100 Tage Präsidentschaft Joe Biden: Alter Mann macht Tempo
Der US-Präsident Joe Biden startet in den ersten 100 Tagen mit Vollgas ins Amt. Er sagt dem Neoliberalismus ab und setzt auf Vielfalt.
J oe Biden ist in seinen ersten hundert Tagen, die am 29. April enden, eine ziemliche Überraschung gelungen. Er agiert ganz anders, als man es noch vor der Wahl erwartet hätte. Beim Klimaschutz will Biden die USA zum Vorreiter machen. Seine beiden großen Programme gegen die Folgen der Covid-19-Pandemie und für den Wiederaufbau der maroden Infrastruktur definieren eine neue Rolle des Staats in den USA.
Seit Präsident Reagan und in der folgenden Ära des Neoliberalismus galt dort das Mantra, dass Steuern niedrig und der Staat schwach sein muss, damit der allgemeine Wohlstand wächst. Obwohl längst überdeutlich geworden ist, dass das nicht stimmt, hielt sich der Glaube auch bei der Demokratischen Partei bis in die Trump-Präsidentschaft. Die Pandemie hat nun erzwungen, dass der Staat mit Macht eingreift.
Biden und Vizepräsidentin Kamala Harris ist hoch anzurechnen, dass sie das erkannt und umgesetzt haben. Sie haben unübersehbar gezeigt, dass sie die Gefahr durch das Virus nicht länger ignorieren oder leugnen wie Trump, sondern den Kampf gegen die Pandemie als politische Priorität setzen. Allein schon das Tragen der Maske bei öffentlichen Auftritten machte die Wende für jeden sichtbar. Der rasante Fortschritt der Impfkampagne bringt spürbare Verbesserung für die Bevölkerung.
135 Millionen US-Bürger:innen haben ihre erste Dosis erhalten. Das staatliche Hilfsprogramm gegen Covid-19 wird 2 Billionen Dollar kosten. Das entspricht etwa einem Zehntel des Bruttoinlandsprodukts der USA. Es bringt unmittelbare Finanzhilfen für die Menschen und gibt der Wirtschaft einen Anschub. Weitere 2 Billionen Dollar sollen die marode Infrastruktur des Landes wieder instand setzen.
Massive staatliche Investitionen
Um das zu finanzieren, sollen Großverdiener und vor allem große Unternehmen ihren fairen Anteil an Steuern entrichten. Weltweit agierende Firmen, die sich wie Apple, Facebook oder Amazon in Steueroasen flüchten, sollen eine globale Mindeststeuer zahlen. Schon macht das Buzzword „Bidenomics“ die Runde. Noch unter Obama hätten solche Ankündigungen wütende Proteste von allen Seiten entfesselt. Bei Biden ist das anders, auch seine Partei im Kongress trägt den Politikwandel mit.
Sie wissen, dass das Corona-Hilfspaket und höhere Steuern für die Reichsten von zwei Dritteln der Bevölkerung befürwortet werden. Ob die Demokraten auch beim Kampf gegen rassistische Gewalt, für die Polizeireform und bei der Frage der Immigration mutig sein werden, muss sich noch zeigen. Biden und Harris haben nach dem Urteil gegen den Polizisten Derek Chauvin klare Worte gefunden. Dabei waren die Erwartungen an Biden im Vorwahlkampf nicht hoch.
Er würde mit 78 Jahren der älteste US-Präsident aller Zeiten werden, wenn er sein Amt antritt. Er war weder ein begeisternder Redner noch ein sonderlich mutiger und fortschrittlicher Politiker in den fast vier Jahrzehnten im Senat und danach an Obamas Seite. Noch in den 80er-Jahren hatte er sich dagegen gestellt, dass Schwarze Kinder mit Bussen in Schulen in weiße Viertel gebracht werden. Er hatte 2003 für den Einmarsch in den Irak gestimmt – das hatte ihm der progressive Flügel der Partei nicht verziehen.
