40 Jahre taz: Gewerkschaften im Wandel: Oben angekommen, doch am Anfang
Die Oppositionellen von damals haben die Gewerkschaften modernisiert. Der Kampf um humane Arbeitsbedingungen geht weiter.
Die Verhandlungen hatten im Sommer 1978 begonnen, im September wurden sie fortgesetzt, nicht einmal eine Annäherung gab es aufgrund der prinzipiellen Weigerung der Arbeitgeber, das Thema Arbeitszeit auch nur anzufassen. Es war das erste Mal in der Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland: Die IG Metall forderte für die Stahlarbeiter im Ruhrgebiet die 35-Stunden-Woche. Die Stahlkrise bedrohte Tausende Arbeitsplätze, aber die Belegschaften waren hochorganisiert und kampferfahren.
„Lieber vier Wochen Streik als eine Minute Arbeitszeitverkürzung“ war die Parole der Stahlbosse. Der Streik von 38.000 Stahlarbeitern begann am 7. November 1978, die Stahlkonzerne antworteten mit der Aussperrung von weiteren 30.000 Beschäftigten. Sechs Wochen dauerte der erbitterte Arbeitskampf und endete trotz einiger Verbesserungen bei Freischichten, Urlaub und Lohn mit einer Niederlage der Gewerkschaft: Die Wochenarbeitszeit wurde nicht verkürzt. Die 40-Stunden-Woche wurde nicht geknackt.
In der taz-Nullnummer vom September 1978 war von dem sich anbahnenden Arbeitskonflikt nichts zu lesen. Nicht verwunderlich, kam doch der Gründungsimpuls für die taz aus den damals „neuen sozialen Bewegungen“ und nicht aus den traditionellen Organisationen der Arbeiterbewegung.
Martin Kempe war bis 1991 bei der taz, später Chefredakteur bei Verdi.
Die Gewerkschaften galten den Gründerinnen und Gründern der taz als traditionsschwere, verbürokratisierte Funktionärsapparate, die sie in mancher Hinsicht – aber nicht nur – auch waren. Konflikte in der Arbeitswelt hat die taz nur dann wahrgenommen, wenn sich oppositionelle Betriebs- und Gewerkschaftsgruppen wie die „plakat“-Gruppe bei Daimler öffentlich zu Worte meldeten.
Und doch: Es regte sich etwas innerhalb der gewerkschaftlichen Apparate. Der Stahlarbeiterstreik von 1978/79 war das erste Wetterleuchten einer sozialen Auseinandersetzung, die fünf Jahre später – zu Beginn der Ära Kohl – die Republik erschüttern sollte: Der große, sechs- (Metallbereich) und achtwöchige (Druckbereich) Kampf um die 35-Stunden-Woche, der das Tabu der Arbeitgeber brach und mit 38,5 Stunden und einigen Elementen der Arbeitszeitflexibilisierung endete. Es dauerte weitere zehn Jahre, bis die 35-Stunden-Woche in einigen Bereichen endlich erreicht war. In den meisten Branchen gibt es sie bis heute nicht.
Am 27. September 1978 erschien die erste sogenannte Nullnummer der taz. Es gab noch keine tägliche Ausgabe, aber einen kleinen Vorgeschmack auf das, was die Abonnent*innen der ersten Stunde von der „Tageszeitung“ erwarten können. Die erste Nullnummer können Sie sich
.In Erinnerung an die allererste taz-Ausgabe haben die taz-Gründer*innen am 26. September das Ruder übernommen und die Printausgabe der taz vom 27. September 2018 produziert. Dieser Text stammt aus unserer Gründer*innen-Sonderausgabe.
