piwik no script img

Museumskurator über Frantz Fanon„Er glaubte an Universalismus“

Am 20. Juli wäre Frantz Fanon, der Denker der Dekolonisierung, 100 Jahre alt geworden. Gabriel Schimmeroth, Kurator am Museum im Rothenbaum, verteidigt ihn gegen Vereinnahmung.

Frantz Fanon 1960 in Guinea Foto: United Archives/imago
Julian Weber
Interview von Julian Weber

Frantz Fanon wurde am 20. 7. 1925 in Fort de France auf Martinique geboren. Er studierte ab 1946 in Lyon Medizin und Psychologie. In seiner Theorie finden marxistische Ideen und freudianisches Denken zusammen. 1953 wurde Fanon Leiter der psychia­trischen Klinik von Blida/Algerien. Ab 1955 begleitete er den antikolonialen Kampf der Bewegung FLN in Algerien. 1958 war er Bevollmächtigter der FLN für Westafrika, 1960 FLN-Botschafter in Ghana. Er starb 1961 an Leukämie in Bethesda/USA.

taz: Herr Schimmeroth, der US-Literaturwissenschaftler Fredric Jameson hat postuliert, Geschichte sei das, „was schmerzt“. Wie knüpft Ihre Institution daran an?

Gabriel Schimmeroth: Geschichte – als Gewalt, als Trauma – ist in kolonialen Sammlungen materiell präsent. Mit dem Schmerz, von dem Fredric Jameson spricht, müssen wir uns zwangsläufig auseinandersetzen, auf kuratorischer Ebene und in unserem Diskurs- und Vermittlungsprogramm. Frantz Fanons Denken bietet dafür wichtige Impulse.

taz: Jameson bringt Schmerz mit dem Begriff Praxis zusammen, der für Fanon zentral ist. Als Psychiater hat er von dem spanischen Kollegen François Tosquelles gelernt, der vor dem Franco-Regime nach Frankreich flüchten musste.

Schimmeroth: Fanons Arbeit als Psychiater Anfang der 1950er ist zentral, um ihn überhaupt zu verstehen. Der Schmerz, den Jameson beschreibt, ist für Fanon nicht nur theoretisch – er begegnet ihm in der Klinik, in den Körpern und Seelen der Kolonisierten. In seiner Begegnung mit Tosquelles wird deutlich, wie stark Fanon Praxis und politisches Denken zusammenführt. Er war Revolutionär, Theo­retiker, Diplomat – und eben Arzt. Diese Vielschichtigkeit ist der Grund, warum Fanon von unterschiedlichen Seiten herangezogen wird.

taz: Um nicht zu sagen: vereinnahmt …

Schimmeroth: Genau darin lag unser Ansatz: die Vielschichtigkeit sichtbar und diskutierbar zu machen. Wir wollen eine offene, streitbare Auseinandersetzung ermöglichen.

taz: Warum ist Fanon an seinem 100. Geburtstag für Sie also Thema?

Schimmeroth: Wir möchten die holzschnittartige Reduktion aufbrechen. Zu oft wird er vereinnahmt oder dämonisiert – auf der einen Seite als Apostel der Gewalt, auf der anderen als Freiheitskämpfer. Beide Extreme verkennen die Komplexität seines Denkens.

taz: Fanon hat bereits auf Martinique gegen das Vichy-Regime gekämpft und ab 1944 mit der Résistance gegen die Nazis in Frankreich. Wie erklären Sie sich seine kreative Unruhe?

Schimmeroth: Fanon ist die Geschichte von Plantagenwirtschaft und karibischer Sklaverei tief schon von Jugend an vertraut. Die koloniale Erfahrung prägt seine Sicht auf ökonomische und politische Fragen, auch in Nordafrika. Die „Machtergreifung“ des Vichy-Regimes und die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs haben ihn früh politisiert. Inmitten dieses Unrechts glaubte Fanon an einen Universalismus, der über Kolonialismus und Rassismus hinausweist.

taz: Warum ist er als Antifaschist so wichtig?

Schimmeroth: Er wandte sich bereits in der Karibik gegen Pétain, getragen von einem Werteverständnis für die französische Republik. Fanon hat als Freiwilliger gegen Nazideutschland gekämpft und ist für seine Tapferkeit ausgezeichnet worden.

Im Interview: Gabriel Schimmeroth

Gabriel Schimmeroth ist Kurator und Historiker am „Museum am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt (MARKK)“, Hamburg.

