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1. Mai in BerlinPlatzwechsel im 20-Minuten-Takt

Die Revolutionäre Mai-Demonstration wird wegen Corona durch ein Katz- und Maus-Spiel mit der Polizei ersetzt. Gesteuert per Twitter.

Niemanden zurücklassen: Eine Demonstrantin setzt sich auf der Oranienstraße für Flüchtlinge ein

Berlin taz | Um 18.19 Uhr kommt das Startsignal über Twitter. Das Revolutionäre 1.Mai-Bündnis schreibt: „Es geht los, alle auf die Straßen“. Und genau das geschieht dann auch. Hunderte sind es anfangs, die auf der Oranienstraße, dem Zentrum von Berlin-Kreuzberg 36, zwischen die Autos strömen, Plakate auspacken, Parolen rufen. Nur einen kurzen Moment später nimmt die Polizei am Ende der Straße am U-Bahnstation Görlitzer Bahnhof die ersten beiden Plakatträger in Gewahrsam. Die Stimmung ist aufgeheizt. Der Revolutionäre 1. Mai in Berlin-Kreuzberg beginnt und es fühlt sich an, wie in all den Jahren zuvor.

Dabei ist doch alles ganz anders. Wegen Corona sind Demonstrationen weitgehend verboten. Ausgenommen sind nur stationäre Kundgebungen mit maximal 20 Teilnehmern. Die Antispekulationsdemo am Nachmittag durfte sich nur per Autokorso in den Grunewald bewegen. Der Gewerkschaftsbund demonstrierte nur per Livestream im Internet.

Auch die Autonomen haben deswegen auf ihre traditionelle 18-Uhr-Demonstration verzichtet und stattdessen zu dezentralen Protesten aufgerufen. Im 20-Minuten-Takt werden neue Orte benannt, an denen sich die DemonstrantInnen versammeln sollen.

Eine erste Spontandemonstration zur Ohlauer Straße endet nach 100 Metern an einer Polizeikette. Doch schon kurze Zeit später stehen viele Linke an dem benannten Treffpunkt – und beginnen sofort wieder zu laufen.

Die Polizei, auch an diesem 1. Mai mit einem Aufgebot von 5.000 BeamtInnen, agiert überwiegend zurückhaltend. Nur vereinzelt greifen sie ein und nehmen Personen fest, die sich an Sprechchören beteiligen oder größere Transparente tragen. Das zentrales Ziel der Polizei ist es, die dezentralen Aktionen nicht zu groß werden zu lassen. Immer wieder werden Kreuzungen und Straßen gesperrt.

Es sind vielleicht 2.000 Menschen, die sich an den Protesten beteiligend durch Kreuzberg bewegen. Zwischen ihnen PassantInnen, Autoverkehr, und viele, die sich vor Kneipen und Spätis versammeln und so tun, als wäre das MyFest dieses Jahr nicht abgesagt. Den DemonstrantInnen geht es dagegen vor allem darum, sich den Tag und ihre Botschaften nicht nehmen zu lassen. Sehr viele Schilder und Transparente fordern die Evakuierung der 40.000 Flüchtlinge, die in griechischen Lagern festhängen.

Um 20 Uhr soll die letzte Pop-Up-Kundgebung am Mariannenplatz stattfinden, doch diesmal hat die Polizei sämtliche Zugangswege abgeriegelt. Viele Menschen drängen sich vor den Polizeisperren. In der Mariannenstraße macht die Polizei schließlich mehrere Durchsagen. Zu viele Leute, heißt es, befänden sich auf der Straße. Einige der DemonstrantInnen interessieren sich nicht für die Abstandsregeln, viele andere allerdings ziehen sich zurück.

Etwa 200 Personen schaffen es schlussendlich auf die weitläufige Wiese vor dem Bethanien. Dort steht auch das Anfang der 70er Jahre besetzte Rauch-Haus, bekannt aus dem gleichnamigen Song von Ton Steine Scherben, der prompt gesungen wird. Das revolutionäre 1. Mai-Bündnis zeigt sich zufrieden mit den klandestinen Klein-Kundgebungen: „Der Revolutionäre 1. Mai steht in diesem Jahr unter einem antirassistischen Inhalt. Toll, dass alle so viele Parolen gezeigt haben.“

Erst nach Abschluss der orchestrierten Aktionen, kommt es noch zu kleineren Zusammenstößen. So fliegen am Görlitzer Bahnhof vereinzelt Flaschen in Richtung der Polizei, die ihrerseits vehement in die Menge rennt. Es ist das typische 1. Mai-Bild in Kreuzberg.

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10 Kommentare

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  • 0G
    01054 (Profil gelöscht)

    Zumindest wieder etwas Normalität, auch wenn man die Krawalle nicht so gerade braucht. Wenn Abstände und Auflagen eingehalten werden, spricht nichts dagegen das auch wieder mehrere hundert friedlich demonstrieren können und auch müssen. In Kirchen können nun ja auch wieder mehr teilnehmen als nur ein paar Leute. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit darf kein exklusives Recht werden für wenige, für 20 oder 50, die sich das mit Anwälten noch einklagen müssen.

  • Die Geflüchteten auf Lesbos haben sich gestern gefreut, als sie die solidarischen Berliner*innen in den Abendnachrichten sahen.

    • @C.O.Zwei:

      Gott sei dank haben die nicht mitbekommen, dass der Schwerpunkt der Aktionen beim Versteckenspielen lag.

  • Da gibt's nur eine Bezeichnung: "Destruktiv infantil"!

  • Es wird so getan, als wenn es um Themen gehen würde. Dabei geht es wie jedes Jahr um eine Machtprobe mit dem Staat, um nichts anderes. Dach diesesmal geht es nicht nur um brennende Container und Autos, es geht auch um die Gesundheit vieler Beteiligter und Unbeteiligter. Dadurch werden Aufrufe zur "Solidarität" nur noch zu einer hohlen Phrase.

  • "Katz- und Maus-Spiel mit der Polizei"

    Wie niedlich! Will man für mehr Spiele demonstrieren?

    Statt solch öder Dauer-Konzentrationen auf die Polizei hätte man mit den 20-Personen Gruppen ganz Berlin kreativ fluten und die Bevölkerung für die Themen mobilisieren können.

    • @Rudolf Fissner:

      welche Themen denn?

      • @Monika Frommel :

        ... die Flüchtlinge in griechischen Lagern z.B. ?

    • @Rudolf Fissner:

      Die Themen sind doch nur ein Vorwand, um irgendwas zu zerstören oder Polizisten zum Eingreifen zu zwingen.

  • "Toll, dass alle so viele Parolen gezeigt haben.“

    Toll, dass sich so viele angesteckt haben.