30 Jahre „doppelte Nulllösung“: Wird jetzt wieder atomar aufgerüstet?

1987 einigten sich Russland und die USA, ihre Atomraketen zu vernichten. Nun könnte US-Präsident Trump den Vertrag aufkündigen.

Rauch bildet sich hinter einer abgeschossenen Rakete über dem Meer

Waren schon in den 1970ern umstritten: Russland feuert Cruise Missiles auf den IS Foto: ap

GENF taz | Die Sorgen um eine neue Aufrüstungsspirale nehmen zu, seit der US-Kongress seinen Entwurf für den nationalen Militärhaushalt 2018 an Präsident Donald Trump geschickt hat. In der Vorlage vom 30. November ist die Bewilligung von zunächst 500 Millionen US-Dollar für die Entwicklung einer neuen landgestützten atomaren Mittelstreckenrakete enthalten. Sollte Trump diesen Entwurf demnächst ohne Veränderungen unterzeichnen – wovon in Washington ausgegangen wird -, wächst die Gefahr für eines der wichtigsten Rüstungskontrollabkommen des atomaren Zeitalters: die sogenannte doppelte Nulllösung.

An diesem Wochenende vor 30 Jahren, am 8. Dezember 1987, unterzeichneten der damalige US-Präsident Ronald Reagan und der Generalsekretär der sowjetischen KPdSU, Michail Gorbatschow im Weißen Haus ein historisches Dokument, das die Welt sicherer machen sollte: Es sah eine „doppelte Nulllösung“ für zwei Typen atomarer Mittelstreckenwaffen der beiden Großmächte vor, die im Englischen Intermediate Range Nuclear Forces (INF) genannt werden.

Das INF-Abkommen über die Vernichtung dieser Waffen und das Verbot, sie neu herzustellen, ist bis heute ein Kernelement der Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland. Doch es gerät zunehmend unter Druck. Die Regierungen in Washington und Moskau beschuldigen sich gegenseitig, neues Kriegsgerät zu entwickeln, das gegen den Vertrag verstößt. Mit diesem Vorwurf an Moskau begründet der US-Kongress jetzt seine Forderung nach Finanzmitteln für die Entwicklung einer neuen atomaren Mittelstreckenrakete.

Alles wurzelt in den 70er Jahren

Was das INF-Abkommen so bedeutend machte: Erstmals in der Rüstungskontrollgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg einigten sich die Supermächte nicht nur auf eine zahlenmäßige Obergrenze für bestimmte Waffensysteme oder andere Einschränkungen. Stattdessen wollten sie ihre landgestützten atomaren Mittelstreckenraketen vollständig abrüsten.

Um die besonderen Bedingungen zu verstehen, unter denen diese Vereinbarung zustande kommen konnte, hilft ein Blick zurück: Seit den 70er Jahren waren in Europa immer mehr Atomwaffen stationiert worden. In der Bundesrepublik Deutschland, damals Frontstaat der NATO, und in anderen Staaten der westlichen Militärallianz hatte sich zugleich die größte Friedensbewegung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gebildet.

Auf der anderen Seite regte sich auch in der DDR und bei anderen Mitgliedern der östlichen Warschauer Vertragsorganisation (WVO) erstmals deutlicher Widerspruch gegen die Anhäufung von immer mehr atomaren Massenvernichtungswaffen der Sowjetunion und der USA in Europa

Ende Oktober 1977 hatte der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt eine angebliche „Raketenlücke“ auf NATO-Seite beklagt. Das westliche Bündnis, sagte er, sei nicht ausreichend gegen die auf Westeuropa gerichteten, sowjetischen atomaren Mittelstreckenraketen vom Typ SS-20 gerüstet.

Protestwelle gegen Pershing II

Am 12. Dezember 1979 beschloss die NATO daraufhin, 108 atomare Pershing-II-Raketen und 464 Marschflugkörper (Cruise Missiles) des Typs Tomahawk auf US-Militärstützpunkten in Deutschland, Großbritannien, den Niederlanden, Belgien und Italien zu stationieren. Die NATO kleidete diese Entscheidung allerdings in einen „Doppelbeschluss“: Moskau müsse die bereits stationierten SS-20-Raketen abziehen. Sollte die Sowjetunion diese Forderung nicht erfüllen, werde der Westen mit Pershing II und Cruise Missiles „nachrüsten“.

Beginnend mit einer Friedenskundgebung am 10. Oktober 1981 – mit über 300.000 TeilnehmerInnen die bis dahin größte in der Geschichte der Bundesrepubik – demonstrierten in den folgenden Jahren Millionen Menschen in Europa und den USA friedlich gegen die geplante Aufrüstung mit Pershing II und Cruise Missiles, aber auch gegen die SS-20 in der Sowjetunion.

An den geplanten Stationierungsorten der Pershing II in Mutlangen, Neu-Ulm und Heilbronn sowie der Cruise Missiles im Hunsrück blockierten in den folgenden Jahren – ebenso wie im britischen Greenham Common und in Comiso auf Sizilien – Zehntausende gewaltfrei die Eingänge der US-amerikanischen Militärgelände.

Parallel verhandelten ab 1981 Diplomaten der USA und der Sowjetunion in Genf über die atomaren Mittelstreckenwaffen – zunächst ohne Erfolg. Daher gab der Deutsche Bundestag im November 1983 grünes Licht für die Stationierung der neuen Raketen in der BRD, die kurz darauf begann. 1987 einigten sich Washington und Moskau schließlich auf die Nulllösung. In der Folge dieses INF-Abkommens zerstörten die USA vertragsgemäß 846 Raketen, die Sowjetunion 1.846.

Der Vertrag hat zwar eine unbegrenzte Laufzeit, aber jede Vertragspartei hat das Recht, ihn mit sechsmonatiger Frist aufzukündigen, wenn „außerordentliche Ereignisse im Zusammenhang mit dem Gegenstand dieses Vertrages ihre übergeordneten Interessen beeinträchtigen“.

Russland kritisiert schon seit 2007 das von den USA betriebene – und von der NATO unterstützte – Projekt eines Raketenabwehrsystems als Verletzung des INF-Vertrags. Moskau befürchtet, dass von den Anlagen dieses Systems in Polen, Rumänien und der Tschechishcen Republik außer Abwehrraketen auch Cruise Missiles des Typs Tomahawk gestartet werden, die unter das Verbot des INF-Vertrag fallen. Entsprechende Tests habe das Pentagon bereits durchgeführt.

Spannungen zwischen Russland und den USA

Die USA wiederum werfen Russland schon seit 2014 vor, neue landgestützte atomare Mittelstreckenraketen getestet und produziert sowie bereits zwei Bataillone der russischen Streitkräfte damit ausgerüstet zu haben. Mit diesem mutmaßlichen Verstoß gegen den INF-Vertrag rechtfertigt der US-Kongress aktuell seine Forderung nach Haushaltmitteln für die Entwicklung einer neuen landgestützten atomaren Mittelstreckenrakete.

Sollte die vor dreißig Jahren so mühsam erzielte doppelte Nulllösung nun enden, weil eine oder beide Seiten sich nicht mehr daran hält oder das Abkommen aufkündigt, würden sich die Spannungen zwischen Moskau und Washington verschärfen. Fiele der INF-Vertrag, würde nicht nur eine Aufrüstung mit landgestützten Atomwaffen kürzerer und mittlerer Reichweite drohen. Dann bestünde auch die Gefahr, dass der im Februar 2021 auslaufende russisch-amerikanische START-Vertrag mit Obergrenzen für die strategischen Atomwaffen nicht mehr verlängert wird.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.