhundertealte Entschädigungszahlungen an die Kirchen zu stoppen. Die Umsetzung scheitert bis heute.
Die amputierte Inselabtei im Chiemsee ist Geburtsort des Grundgesetzes. Vor 75 Jahren, am 23. Mai 1949, hat der Parlamentarische Rat in Bonn die Verfassung verkündet, doch hier, auf der Herreninsel, saßen Carlo Schmid, Otto Suhr und andere Experten zusammen, um seine Grundlagen zu entwerfen.
Nicht im pompösen Königsschloss Ludwigs II. hinten im Wald, zu dem die meisten Besucher:innen abbiegen, die vom Schiff steigen. Hier vorne, vom Anleger nur ein paar Stufen hinauf, wurde nach der Nazizeit über eine Verfassung gestritten. In klösterlicher Bescheidenheit, „überschattet“ vom Heiligen Geist, wie Anton Pfeiffer, CSU-Vorsitzender des Verfassungskonvents, damals bei der Eröffnung sagte.
Doch bei aller christlichen Prägung sollte der neue Staat säkular sein. Der Grundgesetzentwurf von Herrenchiemsee kam, wie schon die Weimarer Reichsverfassung, ohne Gottesbezug aus. Aus Weimar übernahm das fertige Grundgesetz schließlich die Forderung, dass Schluss sein sollte mit staatlichen Entschädigungszahlungen an die Kirchen. Diesen Verfassungsauftrag wollte die Ampelregierung nach ihrer Vereidigung 2021 endlich umsetzen. Im Koalitionsvertrag ist das festgeschrieben.
Doch eingelöst ist das Versprechen noch nicht. Über 600 Millionen Euro wurden im vergangenen Jahr wieder auf kirchliche Konten überwiesen, zusätzlich zur Kirchensteuer und dem Unterhalt von Kindergärten und Krankenhäusern – trotz der klammen Staatskassen und obwohl eine gemeinsame Arbeitsgruppe mit Ländern und Kirchen schon lange berät. Warum wird der Dauerauftrag nicht endlich beendet?
Kathedralen zu Brauereien
Die Bäume auf der Herreninsel wurzeln tief in christlichem Boden. Hier fasste im frühen 7. Jahrhundert das Christentum Fuß in Bayern. Hier wurden 749 zwei karantanische Fürstensöhne getauft, bevor sie Slowenien christianisierten. Hier, im alten Kloster, regierten jahrhundertelang kirchliche Fürstbischöfe – auch über die weltlichen Dinge. Bis der Staat die Macht an sich riss und die Kirchen enteignete.
In den Klosterfluren hängt ein Bild des Malers Wilhelm Boshart. Es zeigt die Aufhebungskommission, die 1803 in einem kleinen Ruderboot zur Herreninsel übersetzt. Auf dem Gemälde thronen über der Stiftskirche – der Kathedrale des Fürstbistums Chiemsee – noch zwei Türme. Schon wenig später wurden sie abgerissen und das Bistum aufgelöst. Der verstaatlichte Inseldom wurde zur Brauerei umgebaut.
Das hat viel mit Napoleon zu tun, dem französischen Kaiser. Als er zu Beginn des 19. Jahrhunderts Gebiete links des Rheins annektierte, sprach das Heilige Römische Reich Deutscher Nation den dortigen Fürsten rechtsrheinischen Kirchenbesitz als Entschädigung zu. Besitz wie das Kloster Herrenwörth.
Als Kompensation für diese und frühere Enteignungen fließen bis heute Gelder an die Kirchen. Die Regierungen des Kaiserreichs, der Weimarer Republik, der Nationalsozialisten, der DDR und der Bundesrepublik haben weiter gezahlt.
Seit 1949 flossen mehr als 20 Milliarden Euro. Kaufkraftbereinigt sind das sogar 36 Milliarden Euro. Dabei war vor 75 Jahren schon die Ablöse dieser Zahlungen vorgesehen, sowohl in der Verfassung der DDR als auch im Grundgesetz.
Zum Jagen getragen
Das entstand nicht im luftleeren Raum. Als die Delegierten und Gäste des Verfassungskonvents am 10. August 1948 am Steg der Herreninsel ankamen, folgten sie dem Auftrag der elf Ministerpräsidenten der Westzone. Die wiederum folgten widerstrebend dem Auftrag der alliierten Besatzungsmächte. Angesichts der Berlin-Blockade sorgten sich die Länderchefs, dass eine westdeutsche Verfassung die Teilung des Landes zementieren könnte.
Und insbesondere Bayern wollte seine Eigenständigkeit nur ungern durch eine übergeordnete Instanz einschränken lassen. Die Einladung nach Herrenchiemsee war der Versuch des bayerischen Ministerpräsidenten, den Verfassungskonvent zum Heimspiel zu machen.
Das Verhältnis zwischen Ländern und dem zu erschaffenen „Bund“ war denn auch einer der zentralen Konflikte in den zweiwöchigen Beratungen, bei denen von den Nazis Verfolgte und Mittäter zusammensaßen. Sie tagten in einem dunkel getäfelten Kaminzimmer, das bis heute erhalten ist.
Bei allem Streit war man sich einig, nur ein Provisorium schaffen zu wollen. Der Sozialdemokrat Carlo Schmid setzte durch, dass die Grundrechte einen zentralen Platz erhielten. Der erste Artikel des Herrenchiemseer Entwurfs lautete: „Der Mensch ist nicht um des Staates willen, sondern der Staat um des Menschen willen“. In Bonn dann wurde dieser erste zugunsten des zweiten Satzes gestrichen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Zurückgreifen konnten die Herrenchiemseer auf bereits bestehende Landesverfassungen in Süddeutschland, wie jene, die der Sozialdemokrat Wilhelm Hoegner im Exil für Bayern entworfen hatte. Carlo Schmid brachte seine Verfassungserfahrung aus Württemberg-Hohenzollern ein.
