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70 Jahre Gastarbeitervertrag mit ItalienMehr amore per favore!

Kommentar von

Giorgia Grimaldi

Eine Liebesgeschichte wider Willen: Italienische Arbeitskräfte bauten Deutschland mit auf und prägen es bis heute. Dieser Erfolg kann uns jetzt lehren.

Millionen Ita­lie­ne­r*in­nen haben sich nach 1955 auf den Weg nach Deutschland gemacht und unser Land più bello gemacht Foto: United Archives/Keystone/imago

D eutschland brauchte 1955 arbeitswillige Hände, Italien eine Perspektive. Nach dem Anwerbeabkommen, das es deutschen Unternehmen erstmals ermöglichte, Arbeitskräfte aus Italien legal anzustellen, machten sich Millionen Menschen auf den Weg, um das unbekannte, vom Krieg gebeutelte Germania wieder aufzubauen. Damit wurde Deutschlands Zukunft als Einwanderungsland besiegelt – lange bevor man dieses Wort überhaupt kannte.

In den folgenden Jahrzehnten kamen rund 4 Millionen Menschen aus Italien zum Arbeiten nach Deutschland, Hunderttausende blieben. 70 Jahre sind seitdem vergangen, und bis heute ist Deutschland das EU-Land mit dem höchsten Anteil italienischer Zuwanderung. Der Anfang dieser Liebesgeschichte war allerdings alles andere als dolce, sondern voller Skepsis und Rassismus. Der Blick zurück zeigt aber: Diese Migration wurde zur Erfolgsgeschichte. Und davon brauchen wir aktuell mehr denn je. Wenn es Deutschland geschafft hat, Italien so ins Herz zu schließen, dann geht das auch mit anderen Nationen.

Deswegen: Mehr amore per favore! 




Was für ein fader Anblick wäre Deutschlands Stadtbild ohne italienische Eisdielen, Vinotheken und Restaurants? Kaum vorstellbar. Die Gastronomie ist fest in italienischer Hand, die einstigen Gäste sind längst Gastgeber geworden. Auch die deutsche Sprache trägt italienische Spuren in sich: Spesen, Skonto, Ghetto, Quarantäne. Selbst das „aufdonnern“, wenn Frau sich richtig in Schale wirft, geht auf die italienische Dame „donna“ zurück.

Mit den Jahren stellte sich in Deutschland eine unerfüllte Sehnsucht nach Bella Italia ein. Und die bedient natürlich die Werbebranche. Wer erinnert sich nicht an die Ferrero-Werbung „Caffè? Solo con Giotto!“? Ein Haps, und Italien liegt auf der Zunge. Zumindest das Italien, das sich Deutschland über Jahrzehnte erschmeckt hat. Dabei kennt man in Italien die Praline kaum. Sie ist ein Produkt, das allein für den deutschen Markt entwickelt wurde.

Heute eine perfekte Symbiose

Für Italien verkörpert Deutschland dagegen Ordnung und eine funktionierende Verwaltung jenseits der Alpen. Rechnungen, die bezahlt werden. Steuern, die eingezogen werden. Der Deutsche gilt als korrekt, pflichtbewusst – etwas ruppig, aber zuverlässig. Einer, der pünktlich ist und pünktlich isst. Um 18 Uhr Abendbrot. Gut für die Verdauung. Von Deutschland kann man sich eine Scheibe abschneiden, da macht nicht jeder, was er will. Außerdem, neugierig und reisefreudig, überall sind sie, diese tedeschi!

Alles Klischees natürlich, zugespitzt und liebevoll überzeichnet. Denn hierzulande funktioniert längst nicht mehr alles so reibungslos, wie der Ruf es besagt. Und in Italien ist es nicht so toll, wie es immer heißt. Oder warum sonst müssen noch immer viele junge Menschen das Land verlassen, um Arbeit zu finden? Anders als damals sind es aber nicht mehr die, die vor allem körperliche Arbeit im Bau und in Fabriken verrichten, sondern die klügsten Köpfe des Landes. Braindrain statt Dolce Vita.

Und trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – scheinen Deutschland und Italien heute wie füreinander gemacht. Eros Ramazzotti ist eine feste Größe des deutschen Pops, Wurstel und Crauti sind längst Teil der italienischen Grundversorgung. Eine perfekte Symbiose also? Ja, zumindest heute.


