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Midlife Monologe

Der ehemalige Ampelminister Christian Lindner mit seiner teuren Karre Foto: Thomas Koehler/photothek/imago

Neulich habe ich zwölf Stunden am Stück gearbeitet. Erst leert sich die Redaktion und ich finde es prima, weil ich mich so endlich in Ruhe auf die Textarbeit konzentrieren kann, dann wird mir unheimlich. Ich bin ganz alleine im Großraumbüro und blicke in die schwarze Nacht hinaus. Hier sitze ich nun mit meinem protestantischen Arbeitsethos und bringe mich um eine weitere Stunde Yoga, die meinem Nacken sicher guttäte.

Auch das Wasserglas ist immer noch leer, obwohl ich schon länger durstig bin. Aber bevor der Text nicht fertig ist, gehe ich nirgendwo hin, befehle ich mir – und bin gleichzeitig wütend auf mich. Und ich bin wütend auf diese Zeit: Denn es dreht sich alles um Leistung und Effizienz. Menschen beurteilen sich selbst und andere danach.

Gleichzeitig lohnt sich Arbeit für immer weniger von uns. Ich blicke also in die Nacht hinaus, und plötzlich taucht Christian Lindner auf. Es gibt ein Video von ihm, in dem er vor die Kamera eines Tiktokers fährt. „Hä, das ist einfach, das ist einfach …“, ruft der Tiktoker. Indes sitzt der Ampelzerstörer in seiner 140.000-Euro-Karre.

Hier ist sie also, die personalisierte Leistungslüge. Für uns andere gilt natürlich, frei nach Multimillionär Friedrich Merz: „Aber jetzt wird wieder in die Hände gespuckt.“ Irgendwer muss ja den deutschen SUV wieder aus dem Dreck ziehen. Außerhalb von Merz’ Büro sieht die Welt anders aus. Da gibt es die, die in Arbeit ertrinken, die nächsten haben prekäre Minijobs, andere müssen in der Rente dazuverdienen und für wieder andere gibt es keine Arbeit mehr.

Mir kommt die Mutter meines Schwagers in den Sinn, die sich jetzt im Ruhestand nach einem Zuverdienst umsehen muss, weil ihr Leben zu teuer geworden ist. Dann fällt mir mein anderer Schwager ein, der nach längerer Jobsuche endlich dachte, eine Anstellung über eine Zeitarbeitsfirma gefunden zu haben. Nur ein kurzes Gefühl der Sicherheit, jetzt ist er wieder ohne Job.

Dieses Land hat kein Fleiß-, sondern ein Verteilungsproblem, was Jobs und Geld betrifft. Stellenabbau, Assessment-Center, Vetternwirtschaft, schlecht bezahlte Praktika, jetzt fallen mir meine eigenen unwürdigen Nebenjobs wieder ein: Hostess auf der Automesse, Fahrgasterhebung, Kellnern beim Schützenfest, dann die vielen befristeten Verträge.

Bei manchen von uns hat die Arschkriecherei zum Erfolg geführt, bei anderen zu Jobs, die sie hassen. Über alldem schwebt die Angst vor Arbeitslosigkeit. Ich gucke also in die Dunkelheit und frage mich, warum sich die Erzählung so hartnäckig hält, dass wir alle ersetzbar seien. Durch andere Menschen, Maschinen oder KI. Jetzt spuken die vermeintlich Unersetzbaren durch meine Gedanken: Einige von ihnen, die sogenannten „Familienunternehmer“, haben sich unlängst sogar auf einen Kurzzeit-Flirt mit der AfD eingelassen. Wer sind diese Leute eigentlich? „Über Geld spricht man nicht“, hieß es in meiner eigenen Familie oft. Und der Neidvorwurf, der ja gerne gemacht wird, setzt an jede Debatte über Verteilung einen Schlusspunkt. Je­de*r von uns kennt diese Sprüche, gleichzeitig wissen wir, dass die soziale Ungleichheit wächst.

Foto: Karolina El Lobo

Und was tun wir? Zeit, endlich ein Glas Wasser zu trinken und die Arbeit Arbeit sein zu lassen. Ein halber Tag war es jetzt, durch die Nacht geht es nach Hause. Zum Glück durch autofreie Straßen, Leistungträger wie Lindner schlafen nämlich längst.

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