Lernprozess innerhalb der Gewerkschaftsbewegung
Immerhin: Über den Streik 1984 hat die taz ausführlich berichtet – mit dem Blick auf die allgemeinen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu Zeiten der „geistig-moralischen Wende“ des Herrn Kohl und mit taz-typischen Akzentuierungen in Bezug auf die Arbeitszeitfrage: „Gleichberechtigung ist streikfähig!“, titelte sie auf einer Hintergrundseite und thematisierte die tarifpolitische Bedeutung der Arbeitszeit für das Geschlechterverhältnis und das Verhältnis von Erwerbsarbeit und Familienarbeit. Sie beförderte damit einen damals noch zaghaften, aber wichtiger werdenden Lernprozess innerhalb der Gewerkschaftsbewegung.
Die Regelung der Erwerbsarbeitszeit ist auch heute in Zeiten der Digitalisierung ein zentrales, lebens- und alltagsrelevantes Thema für Millionen Menschen. Es gibt immer noch das Vereinbarkeitsproblem – wenn auch abgeschwächt durch Elterngeld, mehr Flexibilität bei der Arbeitszeit, größeres Angebot an außerfamilialer Kinderbetreuung.
Die Ausweitung der Teilzeitarbeit ist mehrheitlich weiblich, ebenso wie die Beschäftigung im unterbezahlten prekären Sektor. Anders als 1978 und 1984 ist, dass diese Probleme heute im Zentrum gewerkschaftlicher Politik angekommen sind. Mit über einer Million weiblichen Mitgliedern ist Verdi, die gewerkschaftliche Organisation für den Dienstleistungssektor, die größte Frauenorganisation der Bundesrepublik.
Damals waren Frank Bsirske, Reiner Hoffmann und viele andere aktiv in linken Randgruppen der Gewerkschaftsbewegung, oft in Opposition zur etablierten Führung. Sie brachten Themen und Aktionsformen der „neuen sozialen Bewegungen“ in ihre gewerkschaftlichen Zusammenhänge ein und transformierten, „modernisierten“ damit die traditionellen gewerkschaftspolitischen Positionen. „Jenseits der Beschlusslage“ hieß die für gewerkschaftliche Traditionalisten provokative Parole, mit der sie sich im Verein mit zahlreichen progressiven SozialwissenschaftlerInnen auf dem Weg nach oben machten.
Heute stehen Bsirske und Hoffmann an der Spitze von Verdi und DGB und hinterlassen ihren NachfolgerInnen jede Menge alte und neue ungelöste Probleme. Denn der Kampf um humane Arbeitsbedingungen und angemessene Bezahlung ist nie zu Ende – eine immer wieder neue Sisyphus-Arbeit in der sich ständig verändernden Arbeitswelt.
Noch immer ein Mitgliederschwund
Die Gewerkschaftsbewegung in Deutschland steht nicht gut da, immer noch gibt es einen leichten Mitgliederschwund. Aber sie ist stärker als in den meisten anderen Ländern Europas und der Welt. Vor ihr steht eine gigantische Aufgabe, der sich schon die Gründerinnen und Gründer der Gewerkschaften im 19. Jahrhundert gestellt haben: den arbeitenden Menschen in alten und neuen Branchen zum Bewusstsein ihrer Gemeinsamkeit und ihrer Kraft zu verhelfen.
In vielen Bereichen müssen sie damit wieder ganz von vorn anfangen. Natürlich ist es extrem schwer, dem Amazon-Konzern einen menschenwürdigen Umgang mit seinen Beschäftigten abzuringen. Denn die Beteiligung an einem Streik ist viel existenzieller, viel riskanter und mutiger als die Beteiligung an einer Demonstration oder gar das Unterschreiben einer Internet-Petition.
Es bedarf angesichts sich auflösender traditioneller Strukturen der Erwerbsarbeit einer großen Organisationsfantasie, die in Arbeitskonflikten Unterstützung und ein Mindestmaß an sozialer Absicherung gewährleistet und die weit über den Bereich formeller Arbeitsverhältnisse hinausreicht. Und es braucht eine aufklärerische Öffentlichkeit, die sich der Probleme und Konflikte in der Arbeitswelt systematisch und kontinuierlich zuwendet – in der taz und anderswo.
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