Von Spaghettifressern zu Sympathieträgern

Doch das deutsch-italienische Verhältnis war nicht immer so harmonisch. Anfangs gab es wenig Zuneigung, als die ersten sogenannten Gastarbeiter hier Fuß fassten. Die Unterkünfte hießen nicht ohne Grund „Baracken“. Und „Spaghettifresser“ war noch eine der milderen Beleidigungen. Aus Zeitzeugenberichten geht hervor, dass auch von Messerstechern und ausländischen Männern die Rede war, die deutsche Frauen belästigen würden. Rassismus aus der Vergangenheit, der erschreckend vertraut klingt. Nur richtet er sich heute gegen andere.

Was also hat Italien mit Deutschland gemacht? Sehr viel. Das Abkommen von 1955 hat bewiesen, dass Deutschland kann, wenn es will, diese Sache mit Toleranz, Offenheit und Integration. 70 Jahre später blicken wir auf etwas, das gelungen ist. Aus einem arbeitsmarktpolitischen Instrument ist eine kulturelle Verbindung geworden. Geteiltes Arbeiten wurde zu geteiltem Leben und geteilter Liebe.

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9 Kommentare

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  • Schön geschrieben. Damit es etwas lehren kann, muss man aber auch die Unterschiede zu heute erwähnen:

    Es gab ein "Anwerbeabkommen..[..].. Arbeitskräfte aus Italien".



    Das sagt schon viel. Es wurden quasi Fachkräfte eingestellt. Vertraglich geregelt. Familien zogen im Rahmen der EU Freizügigkeit später nach.



    Es blieben Hundertausende.



    Christlicher Kulturkreis.



    Heute: kein Abkommen, nur langsame Integration in den Arbeitsmarkt, politisches Asyl auch für Familien, Millionen, weiter entfernte Kulturkreise.

    Nicht zuletzt verändert sich auch die Gesellschaftswahrnehmung: Was hier als "..Klischees natürlich, zugespitzt und liebevoll überzeichnet." benannt wird, sind heute Mikroaggressionen bis hin zu rassistischen Zuschreibungen (je nach Richtung).

    In dem Sinne, mer lasse den Dom in Kölle

  • Die Debatten in der BRD der 60er/70er über die italienischen Einwandernden liest sich für mich wie eine Kopie der heutigen Situation bei muslimischen Einwanderern bei uns in Ostdeutschland. Da war viel von südländischen Messerschwingern usw. die Rede. Akzeptanz braucht eben Jahrzehnte. Deshalb sollte die Reaktion der ostdeutschen Gesellschaft auf Migration auch fairerweise nur an der BRD der 70er gemessen werden. Ein Vergleich mit der polnischen oder tschechischen Gesellschaft wäre deutlich fairer.



    Noch heute übrigens haben Italiener größere Probleme im deutschen Schulsystem als andere europäische Vergleichsgruppen. Ausschließlich eine reibungslose Erfolgsgeschichte wie im Artikel dargestellt war es ja nicht.

  • Ich stimme der Autorin zu, Zitat: "Wenn es Deutschland geschafft hat, Italien so ins Herz zu schließen, dann geht das auch mit anderen Nationen."

    Dieser angebliche "große Austausch" und man würde sich fremd im eigenen Land fühlen soll ruhig kommen. Er dient uns mehr als er schaden tut.

  • Italiener und katholische Deutsche trafen sich sonntags in der Kirche, italienisches Essen ist längst deutscher Kernwert, incl. Knoblauch, doch Klischees auf beiden Seiten herrschen noch weiter, von Daimler bis Mafia.



    Und bei den Schulabschlüssen ist das Rätsel, warum die bei zwei Herkunftsgruppen im Schnitt signifikant schlechter sind (Studie ist ein paar Jahre her), wovon eine eben die Italieners sind. Weil dann doch Papis Restaurant übernommen werden sollte und kind da ständig kellnern musste? Die Romanze kann noch besser. Andiamo!

    • @Janix:

      Letzteres ist ein signifikantes hausgemachtes Problem.



