7. Oktober – ein Jahr danach: Es fühlt sich an wie ein Riss
Wie geht das Leben weiter in Deutschland nach dem 7. Oktober? Ein persönlicher Essay über Jüdischsein, über Solidarität und tiefe Gräben.
N eulich habe ich in einem Raum voller Menschen verstanden, wie einsam ich mich seit Monaten fühle, sobald ich unter Menschen bin. Ich war in Frankfurt am Main bei einem Treffen jüdischer Frauen und Queers, und plötzlich war ich eben nicht mehr einsam. Meine Trauer hatte endlich Raum. Ebenso meine Wut. Hier war ich unter Menschen, deren Herz seit einem Jahr ebenfalls anders schlägt als zuvor. Von denen viele die Frage „Wie geht es dir“ so beantworten, wie ich es seit einem Jahr tue: „Ganz okay“ – im besten Fall. Denn gut geht es mir seit dem 7. Oktober nicht.
Der 7. Oktober sei eine Zäsur, heißt es oft. Laut Duden ist eine Zäsur ein Bruch, ein Einschnitt, eine Unterbrechung. Aber was zerbricht, liegt in Scherben, von einem Moment auf den anderen. Der 7. Oktober hingegen fühlt sich an wie ein Riss, der mit dem Massaker der Hamas begonnen hat und sich seither mit Gewalt immer weiter zieht. Wie nennt man das Geräusch von langsam zerreißendem Papier?
Natürlich sind am 7. Oktober auch Dinge zerbrochen. Gewissheiten. Vertrauen. Ich dachte, es sei Konsens, dass Foltern, Vergewaltigen, Verschleppen und Morden kein Widerstand sind, sondern Terror. Dass das selbst jene so sehen würden, die in der Vergangenheit auf Demos Sprüche wie „Von Hanau bis nach Gaza – Yallah Intifada“ gerufen haben. Dass Feminist*innen bei sexualisierter Gewalt an der Seite von Betroffenen stehen, statt diesen die Schuld zu geben. Dass man nicht gemeinsam mit Menschenfeinden auf die Straße geht. Dass es Ereignisse gibt, nach denen es angebracht ist, kurz innezuhalten und sich zu fragen: Ist weiter wie bisher richtig?
Als gebe es nur ein Entweder-oder
All das geglaubt zu haben oder: all das glauben gewollt zu haben, scheint mir ein Jahr später so naiv. Denn tatsächlich ist das Gegenteil passiert. Vermeintliche Feminist*innen erklärten Berichte über systematische sexualisierte Gewalt zu „zionistischer Propaganda“. Selbst Menschen, die man für vernünftig hielt, folgen wieder und wieder den Demoaufrufen von Gruppen, die das Massaker der Hamas eine „Lektion“ in Sachen Widerstand nennen. Poster mit den Gesichtern der Geiseln werden abgerissen, die Namen Ermordeter durchgestrichen, mit „Free Palestine“ überschrieben. Als gäbe es nur ein Entweder-oder.
Ich laufe durch Berlin und stehe plötzlich dem Schriftzug „Death to Israel“ an einer Wand gegenüber. Bei Unibesetzungen rufen sie nach einer Intifada und sprühen Hamas-Symbolik an die Wand – manche werden trotzdem darauf beharren, dass diese Proteste „friedlich“ seien. Als sei etwas friedlich, nur weil niemand zuschlägt. Zugeschlagen wird allerdings auch: Als jüdisch erkennbare Menschen werden angespuckt, verprügelt mit Fäusten und Stühlen, solidarische Bars werden bedroht und dann angezündet, bundesweit erreichen die Zahlen antisemitischer Vorfälle ungeahnte Höhen – nicht nur in Berlin und nicht nur in Neukölln.
Früher habe ich die Kette mit dem Davidstern in bestimmten Situationen zu Hause gelassen. Heute lege ich sie nur noch zu bestimmten Anlässen an. Neulich haben meine Kinder im Park Glitzerkonfetti von der Wiese gesammelt und dabei zwei Frauen mit Kopftuch verzückt. Wie die beiden heißen, fragen sie. Ich nenne ihre Namen. Nie gehört, sagen sie. Woher die Namen kommen? Sie sind hebräisch, könnte ich sagen. Stattdessen tue ich, als hätte ich die Frage nicht gehört – und schäme mich vor mir selbst. Dafür, uns zu verstecken. Und wegen dem, was ich diesen beiden Frauen zumindest potenziell unterstelle.
Ich wollte immer und werde weiter Verbündete sein im Kampf gegen Rassismus. Für den Kampf gegen den immer stärker werdenden und normalisierten Rechtsextremismus braucht es sowieso alle, Seite an Seite. Aber seit einem Jahr habe ich Bauchweh, weil ich nicht weiß, an wessen Seite ich da stehe – und wer eigentlich auf meiner.