Es gab durchaus Gründe, in dem linken Senator Bernie Sanders eine fortschrittliche Alternative zu Biden zu sehen. Der Lockdown sorgte dann dafür, dass Bidens Erfolge bei den Vorwahlen und seine Kür beim virtuellen Parteikonvent nur gedämpft gefeiert wurden. Danach lief es für ihn wie geschmiert. Trump machte sich in der ersten Debatte mit seinem rüpelhaften Gepolter unmöglich und lag fortan in Umfragen konstant 6 bis 8 Punkte hinter Biden. Die Pandemie leugnete Trump hartnäckig.
Globale Steuer für Großunternehmen
Biden erhielt landesweit 7 Millionen Stimmen mehr als Trump, doch entscheidend für den Sieg waren die gerade mal 100.000 Stimmen, die ihn in Arizona, Georgia und Pennsylvania zum Gewinner machten. Über diese Schieflage wird noch zu reden sein. Bei der Wahl seines Personals hat Biden Zeichen gesetzt, die dem konservativen Amerika wie Leuchtfeuer signalisieren: Ich will eine andere Politik als ihr. Mit Merrick Garland berief Biden jemand zum Justizminister, der eigentlich am Supreme Court sitzen sollte.
Obama hatte Garland in seinem letzten Amtsjahr nominiert, aber die Republikaner im Senat verhinderten, dass der Jurist dort auch nur angehört wurde. Garland obliegt nun eine Untersuchung der von Polizisten in Minneapolis verübten Gewalt, der George Floyd zum Opfer fiel, aber auch die juristische Aufarbeitung des Sturms militanter Trump-Anhänger auf das Kapitol im Januar. Biden signalisierte auch:
Ich will, dass meine Administration so vielfältig wird wie unsere Bevölkerung. Kamala Harris als erste Frau und erste Schwarze zur Vizepräsidentin zu machen, war ein deutliches Ausrufezeichen. Mit Lloyd Austin führt erstmals ein Schwarzer das Pentagon. Mit Pete Buttigieg wurde der erste offen Schwule Minister. Mit Michael Regan wird ein Schwarzer und engagierter Klimaschützer Chef der Umweltbehörde EPA. Alle eint, dass sie tatsächlich Fachleute für ihr Gebiet sind.
Aber Biden beließ es nicht dabei: Deb Haaland hatte sich schon als Kongressabgeordnete aus New Mexico mit ihrem Eintreten für die Native Americans einen Namen gemacht. Sie ist die erste Native American in der US-Geschichte, die einem Kabinett angehört. Die Tochter einer Angehörigen des Volks der Laguna wurde von Biden zur Innenministerin erwählt und im März vom Senat bestätigt.
Als Innenministerin ist sie für die Belange der Native Americans zuständig, aber vor allem für das Fünftel des US-Territoriums, das in Bundesbesitz ist, darunter riesige Gebiete westlich des Mississippi, auf die sich immer wieder die Begehrlichkeiten der Öl-, Bergbau und Holzindustrie richten. Haalands Kleiderwahl bei der Vereidigung zeigt, dass sie sich wie Biden auf Symbolpolitik versteht: Sie trug ein farbenprächtiges traditionelles Gewand ihres Volkes.
Diversity im Kabinett
Sie zeigte aber auch, dass sie weiß, was wirklich wichtig ist, und kündigte an, nicht nur für einen fairen Anteil von Impfstoffen für die etwa 5 Millionen Native Americans zu sorgen, sondern auch in ihrem Ministerium die vielen ungeklärten Fälle ermordeter und verschwundener Native Americans zu untersuchen. Dabei wissen Biden und Harris, wie rasiermesserdünn ihre Mehrheiten im Kongress sind und wie verbissen die Republikaner sich bemühen, ihre Agenda zu torpedieren.
