Sommer der Migration 2015: Liebes Deutschland,
Unser Autor musste aus Syrien fliehen und kam schließlich in Deutschland an. Zehn Jahre später will er nicht mehr beweisen müssen, integriert zu sein.
K aum sind die Syrerinnen und Syrer für einen Moment aus den deutschen Medien verschwunden, da tauchen sie an anderer Stelle schon wieder auf. Sei es, weil Baschar al-Assad gestürzt wurde, sei es, weil sie im Bundestagswahlkampf als Druckmittel herhalten müssen. Ganz gleich, ob es um ein Verbrechen geht oder ob man sich begeistert darüber äußert, dass jemand Deutsche vor einem Anschlag „gerettet“ habe – Syrer sind ein Thema. Wobei sich die Bewunderung des Einzelnen schnell zur pauschalen Abwertung aller wandeln kann. Und wenn gerade wirklich gar kein Vorwand zu finden ist, machen Rechtsextreme eben mit KI-generierten Fotos Stimmung gegen uns.
Jetzt, zum zehnten Jahrestag der offenen Tür für Syrerinnen und Syrer, bringen alle Medien ihre Artikel, Interviews, Reportagen und Statistiken über uns. So wichtig dieses Datum auch ist – mir als in Deutschland lebendem Syrer macht das Angst. Ich fürchte, dass diese Aufmerksamkeit nicht für mehr Verständnis der deutsch-syrischen Wirklichkeit sorgt.
Ich fürchte eher, dass ein großer Teil des medialen Rauschs zum blinden Angriff gegen uns wird. Folgen wird ein ebenso blinder Gegenangriff derjenigen, die uns verteidigen wollen. So werden Medien zu Scheidungsanwälten in einer Ehekrise zwischen Syrern und Deutschland. Aber diese Scheidung ist unmöglich. Und ich – erstens syrischer Geflüchteter und zweitens Autor und Journalist – verspüre den Wunsch, über diese Jahre zu sprechen. Nicht um zu verteidigen oder anzugreifen. Es geht mir auch nicht darum, unsere Existenz hier zu verteidigen. Ich will erklären, was zwischen mir und Deutschland passiert ist.
Liebes Deutschland, als ich Anfang dieses Jahres nach Damaskus zurückkehrte, war die Stadt mir fremd, trotz aller überwältigenden Gefühle, die mich erfüllten. Ich fühlte mich fern von meiner Mutter, die ich nach all den Jahren zum ersten Mal wiedersah, meiner Familie, den Trümmern meines Elternhauses. Nach nur zehn Tagen wollte ich nach Hause zurückzukehren – in mein Zuhause hier in Berlin. Ich wollte vor den Folgen des syrischen Kriegs fliehen. Zum ersten Mal fühlte ich mich diesem Land, Deutschland, und dieser Stadt, Berlin, zugehörig.
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Wie so viele bin ich nach der syrischen Revolution gegen Baschar al-Assad 2011 geflohen – wegen persönlicher wie politischer Folgen: der Zerstörung unseres Eigentums, des Tods von Familienangehörigen durch Bombardierung oder Haft, der Schikanen der Geheimdienste und einer Verhaftung, die mir keine Wahl ließ, als zu fliehen.
Zuerst floh ich in den Süden Syriens, zur Familie meines Vaters. Islamistische Milizen verhafteten mich, um mich zu verhören. Ich flüchtete weiter nach Jordanien. Eine zwei Monate währende Odyssee, bei der wir uns in Wäldern vor Scharfschützen versteckten, Gras aßen, um zu überleben, und nasse Äste oder Laternenpfähle verbrannten, um nicht zu erfrieren.
In Jordanien baute ich mir ein neues Leben als Journalist und Schriftsteller auf, erlebte jedoch erneut Schikanen durch die Behörden, die mich benutzen wollten, um Informationen über Syrien zu bekommen. Ich lebte fast vier Jahre ohne Papiere, bis ich ein Literaturstipendium für das Heinrich-Böll-Haus erhielt. Sechs Monate dauerte es, bis ich das Visum bekam und ausreisen durfte. Am Flughafen in Amman wurde mein Pass mit dem Vermerk „Rückkehr nach Jordanien verboten“ abgestempelt.