Stattdessen wird verboten und sanktioniert
In München eröffnet ein 18-Jähriger mit einer Repetierbüchse das Feuer vor dem NS-Dokumentationszentrum und dem israelischen Konsulat. Am Jahrestag des Attentats auf die israelische Olympiamannschaft 1972. Der Täter wird erschossen, er soll den österreichischen Behörden wegen möglicher islamistischer Radikalisierung aufgefallen sein. Wenige Tage später spricht niemand mehr von diesem Anschlagsversuch – außer, um die Endlosspirale immer brutalerer Abschiebefantasien noch weiter anzutreiben. Als sei der Täter nicht österreichischer Staatsbürger.
Im Namen des Kampfes gegen Antisemitismus ist für zu viele Rassismus das Mittel der Wahl. Auch die Zahl antimuslimischer Vorfälle hat sich seit dem 7. Oktober vervielfacht. Immer wieder wird die Trauer von Palästinenser*innen delegitimiert oder gar kriminalisiert. Eine echte Auseinandersetzung mit dem zunehmenden Antisemitismus und der Frage, wie man ihm begegnen kann, aber bleibt aus. Stattdessen wird verboten und sanktioniert. Werden bei der Räumung von – zum Teil in der Tat antisemitischen – Protesten Journalist*innen von der Polizei verprügelt und Anwält*innen festgenommen. Werden bei unerträglichen Kongressen unhaltbare Einreiseverbote verhängt, die Gerichte später kassieren.
All das hilft Jüdinnen und Juden in Deutschland nicht. Es stärkt jene extremen Kräfte, die sich ohnehin schon als alleinige Verfechter von Freiheit inszenieren. Und es öffnet Tore, die besser verschlossen blieben. Probleme kann man nicht wegverbieten, man muss sie lösen. Doch was sich einmal etabliert, wird schnell von der Ausnahme zur Regel. Ein autoritärer Staat aber ist in sich ein Problem, denn er ist immer eine Gefahr. Vor allem für Minderheiten. Auch für Jüdinnen*Juden.
Tiefe Gräben und die Frage nach der richtigen Seite
Die Gräben sind tief. Doch um die Betroffenen geht es den wenigsten. Weder um die Menschen in Israel noch um die in Gaza und im Westjordanland oder um die Jüdinnen*Juden und Palästinenser*innen im Rest der Welt. Stattdessen geht es um moralische Selbstvergewisserung. Das gilt für die weiße Queerfeministin, deren Instagram-Account seit dem 7. Oktober täglich sie selbst, ihr Baby und ihren Dackel in eine Kufijah gewickelt zeigt. Das gilt ebenso für den Typen, der am Brandenburger Tor in eine Israelfahne gehüllt Palästinenser*innen pauschal als Hamas-Anhänger*innen diffamiert und fordert: Antisemit*innen abschieben und wenn nötig vorher ausbürgern.
Was sie tun, wird weder den grausamen Krieg in Gaza beenden noch die Geiseln nach Hause bringen. Aber: Sie stehen auf der „richtigen Seite der Geschichte“. Dabei gäbe es in diesem Krieg nur eine Stelle, an der man richtig stünde: an der Seite der Menschen, Israelis wie Palästinenser*innen. „Meine Sorge will sich nicht positionieren“, schreibt Mirjam Zadoff in dem Essayband „Trotzdem sprechen“, „kann sich nicht auf eine Seite schlagen, bringt zusammen, was nicht mehr zusammengehen darf.“
Am Sonntag, dem 1. September, sitze ich im Zug nach Berlin. Der Riss arbeitet sich durch mein Herz. In zwei Bundesländern wählen über 30 Prozent die extreme Rechte. Sechs Geiseln sind tot, vor zwei Tagen erst aus nächster Nähe erschossen. Sechs Menschen, um deren Leben so viele seit Monaten gebangt haben. Von denen zumindest ein paar längst hätten frei sein können – würden die Verantwortlichen nicht für den politischen Selbsterhalt ein ums andere Mal einen Waffenstillstand und Geiseldeal sabotieren.
Mein Körper bebt. Heute früh noch war ich unter lauter jüdischen Frauen und Queers und habe mich in den Augen der anderen wiedergefunden. Die Welt stand still. Jetzt sitze ich im Zug und merke: Für die meisten Menschen dreht sie sich weiter. Neben mir macht ein Mann am Laptop irgendetwas mit Aerodynamik und wundert sich vermutlich, was mit der Frau neben ihm bloß los ist. Tränen laufen meine Wangen hinab. Mein Handy vibriert. Eine Freundin schreibt mir. Sie fragt, ob ich mit ihr ins Freibad will.
Auf meinem Handy läuft das Video, das zeigt, wie die Angehörigen der Geiseln erst vor wenigen Tagen mit Soundsystems an der Grenze zu Gaza standen und hinüberschrien. Ich sehe Rachel Goldberg-Polin ihren Sohn Hersh rufen. Der zu diesem Zeitpunkt vermutlich noch am Leben war und es jetzt nicht mehr ist. Sehe diese starke Frau, und wünschte, sie müsste nicht die Heldin sein, die sie ist. Wünschte, das Sterben und das Leiden auf allen Seiten möge endlich aufhören.
Heute ist nicht nur wieder der 7. Oktober, sondern auch immer noch.
Dinah Riese leitet das Inlandsressort der taz. Am Tag vor dem 7. Oktober hat sie in Berlin Stolpersteine für ihre Familie verlegt.
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