Im Repräsentantenhaus ist der demokratische Vorsprung auf drei Abgeordnete geschmolzen, und im Senat herrscht ein Patt von 50 zu 50, das nur durch das Votum von Kamala Harris aufgelöst werden kann. Zwei der 50 demokratischen Senatsmitglieder, Joe Manchin aus West Virginia und Kyrsten Sinema aus Arizona, sperren sich gegen viele Vorhaben des Weißen Hauses. Manchin verhinderte ein Verbot des Frackings ebenso wie die Erhöhung des Mindestlohns auf 15 Dollar.
Hartnäckig hält sich in republikanischen Kreisen der Vorwurf, es habe Wahlbetrug in großem Stil gegeben. Dieser Verdacht hat seine Grundlage in der Reihenfolge, in der die Stimmen ausgezählt wurden. Als Erstes kamen die Stimmen aus den Wahllokalen in ländlichen Gegenden – traditionell republikanisch –, später erst die aus den Großstädten, bei denen es regelmäßig deutliche Mehrheiten für die Demokraten gibt, und die Briefwahlstimmen. Zunächst sah es in der Wahlnacht deshalb nach einem klaren Sieg Trumps aus.
Es dauerte noch vier Tage, in denen weiter ausgezählt wurde, bis die Nachrichtenagentur AP Biden zum Wahlsieger erklärte. Der – wie nicht weniger als 60 Gerichtsurteile belegen – fälschlich behauptete Wahlbetrug hat die Republikaner in vielen Bundesstaaten veranlasst, die Wahlgesetze zu ändern. Mit allen möglichen Tricks sollen Minderheiten und ärmere Schichten daran gehindert werden, ihre Stimme abzugeben.
Man kann dafür die Wählerlisten zusammenstreichen, die Registrierung erschweren oder hohe Hürden für Briefwähler errichten. Trump und andere führende Republikaner sagten ganz offen, dass sie bei höherer Wahlbeteiligung – etwa durch erleichterte Briefwahl – Wahlen eher verlieren würden. Vorgeprescht bei der Wahlrechtsänderung war der Bundesstaat Georgia, den Trump im November ganz knapp verloren hatte.
Wahlrechtsreform könnte die Demokratie retten
Doch für die Regierung in Georgia wurde die Wahlrechtsänderung zum PR-Desaster. Die Major League Baseball verlegte aus Protest ihr All Star Game von Atlanta nach Denver, und die Chefs großer Unternehmen wie Coca-Cola oder der Fluglinie Delta, die beide ihren Sitz in Atlanta haben, nannten das neue Gesetz inakzeptabel. Auch Apple und Goldman Sachs stimmten in den Protest ein. Plötzlich zeigte die Allianz von Big Business und republikanischer Partei Risse.
Donald Trump wollte nie mehr Coca-Cola trinken und rief zum Boykott weiterer Firmen auf, die er missbilligend als „woke companies“ bezeichnete. Gegen diese Aushebelung der demokratischen Spielregeln richtet sich der Gesetzentwurf „For the People Act“, der eine umfassende, für die gesamten USA bindende Reform der Wahlprozeduren und eine Begrenzung für Wahlspenden vorsieht – ein politischer Kraftakt, der nur mit dem wegweisenden „Voting Rights Act“ von 1965 vergleichbar ist.
Das Repräsentantenhaus hat dieses Gesetz im März gebilligt, nun liegt sein Schicksal beim Senat. Sollte der „For the People Act“ scheitern, könnten die Republikaner die ungleichen Voraussetzungen weiter ausbauen, die ihnen bei Wahlen jetzt schon einen unfairen Vorteil verschaffen. Wir erinnern uns: 2016 gewann Hillary Clinton 2,8 Millionen mehr Stimmen als Trump – und verlor trotzdem im Wahlkollegium.
Auch beim anstehenden Neuzuschnitt der Wahlbezirke für den Kongress werden die Republikaner ihre Möglichkeiten nutzen, sich Distrikte maßzuschneidern. Im „For the People Act“ ist dagegen festgelegt, dass unabhängige Kommissionen die Grenzen der Kongressbezirke bestimmen. Ihn zu verabschieden könnte die Demokratie retten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs