: Wie Weimar ist die Gegenwart?
Auf Demos und im Bundestag wird gerade vor Verhältnissen wie kurz vor 1933 gewarnt. Aber was bringt der Vergleich? Fragen an Jens Bisky, der 640 Seiten über das Ende der Weimarer Republik geschrieben hat
Interview Kersten Augustin
taz: Herr Bisky, Sie haben ein Buch geschrieben über das Ende der ersten deutschen Republik. Haben Sie zurzeit oft Déjà-vus?
Jens Bisky: Ja, ständig! Die hatte ich schon beim Schreiben: 1929 protestieren Bauern, eine „nationale Opposition“ formiert sich. Das Haushaltsdefizit wächst, darüber zerbricht die Koalitionsregierung unter Hermann Müller, die letzte Regierung mit parlamentarischer Mehrheit in der Geschichte der Republik.
taz: Auch die Ampel ist an einem Haushaltsstreit zerbrochen. Und die CDU stimmt erstmals mit der AfD für ein Gesetz im Bundestag.
Bisky: An Weimar erinnert mich das Entschlossenheitsgetue nach den Morden in Aschaffenburg, die Absage ans Reden, an Kompromisse. Grundlage einer freiheitlichen Ordnung sind dauerndes Geplapper und Kompromisssuche. Aber ich bin mir sicher, dass es damit nach dem 23. Februar weitergehen wird. Ich unterstelle Merz nicht, dass er mit der AfD koalieren will. Das ist ein großer Unterschied zu rechten Parteien am Ende der Weimarer Republik.
taz: Friedrich Merz bemüht den Weimar-Vergleich selbst: Einmal 1933 reiche, hat er gesagt. Warum?
Bisky: Er ist ja damit nicht allein. Der Weimar-Vergleich ist umso erfolgreicher, je ungenauer er ist. Es geht Merz wohl darum, ein diffuses Gefühl anzusprechen. Ich habe nichts gegen Vergleiche, es geht nicht ohne sie, aber man muss genau sein.
taz: Dann versuchen wir das mal. 1929 ist die Weimarer Republik relativ stabil, die SPD ist stärkste Kraft, die NSDAP landet bei den Wahlen auf dem sechsten Platz. Vier Jahre reichen dann, um die Republik zu zerstören.
Bisky: Die damalige Dynamik ist noch im Rückblick überraschend – ein Strudel, in dem das politische System untergeht. Der Sozialdemokrat Carl Severing forderte das Kabinett auf, es darauf ankommen zu lassen, „in offener Feldschlacht zu fallen“.
taz: Offene Feldschlacht – so, wie die FDP es geplant hatte. Noch ein Déjà-vu?
Bisky: Vor allem ein Beleg für die Beliebtheit militärischer Metaphern. Und danach wird mit Heinrich Brüning ein Kanzler installiert, der auf den Reichspräsidenten Hindenburg zählen kann, der die Regierungspolitik mit Notverordnungen durchsetzt – gegen das Parlament. Brünings autoritärer Regierungsstil bediente eine verbreitete Sehnsucht.
taz: Nach Brüning kam im Frühjahr 1932 Franz von Papen, als Kanzler eines reaktionären Präsidialkabinetts. Er warb um die Zustimmung der NSDAP; er wolle die Nazis zähmen, hieß es. Manche sehen darin Parallelen zu Friedrich Merz heute.
Bisky: Von Papen hat das SA-Verbot aufgehoben. Es gibt dazu keine Parallele in der Gegenwart. Und was heißt „zähmen“? Soweit ich sehe, hat Papen kaum praktische Schritte zur Zähmung unternommen. Das ist ein Entschuldigungswort.
taz: Von Franz von Papen stammt der Satz, man müsse Hitler in die Ecke drücken, bis er quietscht.
Bisky: Er hat damals nicht einmal versucht, Hitler auch nur die Ecke zu zeigen, in die er ihn drängen wollen würde. Unterstellt man von Papen eine Zähmungsabsicht, ist er gescheitert. Doch es war ihm viel wichtiger, die SPD und alle „Marxisten“ aus Machtpositionen zu verdrängen, die Republik zu zerstören. Darin war er erfolgreich.
taz: Noch eine Ähnlichkeit zu damals: Auch heute verstärkt eine Wirtschaftskrise den Rechtsruck.