Liebes Deutschland, ich erzähle das nicht, um wohlige Emotionen zu wecken – wohl wissend, dass die Entscheidung, vielen das Leben zu retten, indem man ihnen die Einreise erlaubte, ihr Menschsein nun auf andere Weise infrage stellt.
Der Versuch der Rechten, unsere Existenz in diesem Land zu bekämpfen, trifft uns schwer. Millionen Syrerinnen und Syrer haben Ähnliches wie ich erlebt – ob sie nun im Land selbst vertrieben wurden, in die Nachbarländer flohen oder übers Meer nach Europa kamen. Ich erzähle meinen Weg hierher aus einem Grund: Ich habe mir das Bleiben nicht ausgesucht. Das Bleiben war anfangs, über viele Jahre und bis vor Kurzem, reine Überlebensstrategie.
Meine Freundinnen und Freunde warnen mich stets, kleine Dörfer oder ländliche Gegenden seien für Ausländer nicht sicher. Die Erfahrungen, die ich während meiner ersten zwei Monate in Deutschland als Stipendiat im Heinrich-Böll-Haus in Langenbroich bei Düren machte, waren aber ambivalenter. Weil ich zu Beginn nicht zum Ort gehörte und nur an mein Überleben dachte, kümmerte mich Rassismus einerseits nicht, andererseits begegnete ich den Menschen um mich herum ohne Vorurteile.
Einmal war ich mit einem irakischen Schriftsteller unterwegs, der mit mir im Heinrich-Böll-Haus am Waldrand wohnte. In einer Kneipe begrüßte uns die Wirtin herzlich. Obwohl wir keine gemeinsame Sprache hatten, fand sie immer einen Weg, uns zum Lachen zu bringen. Mit den anderen Gästen saßen wir um einen Tisch und versuchten uns Geschichten zu erzählen, obwohl uns die Worte fehlten. Am Ende übernahmen sie unsere Rechnung und fuhren uns mit dem Auto nach Hause.
Ein anderer Tag, eine andere Kneipe: Als ich hineinzugehen versuchte, schrie mich die Besitzerin an und warf mich direkt wieder hinaus.
Zehn Jahre Flüchtlingssommer 2015: Die großen Fragen von damals sind die großen Fragen von heute – ganz egal, ob es um Grenzkontrollen, Integration oder die AfD geht. Die taz sucht in einem Sonderprojekt Antworten.
Die Schwierigkeit der vergangenen Jahre bestand darin, aus dem Überlebensmodus auszubrechen. Es ging darum, diese Gesellschaft nicht länger als Zwischenraum zu sehen, zu dem ich nicht gehöre und in dessen Angelegenheiten ich mich nicht einmische. Sondern als Gemeinschaft, deren Teil ich bin.
Diese Partnerschaft verpflichtet mich, für meine Präsenz einzustehen, politisch mitzuwirken. Nicht als Werkzeug anderer, nicht als Sündenbock für politische Versäumnisse oder als Objekt historischer Schuldkomplexe.
Wenn Politiker fortwährend „Integration“ fordern, müssten sie folgerichtig auch fordern, dass Rassismus, Entmenschlichung und Diskriminierung bekämpft werden. Denn kein Geflüchteter kann „integriert“ sein, ohne sich als Teil der Gesellschaft zu fühlen. Ungleichbehandlung verhindert, dass Menschen sich wirklich als Teil dieser Gesellschaft fühlen können. Darum finde ich es noch immer befremdlich, wenn viele derer, die ständig Integration fordern, gleichzeitig jene bekämpfen, die sich gegen Rassismus wenden. Vielleicht ist es an der Zeit für Gegenintegrationskurse. Integration darf keine Einbahnstraße sein.
