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orte des wissensWider den Eurozentrismus

An der Uni Hildesheim zeigt die Forschungsgruppe „Philosophieren in einer globalisierten Welt – historische und systematische Perspektiven“, wie wichtig multiperspektivisches Denken ist

In William Shakespeares „Romeo und Julia“, Akt 3, Szene 3, bezeichnet Franziskanermönch ­Lorenzo die Philosophie als „der Trübsal süße Milch“. Romeo antwortet: „Hängt die Philosophie!“ Viele reale Menschen des Hier und Heute winken ähnlich ab wie Shakespeares jahrhundertealte Bühnenfiguren: Philosophie? Angesichts der multiplen Weltkrisen unserer Tage gebe es Wichtigeres als intellektuelles Gerede, heißt es dann rasch.

Wie kurzsichtig diese Einschätzung ist, und wie wirkungsvoll gerade multiperspektivisches Philosophieren helfen kann, die oft überfordernde, tiefgreifenden Wandel verursachende Komplexität unserer Moderne zu verstehen, zeigt die Kolleg-Forschungsgruppe „Philosophieren in einer globalisierten Welt – historische und systematische Perspektiven“. Angesiedelt ist sie an der Universität Hildesheim am Institut Philosophie im Fachbereich Kulturwissenschaften und Ästhetische Kommunikation. Im Herbst 2024 hat sie ihre Arbeit aufgenommen, gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).

Unter Leitung von Rolf Elberfeld, seit Langem profiliert in der transkulturellen Erforschung von Philosophie-Traditionen, zielt die Gruppe darauf, die Dominanz des eurozen­trisch-angloamerikanischen Philosophie-Begriffs aufzubrechen. Es gelte, „aus den historischen Forschungen, aber auch außereuropäischen, feministischen und post/dekolonialen Perspektiven, grundlegende systematische Konsequenzen für einen Philosophiebegriff im weiten Sinne“ zu ziehen, heißt es in der Projektbeschreibung der DFG. Eine Arbeit also gegen Marginalisierung und Exklusion.

Die Forschungsgruppe beginnt nicht bei null. Als empirische Grundlage dienen ihr die Ergebnisse des 2019 bis 2024 in Hildesheim Reinhart Koselleck-Projekts „Geschichte der Philosophie in globaler Perspektive“, das Elberfeld ebenfalls geleitet hat. Es mündete in eine Datenbank mit Philosophie-Geschichten in Dutzenden Sprachen.

„Philosophieren in einer globalisierten Welt“ ist zunächst für vier Jahre bewilligt, vier weitere können folgen. Auftakt war die Ringvorlesung „Was ist Philosophie? Hildesheimer Polylog mit Phi­lo­so­ph*in­nen aus Afrika“. „Sie hat die Pluralität, auf die wir zielen, deutlich sichtbar gemacht“, sagt Elberfeld der taz. Es gehe „um die Betrachtung der Vielfalt philosophischer Denkfiguren“.

Die erste Hälfte der vier Jahre dreht sich um Philosophien in Afrika und Lateinamerika, die zweite um Indien, China, Korea und Japan. Wer annimmt, das neunköpfige Team, das internationale WissenschaftlerInnen ergänzen, ziele auf eine Global-Philosophie, die alle Philosophien zu einer einzigen verschmilzt, könnte nicht grundsätzlicher irren: „Es geht uns um die Demokratisierung des Denkens“, sagt Elberfeld. „Wir müssen unser Dialogverhalten ändern. Unser Philosophie-Begriff ist ja Ausdruck eines hochgradigen Selektionsprozesses, aus dem Verdrängung und Unterdrückung sprechen. Bis heute sehen wir das Andere nicht.“

Indem sie programmatisch auf die Wertschätzung der Vielfalt setzt, tritt die Forschungsgruppe zugleich der rechtspopulistischen Falsch-Versprechung entgegen, die Lösung aller Probleme sei größtmögliche Einheitlichkeit und Einfachheit. „Diese Tendenz erregt Besorgnis“, sagt Elberfeld. „Ob sie eines Tages auch unsere Arbeit berührt, müssen wir abwarten.“ Bis dahin baut „Philosophieren in einer globalisierten Welt“ auf Kanon- und Gesichtsfeld-Erweiterungen, auf Offenheit, auf „polylogische Auseinandersetzung mit Philosophie-Traditionen“, so Elberfeld.

Ziel ist nicht eine einheitliche Global-Philosophie, sondern eine echte Demokratisierung des Denkens

Philosophie bedeutet „Liebe zur Weisheit“. Eine Philosophie-Geschichtsschreibung, die das Fremde zugunsten des Eigenen ignoriert, hat mit beidem wenig zu tun.

Harff-Peter Schönherr

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