Wahl von Verfassungsrichter*innen: Gegen die Wand
Die Wahl der Richter:innen zum Bundesverfassungsgericht scheitert vorerst. Die Chronologie eines politischen Versagens.

Die Wahl der Richter:innen zum Bundesverfassungsgericht ist normalerweise kein Termin, der Gemüter in Wallung versetzt. Ein Thema, das die Justiziare beschäftigt. Die Hälfte der 16 Richter:innen wird im Bundestag gewählt, die andere Hälfte im Bundesrat. Erforderlich ist jeweils eine Zweidrittelmehrheit.
Dass es am Freitag anders läuft, ahnt man bereits vor der entscheidenden Sitzung. Vor dem Reichstagsgebäude demonstrieren Lebensschützer:innen, halten Plakate von Föten im Mutterleib hoch. Statt ‚business as usual‘ ist Kulturkampf angesagt.
Denn gegen eine der drei Kandidat:innen, die Potsdamer Rechtsprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf, machen rechte Netzwerke und Lebensschützer:innen seit gut zwei Wochen mobil. Die Juristin war Mitglied einer Expert:innenkommission zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Sie hält dies teilweise für geboten. So wie 80 Prozent der Bevölkerung.
Als die SPD der Union Brosius-Gersdorf und eine zweite Kandidatin, Ann-Katrin Kaufhold, vor zweieinhalb Monaten vorschlug, stimmte die Union zu. Die Union hatte ihrerseits einen eigenen Kandidaten, Günter Spinner, nominiert. Alle drei sollten zusammen gewählt werden. So war es mit der SPD besprochen.
Kulturkampf, Plagiatsvorwürfe, Morddrohungen
Aber dann läuft die Kampagne an. In sozialen Medien wird behauptet, Brosius-Gersdorf wolle Babys im Mutterleib zerstückeln, sie erhält Morddrohungen. Am Freitagmorgen tauchen dann auch noch Plagiatsvorwürfe auf. Demnach habe Brosius-Gersdorf in ihrer Doktorarbeit an 23 Stellen bei der Habilitation ihres Mannes abgeschrieben. Die Vorwürfe wirken schon deshalb konstruiert, weil ihre Doktorarbeit ein Jahr vor der Habilitation ihres Mannes erschien. Die Plagiatsvorwürfe werden wenige Stunden später wieder zurückgezogen.
Aber: Die Kampagne wirkt. Immer mehr Unionsabgeordnete melden Bedenken und Redebedarf bei Fraktionschef Jens Spahn an. Er wirbt bis zuletzt für den Vorschlag der Koalition, schafft es aber nicht, die eigene Fraktion zusammenzuhalten. Obwohl der 12-köpfige, vertraulich tagende Wahlausschuss am Montag mit Zweidrittelmehrheit die Kandidat:innen vorgeschlagen hatte, obwohl Merz sich am Mittwoch in der Regierungsbefragung auch persönlich hinter Brosius-Gersdorf gestellt hatte.
Am Freitagmorgen trifft sich die Union um 8 Uhr zur Sondersitzung. Merz und Spahn fällen eine Entscheidung: Sie wollen der SPD vorschlagen, nur zwei Richter:innen zu wählen und die Wahl von Brosius-Gersdorf zu vertagen. Man informiert SPD-Fraktionschef Matthias Miersch und Parteichef Lars Klingbeil. Die Bundestagssitzung wird kurz darauf unterbrochen, die SPD ist empört. Sie trifft sich ihrerseits um 10.30 Uhr. Die Entscheidung fällt schnell und einmütig: Die Wahl aller drei Kandidat:innen wird von der Tagesordnung abgesetzt, nur so lässt sich ein Koalitionscrash in letzter Minute abwenden.
Führungsversagen von Spahn und Merz
In der SPD ist man sauer. Sieht ein Führungsversagen von Spahn und Merz. „Wir werden gerade Zeuge, wie eine hochqualifizierte Kandidatin mit makellosem Werdegang und breiter fachlicher Anerkennung Opfer einer Schmutzkampagne wird, die haltlos ist“, erklärt der Erste Parlamentarische Geschäftsführer Dirk Wiese. „Das Problem heute ist, dass die Unionsführung die nötige Mehrheit in ihren eigenen Reihen nicht sicherstellen konnte.“
Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann wird grundsätzlicher: „Dieser Tag ist ein absolutes Desaster für das Parlament, für die Demokratie und das Bundesverfassungsgericht“, sagt sie im Bundestag. In der Verantwortung dafür sieht sie Friedrich Merz, vor allem aber den Unionsfraktionsvorsitzenden Spahn. Er habe es nicht geschafft, in seiner Fraktion die Mehrheiten für die gemeinsamen Richterkandidat*innen zu organisieren. So sieht es auch die Fraktionsvorsitzende der Linken, Heidi Reichinnek: „Die Absetzung der Wahlen ist ein absolutes Armutszeugnis für Sie, Herr Spahn.“
Frust sitzt tief
Der Parlamentarische Geschäftsführer der Union, Steffen Bilger, übernimmt die Deutungshoheit anstelle von Spahn, der sonst kein Mikrofon auslässt. „Wir wären bereit gewesen, die beiden anderen Kandidaten zu wählen.“ Doch eine Verständigung sei an diesem Tag nicht mehr möglich gewesen, deshalb habe auch die Union die Streichung des Tagesordnungspunkts beantragt. Es ist der Versuch, die Kontrolle ein wenig zurückzugewinnen und der SPD eine Teilschuld zuzuschieben.
Doch dort sitzt der Frust tief. Man werde an Brosius-Gersdorf festhalten, heißt es am Freitag. Wann und ob sie gewählt wird, ist unklar. Möglicherweise nach der Sommerpause, vielleicht auch nie.
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