Zum 100. Geburtstag von Frantz Fanon gibt es im MARKK eine vierteilige Gesprächsreihe, „Mit Fanon nach vorne denken“. Nächste Termine: Soziologe Eric Otieno Sumba am 24. 7. 2025, Black-Studies-Professorin Vanessa E. Thompson am 4. 9., jeweils um 19 Uhr.

taz: Zuletzt erschöpfte sich die Debatte oft in Fanons Einstellung zur Gewalt, wie er sie im Algerienkrieg erlebt hat.

Schimmeroth: Wenn man ihn pauschal als Apologeten der Gewalt diffamiert, geht verloren, dass er universalistische Werte zu einem Zeitpunkt verteidigte, an dem er das nicht hätte tun müssen.

taz: Fanon begleitet als Arzt ab 1955 den antikolonialen Kampf der FLN gegen Frankreich. Hat er den Einfluss von islamischer Religion auf die FLN übersehen?

Schimmeroth: Fanon war Atheist. Sein Verhältnis zum Islam ist aber interessant. Er hat Französisch gesprochen, die Sprache der Kolonialmacht, kaum Arabisch und galt durch seine Hautfarbe als Außenseiter. Vielleicht hat er unterschätzt, welche identitären religiösen Triebkräfte es in der algerischen Revolution gegeben hat. Fanon passt nicht in die binäre Reduktion, mit der er heute oft in Beschlag genommen wird.

taz: Hamburgs Reichtum wurde maßgeblich im Kolonialismus begründet. Ihr Haus, als Völkerkundemuseum 1879 gegründet, ist ein Kind jener Zeit. Erst 2018 erfolgte die Umbenennung. Ist damit die historische Aufarbeitung abgeschlossen?

Schimmeroth: Nein, die historische Aufarbeitung ist kein abgeschlossener Akt, sondern ein andauernder Prozess.

taz: Die Auseinandersetzung muss weitergehen …

Schimmeroth: Ja. Unsere Institution hat sich intensiv mit Kolonialgeschichte beschäftigt. Darüber hinaus gibt es am MARKK ein Provenienz­forschungsprojekt zu NS-Raubgut, das auch in einer Ausstellung münden wird.

taz: In der NS-Zeit blühte eine Form von Nostalgie für die Kolonialzeit auf.

Schimmeroth: Die deutsche Kolonialzeit endete zwar offiziell 1918, doch koloniale Denkweisen und Verlangen nach Rückgewinnung blieben besonders in der NS-Zeit präsent. Diese Kontinuitäten zeigen, wie tief verwoben Kolonialismus und Faschismus sind. Fanons antifaschistischer Kampf wird vor diesem Hintergrund bedeutungsvoll – denn er macht deutlich, dass Antikolonialismus und Antifaschismus gemeinsam betrachtet werden müssen.

taz: In Sankt Pauli existierte vor 1933 eine Chinatown, die von den Nazis ausgelöscht wurde. Es gab eine afrodeutsche Community. 1928 kam der karibische Linke George Padmore hierher und organisierte einen Kongress der schwarzen Hafenarbeiter. Gibt es bei Fanon Spuren dieser antikolonialen Vorgeschichte?

Schimmeroth: Hamburg war Knotenpunkt des globalen Handels und damit ein Ort, an dem auch antikoloniale Ideen zirkulierten. Das Handeln von George Padmore zeigt, wie Debatten von hier aus weitergetragen wurden. Er nutzte die Infrastruktur des Hafens für die Zirkulation seiner Zeitschrift, bis er 1933 von den Nazis ausgewiesen wurde. Wie Fanon durchlief auch Padmore verschiedene Phasen: vom Kommunisten der 1920er über den Stalinismuskritiker in den 1930ern bis zum Panafrikanisten in den 1950ern, der Kwame Nkrumah beriet.

taz: Wie stehen Padmore und Fanon in Beziehung?

Schimmeroth: Als Fanon 1960 „Die Verdammten dieser Erde“ verfasste, herrschte Aufbruchstimmung. Sowohl Padmore als auch Fanon glaubten, dass politische Systeme veränderbar sind und eine andere Welt möglich ist. Trotz der Konflikte war diese Zeit geprägt von Hoffnung und dem Gefühl, dass Wandel erreichbar ist. Mit Fanon nach vorne zu denken, bedeutet für uns, dieses Fenster zu einer anderen Zukunft offenzuhalten – und sich nicht in Doomscrolling zu verlieren.

taz: Der Befreiungsprozess hat nach Fanons Tod größere Dynamik bekommen. Hoffnungen auf Wohlstand und demokratische Mitbestimmung haben sich nach Unabhängigkeit der afrikanischen Länder zum Großteil nicht erfüllt. Warum nicht?