Bisky: Die Wirtschaft der Weimarer Republik schwächelte bereits, bevor in New York die Börse crashte. Anfang 1930 gab es dann etwa drei Millionen Arbeitslose, Ende 1930 war der Hunger zurück in Deutschland. Und Hunger ist etwas anderes, als die Inflation im Supermarkt zu spüren.
taz: Da hört das Déjà-vu also auf?
Bisky: Es gab viel weniger soziale Absicherung als heute. Ich schreibe im Buch über eine kommunistische Familie aus Berlin-Wedding. Da wird der Pullover für den Vater auf Kredit gekauft. Dann brach 1931 das Weltfinanzsystem zusammen, und die nationale Opposition gewann immer mehr Stimmen.
taz: Sie sagen, man dürfe die organisatorische Leistung der NSDAP nicht unterschätzen: Sie schaffte es schnell, zu einer Volkspartei für alle Berufsgruppen zu werden. Hätte man die Partei verbieten können?
Bisky: Sie war ja nach dem Bierkeller-Putsch 1923 verboten. Dann hat man sie – ein Beispiel für die Liberalität der Republik – wieder zugelassen. In einzelnen Ländern aber galt für Hitler weiterhin ein Redeverbot. 1932 wurde die SA verboten. Daraufhin sank die Zahl der Toten durch politische Gewalt sofort. Doch Franz von Papen hob als Erstes das Verbot wieder auf. Er und die Reichswehrführung glaubten, man brauche diese bewaffneten jungen Leute, um die Grenzen zu schützen. Viele rechneten damit, dass Polen Deutschland überfallen werde.
Jens Bisky, geboren 1966 in Leipzig, ist Germanist und Kulturwissenschaftler. Sein Buch „Die Entscheidung. Deutschland 1929 bis 1934“ ist im vergangenen Oktober im Rowohlt Verlag erschienen (640 Seiten, 29,99 Euro). Eine Langfassung dieses Gesprächs gibt es auf taz.de/weimar.
taz: Damals wie heute gibt es unter Konservativen eine Sehnsucht nach Disruption. Merz träumt von Politik per Dekret wie sein Vorbild Donald Trump. Wie kam es am Ende von Weimar zum Vertrauensverlust der Bürgerlichen in die Demokratie?
Bisky: Zum Bürgertum gehörte immer auch die Lust am Antibürgerlichen. Bei Merz sehe ich das nicht. Der CDU faschistische Tendenzen zu unterstellen scheint mir falsch und obendrein eine große politische Dummheit. Ende der zwanziger Jahre stehen im bürgerlichen Lager, wenn man das so grob vereinfachend sagen will, jene, die aus dem Geist der Frontkameradschaft heraus eine Diktatur herbeiführen wollen, gegen andere wie etwa Thomas Mann, die für Aussöhnung mit den Kriegsgegnern und Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten werben.
taz: Heute sind Rechtsextreme sehr wirtschaftsliberal. Elon Musk macht Wahlwerbung für die AfD, Deutschlands einflussreichster Verleger sucht seine Nähe. Wann begannen sich die Reichen damals für die NSDAP zu interessieren?
Bisky: Es gab frühe Unterstützer Hitlers, auch in der Wirtschaft. In München und Berlin öffnen vermögende Gattinnen den Nazis die Türen der Salons. Der Ausdruck, man macht jemanden „salonfähig“, überschätzt die Sauberkeit von Salons. Aber wir haben heute keine Wirtschaft, die gegen die politische Ordnung des Landes agitiert. Wir haben auch wenig Unterstützung für die AfD an den Universitäten. Die Unis waren schon Mitte der zwanziger Jahre für die Republik verloren.
taz: Ist der Vergleich zwischen NSDAP und AfD deshalb falsch?
Bisky: Vergleichen kann man alles, aber wer die Unterschiede übersieht, wird blind für die Gegenwart. Die AfD war eine Gründung bundesrepublikanischer Eliten aus der zweiten Reihe. Sie hat immer wieder versucht, sich als bürgerliche Partei zu inszenieren. Die Nazis verachteten die bürgerliche Welt. Die AfD unterhält keine Privatarmee wie die SA. Nachzudenken wäre darüber, warum es nicht gelungen ist, den Aufstieg der AfD aufzuhalten.
taz: Auch gegen den Aufstieg der NSDAP fanden die politischen Kräfte, die die Republik stützten, kein Mittel.