Von Nordrhein-Westfalen zog ich nach der Coronapandemie nach Berlin. Die Stadt unterscheidet sich von allen anderen in diesem Land. Sie vereint alle Fremden. Die sozialen, kulturellen und politischen Kreise hier sind andere. Berlin wird damit zu einem sicheren Raum. Aber ein Teil von mir will dieser Sicherheit nicht völlig trauen: Sie ist an die Stadt gebunden, nicht an die deutsche Gesellschaft insgesamt. Berlin bleibt so eher ein Zufluchtsort.
Bis heute versuche ich, wie damals in der Kneipe, zwischen individuellem und institutionellem Rassismus zu unterscheiden. Vielleicht hilft das, nicht in die Berliner Blase zu fliehen, sondern mich um ein Zusammenleben im ganzen Land zu bemühen. Um einen gemeinsamen Raum, nicht nur einen Zufluchtsort, in dem religiöse, politische und soziale Unterschiede bestehen, aber das Gesetz sie alle schützt. Um ein Land, in dem die Institutionen Rassismus bekämpfen. Ich will eine Beziehung aufbauen zu diesem Land, in das ich nicht freiwillig kam, zu dem ich jetzt aber gehören will.
Wir stehen hier für unsere Existenz ein
Meine Ehefrau ist Deutsche und stammt aus Asien. Auf deutschen Straßen erleben wir weniger Rassismus, wenn wir zusammen unterwegs sind. Treffen wir eine rassistische Person, sieht man gleich, wie hilflos sie ist, wen zwei Menschen mit unterschiedlichem Migrationshintergrund vor ihr stehen. Für jede Gruppe gibt es stereotype Sprüche und Beleidigungen. Doch wenn wir zusammen sind, ist unklar, welche rassistischen Sprüche nun die richtigen sind.
Meine Frau war auch dabei, als ich Anfang des Jahres zum ersten Mal wieder nach Syrien reiste. Als wir durch die Altstadt von Damaskus spazierten, riefen Teenager „Ni hao“, also „Hallo“ auf Mandarin, um unsere Aufmerksamkeit zu erregen, uns in ihre Geschäfte zu locken. Das störte mich mehr als manche rassistischen Sprüche, die ich in Deutschland hörte. Doch meine Frau, die in Deutschland über jede rassistische Bemerkung wütend wird, reagierte in Syrien milde. Rassismus sei etwas anderes, sagte sie. Rassismus erkläre Menschen für höher- oder minderwertig und wirke sich auf das ganze Leben aus – auf private Entscheidungen, Arbeit, Wohnung, Gesundheit. Trotzdem konnte auch meine Frau die Rufe nach einigen Tagen nicht mehr ertragen.
Mein Zugehörigkeitsgefühl zu Syrien litt darunter. Mein geliebtes Land, in dem ich zwei Drittel meines Lebens verbracht hatte. Plötzlich war da eine Barriere, die mich daran hinderte, wirklich wieder ein Teil der Gesellschaft dort zu sein.
So kehrten wir nach Deutschland zurück, in ein Land, in dem uns ebenfalls viele ablehnen. Aber wir haben hier ein Zuhause. Wir stehen hier für unsere Existenz ein. Diesen kleinen Ort als meine neue Heimat zu empfinden, bedeutet für mich, dass ich nicht beweisen muss und auch nicht mehr beweisen will, ausreichend integriert zu sein. Ich weigere mich, auf dem politischen Börsenparkett gehandelt zu werden, wo der „Syrerkurs“ nach jedem Vorfall, jeder Nachricht, jeder Veränderung oder jeder Wahl steigt oder fällt. Ich kann so leben wie die anderen und mich auf andere Dinge konzentrieren, die mir wichtig sind.
Jetzt, nach all diesen Jahren, wähle ich bewusst, hier zu bleiben. Die Verbindung ist unlösbar. Mein Zuhause ist jetzt hier, in Deutschland.
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