      (btw colorandi causa: ein Freund & Mitmusiker besuchte by car einen Freund in München:



      Mitfahrzentrale as usual - eine junge Italienerin



      “Wieso er denn jemanden egal Freund in München besucht habe! Er wär doch verheiratet / hätte Kinder …da capo al fine! 🙀



      “Die hörte überhaupt nicht auf / immer wieder & bis Köln. Auf halber Strecke hätt ich sie im liebsten rausgesetzt.“

      Ja. Sie sind bei den Schlußlichtern •

  • Ich habe 2015 auf dem Höhepunkt des Flüchtlingssommers eine Podiumsdiskussion mit Angehörigen verschiedener Flüchtlingsgenerationen und Politikern gemacht, auch live übertragen im Regionalfernsehen. Immer noch ist mir der italienische Edelgastronom in Erinnerung, der die strengste Einstellung gegen die neuen Zuwanderer aus Syrien an den Tag legte und sich von dieser Einwanderergruppe abgrenzte. Noch stärker als die Vertreterin der – damals gemäßigter auftretenden - AfD.

    Ein typisches Muster unter Einwanderern übrigens, das schon öfter soziologisch beschrieben wurde, gleichwohl immer verwundert.

  • In Wahrheit ist die Tradition viel viel älter -



    Die Ambulanti Muusfallenkiels etc



    🤖Die von Ihnen angesprochenen italienischen Hausierer, die elegant gekleidet von Haus zu Haus zogen und Tuch- sowie Kurzwaren anboten, waren schon lange vor den sogenannten "Gastarbeitern" in Deutschland präsent.



    Unterscheidung zu den Gastarbeitern



    Der Hauptunterschied liegt im Zweck und der Organisation der Migration:



    Hausierer/Händler (früher): Kamen oft als freie Händler auf eigene Faust oder in kleinen Gruppen, um Waren zu vertreiben. Ihre Tätigkeit war der ambulante Handel, der auf direktem Kundenkontakt basierte.



    Gastarbeiter (ab 1955): Wurden im Rahmen bilateraler Abkommen gezielt zur Deckung des Arbeitskräftemangels in der deutschen Industrie (z. B. in Fabriken) angeworben. Sie kamen meist, um in spezifischen, oft körperlich anspruchsvollen Berufen zu arbeiten, nicht primär als selbstständige Hausierer.



    Die von Ihnen beschriebene elegante Erscheinung und der Vertrieb von Tuchwaren von Haus zu Haus war also eine Erscheinungsform italienischer Migration, die dem organisierten Anwerbeabkommen der 1950er Jahre zeitlich weit vorausging und eine andere wirtschaftliche Grundlage hatte. …“

    • @Lowandorder:

      Nachher kamen aus der Ferne ins Paradies (gleich bei Herne) Tonio Schiavo & Co.

      Früher die Künstler, die u.a. Dresden ermöglichten.

    • @Lowandorder:

      Da wären wir wieder bei Elisabeth Selbert - Karlsruhe & Co.



      🤖Vor der großen Rechtsreform durch das Bundesverfassungsgericht (Karlsruhe) und den Gesetzgeber (insbesondere vor 1958 und 1977) war die rechtliche Stellung der Ehefrau beim Kauf an der Haustür durch zwei historische Konzepte geprägt: die Schlüsselgewalt und die ehemännliche Zustimmung.



      1. Die "Schlüsselgewalt" (§ 1357 BGB aF



      Dies war die wichtigste Ausnahme von der damals eingeschränkten Handlungsfreiheit der Frau.



      Die Ehefrau galt im Bereich der "häuslichen Angelegenheiten" als Vertreterin des Mannes. Sie durfte Verträge abschließen, die zur angemessenen Deckung des Lebensbedarfs der Familie gehörten (z. B. Lebensmittel, einfache Kleidung, Haushaltswaren).



      Tuchwaren: Der Kauf von Stoffen (Tuchwaren) zur Herstellung von Kleidung für die Familie fiel unter diese Schlüsselgewalt. In diesem Rahmen war das Geschäft auch ohne explizite Erlaubnis des Mannes sofort wirksam.



      🫦Die Frau kann unter der Schürze mehr aus dem Haus tragen als .…



      2. Die ehemännliche Zustimmung



      Außerhalb der alltäglichen Haushaltsführung war die Rechtslage bis zum Gleichberechtigungsgesetz von 1958 deutlich strenger.“



      Rest hoffentlich bekannt 🙀🥳🧐