Schimmeroth: Wenn wir uns die 1960er Jahre anschauen, bis zum Einsetzen des Neoliberalismus, als die Hoffnung stirbt, ist es wichtig zu verstehen, dass damals in Afrika keine westliche Vorstellung von Souveränität kopiert werden sollte. Es gab ein starkes Bewusstsein dafür, dass sich die Welt grundlegend verändern muss. Die UN fungierte damals als wichtige Plattform für diese globalen Veränderungen. Um Fanons Werk heute zu verstehen, ist deshalb entscheidend, es im Kontext der damaligen Hoffnungen zu betrachten.

taz: In der internationalen Debatte wird Fanon als Vordenker des palästinensischen Befreiungskampfes geführt, während Israel als Kolonialmacht gilt. Nach der Gewalt am 7. Oktober hat sich diese Ideologisierung zugespitzt. Was ist daran problematisch?

Schimmeroth: Wenn Fanon mit Palästina, Israel und den Verbrechen vom 7. Oktober in Verbindung gebracht wird, beruht dies vor allem auf einer Rezeption nach seinem Tod – in seinem eigenen Werk spielt Israel keine Rolle.

taz: In welcher Form taucht das, was Fanon als kolonialistisches Übel bekämpft hat, heute wieder auf?

Schimmeroth: Bei US-Vizepräsident J. D. Vance etwa, als dieser den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Oval Office aufforderte: „Haben Sie einmal Danke gesagt!“ Im Sinne Fanons erinnert das Verhalten von Vance an die autoritäre Haltung kolonialer Herrscher, die auf arrogante Weise mit den Kolonisierten sprachen. Danilo Scholz hat in unserer Auftaktveranstaltung die Frage aufgeworfen, ob unser Entsetzen über diesen Moment auch damit zusammenhängt, dass Europa schlicht nicht gewohnt ist, so behandelt zu werden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

3 Kommentare

 / 
  • Mein Eindruck ist, dass die Aufarbeitung des deutschen (und europäischen) Kolonialismus sowie dessen Fortleben im Faschismus inzwischen immer mehr auf Museen verlagert bzw. ausgelagert wird (so wichtig die Rückgabepolitik geraubter Kunstwerke auch sein mag).



    Denn ich glaube nicht, dass es z.B. außerhalb von Hamburg ein kollektives Wissen/Bewusstsein darüber gibt, dass nicht nur die Hanse, sondern eben auch der imperiale Kolonismus zum Reichtum der Stadt beigetragen hat. Ähnliches gilt wohl für Handelsmetropolen und ihre "Blütezeiten" wie London, Sevilla, Brügge, Nantes, Venedig und andere.

  • Als Universalist realisieri Frantz Fanon im Kampf gegen Vichy Regime früh, dass fortgesetzter Kolonialismus unter 1920 gegründetem Völkerbunds Mandat europäischer Großmächte nach 1. Weltkrieg 1914-1918 Siegermächte Versailler Vertrag 1919 Verwerfung Kaiserreichs Japans Appell, Rassengleichheit unter den Völkern der Welt in Völkerbund Charta aufzunehmen an US Kongress, Senat und Präsident Woodrow Wilson gescheitert war, die Entwicklung Inneren Kolonialismus in europäischen Ländern durch Faschismus Benito Mussolinis 1922 in Italien, Machtübergabe in Weimarer Republik an Adolf Hitler NSDAP, 1895 konzepiert gegen sozialdemokratische Umtriebe Mehrheit im Reichstag zu erlangen, durch Alldeutschen Vorsitzenden Krupp Manager Alfred Hugenberg, späterem Pressezar Weimarer Republik, das Konstrukts Rassismus aus 19. Jahrhundert gegen Universalismus Marx, Engels unter Ethnien weltweit und im eigenen Land als Motor für NS Bewegung nationaler Revolution in Politik, Medien, Wirtschaft. Kirchen befeuerte, die ganze Welt nach Konzept NS Notars Carl Schmitt 1888-1985 Freund-Feindschemas formierter Gesellschaften in Ort Strategie der Spannung Innen, Außen versetzt an Perepherie Krieg zu führen

    • @Joachim Petrick:

      Ah, sieh an...