Bisky: Unter viel dramatischeren Umständen. Der Zentrumspolitiker Heinrich Brüning, Reichskanzler von 1930 bis 1932, setzte auf Austeritätspolitik, was die Wirtschaftskrise verschärfte. Die SPD beschränkte sich darauf, den Sozialstaat, den Rechtsstaat und ihre Machtpositionen – vor allem in Preußen – zu verteidigen. Das war nicht wenig, aber die Sozialdemokratie blieb in der Defensive.
taz: Ist es eine Gefahr, wenn Sozialdemokratie nur den Status quo verteidigt und der Veränderungswille von rechts kommt?
Bisky: So allgemeine Merksätze stimmen meistens nur halb. Was bedeutete „Status quo“ mitten im Zusammenbruch des internationalen Finanzsystems? Gewiss, es war ein Fehler, dass die SPD 1932 die Wiederwahl Hindenburgs unterstützte und auf einen eigenen Kandidaten verzichtete; dass sie dann ohne Programm zur Überwindung der Wirtschaftskrise in den Wahlkampf ging; dass sie sich auf den angekündigten Staatsstreich, den Preußenschlag, nicht angemessen vorbereitete. Schaut man sich die konkreten Situationen, die Zwänge und Handlungsmöglichkeiten an, verliert man rasch die Lust an spätgeborener Besserwisserei. So einfach ist es nicht, zu sagen, was man hätte anders machen können.
taz: Ja, was?
Bisky: Aus guten Gründen entschied sich die SPD im Herbst 1930, Reichskanzler Brüning zu tolerieren. Andernfalls hätte es Neuwahlen und sehr wahrscheinlich noch mehr Stimmen für NSDAP und KPD gegeben.
taz: Ein Dilemma.
Bisky: Ja, aber wenn man sich für die Tolerierung entscheidet, muss man überlegen, wie man da wieder rauskommt.
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taz: Hat die SPD also staatspolitische Verantwortung verwechselt mit: Wir machen weiter wie bisher?
Bisky: Ich will dann doch eine Lanze für staatspolitische Verantwortung und die SPD der Weimarer Republik brechen. Sie hat es im Bündnis mit dem Zentrum und den Liberalen geschafft, nach der Niederlage eine freiheitliche Ordnung mit einem starken Sozialstaat aufzubauen und das Land halbwegs zu befrieden. Was hätte die SPD denn 1930 tun sollen? Ihre Anhänger bewaffnen? Und dann?
taz: Kurt Tucholsky machte sich 1930 über die Strategie der SPD lustig: „Der Vorstand hat mit Stimmenmehrheit beschlossen, über die jetzigen innenpolitischen Zustände sehr entrüstet zu sein.“ Da denke ich an Rolf Mützenich, der empört war, nachdem die CDU mit der AfD gestimmt hatte.
Bisky: Tucholsky ist ein bisschen unfair, aber er trifft einen Punkt. Es hat politisch wenig Sinn, dauerempört zu sein. Das sollte man nach zwölf Jahren AfD verstanden haben. Wähler erwarten Handlungsmacht, Entrüstung bedeutet Ohnmacht.
taz: Wenn Sie mit dem Wissen über Weimar auf die Gegenwart schauen, sehen Sie die Demokratie bedroht?
Bisky: Ich schreibe meistens von der Republik, nicht von der Demokratie. Ich halte Rechtsstaatlichkeit und Liberalität für viel bedrohter als die Demokratie. Auch die AfD will das Modell Orbán, eine illiberale Demokratie.
taz: Wir wissen, was damals geschah. Für die Gegenwart wissen wir nicht, über welche Momente man sagen wird: Das war der entscheidende Moment. Macht Ihnen das Angst?
Nein. Ich rechne, erst recht nach der Arbeit an diesem Buch, immer mit dem Schlimmsten – um Illusionen zu vermeiden. Ansonsten empfehle ich republikanische Gelassenheit.
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