Auch Weimar als Vorbild
Die Weimarer Reichsverfassung war ebenfalls ein Referenzpunkt. Aus ihr übernahmen die Architekten des Grundgesetzes die Religionsverfassungsartikel, die eine sogenannte „freundliche“ – oder „hinkende“ – Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften in Deutschland vorsahen.
Auch Artikel 138 der alten Verfassung wurde zum Bestandteil des Grundgesetzes erklärt: „Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf.“
An die Stelle des Reiches trat mit dem Grundgesetz der Bund. Und der tat jahrzehntelang nichts, um die Staatsleistungen abzulösen. Erst 2012 brachte die Linksfraktion das Thema im Bundestag auf. Zusammen mit FDP und Grünen legte sie 2020 schließlich wieder einen Gesetzentwurf vor, der an der Stimmmehrheit der Großen Koalition scheiterte.
Als die Ampelregierung 2021 antrat, versprach sie im Koalitionsvertrag: „Wir schaffen in einem Grundsätzegesetz im Dialog mit den Ländern und den Kirchen einen fairen Rahmen für die Ablösung der Staatsleistungen.“
Der Prozess stockt
Die Kirchen sind damit weitgehend einverstanden. Sie sind, wie auch die Länder, in einer Arbeitsgruppe vertreten, die unter der Ägide des Bundesinnenministeriums Gesetzentwürfe vorbereiten soll. Doch der Prozess stockt. Der Föderalismus, der auf Herrenchiemsee dem Grundgesetz eingeschrieben wurde, blockiert in diesem Fall einen Verfassungsauftrag.
Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) sagte zuletzt, das Thema Staatsleistungen habe für die Länder überhaupt keine Priorität. Auch in Hessen, das derzeit der Ministerpräsidentenkonferenz vorsteht, wird abgewunken. „Bislang ist der Bund mit einem Prozess, der den notwendigen Rahmen einer Ablösung festlegt, gescheitert“, sagte ein hessischer Regierungssprecher der taz auf Nachfrage.
Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder wurde Mitte Mai nach einer Audienz bei Papst Franziskus noch deutlicher: Er habe im Gespräch mit dem Kirchenoberhaupt deutlich gemacht, dass Bayern grundlegend gegen eine völlige Trennung von Staat und Kirche sei. Das Thema einer Ablösung der Staatsleistungen in Deutschland sei „vom Tisch“, das sei auch unter den Bundesländern „so intoniert“.
Es geht den 14 betroffenen Ländern – Bremen und Hamburg zahlen nichts – auch ums Geld. Voraussichtlich rund 11 Milliarden Euro müssten sie für eine abschließende Ablöse an die Kirchen, die die Formulierung im Grundgesetz vorschreibt, insgesamt hinblättern. Die Kirchen allerdings wären auch zu Ratenzahlungen bereit. Anne Gidion, Prälatin der Evangelischen Kirche in Deutschland, sagte zuletzt: „Man kann über Finanzmodelle nachdenken, die nicht über Einmalzahlungen reden, sondern über eine lange gestreckte Zeit, die verträglich ist.“
Ampel-Fraktionen machen Druck
Ausgerechnet Bayern zeigt, wie zumindest ein Teil der Ablöse geregelt werden könnte. Schon 2023 hieß es aus dem dortigen Kultusministerium, dass vertragliche Ablösungen insbesondere auf dem Feld staatlicher Baupflichten an kirchlichen Gebäuden seit Jahren praktiziert würden.
Konstantin von Notz, Vize-Chef der Grünen im Bundestag, war schon 2020 am Gesetzentwurf zur Ablöse beteiligt. „Dass Vertreter der Länder zum Teil einen generellen Unwillen bei der Erfüllung des Verfassungsauftrags erkennen lassen, ist bemerkenswert“, sagte er jetzt der taz. „Denn das Grundgesetz lässt keinerlei Zweifel an der Notwendigkeit des Vorhabens. Geradezu unseriös ist es, dies als Zugewandtheit gegenüber den Kirchen vermarkten zu wollen. Eine solche Politik ist das genaue Gegenteil, denn sie wird den Kirchen langfristig schaden.“
Der religionspolitische Sprecher der SPD, Lars Castellucci, sagte nach Söders Rom-Besuch: Er prophezeie, dass diejenigen, die sich gegen eine Ablösung stellten, irgendwann zusähen, wie die Zahlungen an die Kirchen gekürzt und eingestellt würden. „Und vielleicht ist das sogar die heimliche Intention aufseiten der Länder?“
Ob sie damit rechnen, dass es noch in der laufenden Legislaturperiode zu einem Grundsätzegesetz kommt, wollen die zuständigen Ampelvertreter:innen nicht sagen. Dem Widerstand der Länder zum Trotz könnten die Ampel-Fraktionen im Bundestag ein solches Gesetz beschließen.
Während Bund und Länder sich streiten, fordert die AfD, den Kirchen Steuervergünstigungen zu streichen, wenn sie weiterhin am Kirchenasyl und an der Unterstützung der Seenotrettung festhalten. Die Staatsleistungen will sie ab 2027 ersatzlos streichen, was besonders die Kirchen in Ostdeutschland hart treffen würde. Dieses Vorgehen wäre verfassungswidrig, doch nicht der einzige Punkt, in dem die Partei die menschenfreundlichen Ideen von Herrenchiemsee ignoriert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen