Social-Media-Star im Bundestagswahlkampf: Wie ein Phoenix aus der roten Asche
Lange sah es aus, als ob die Linke aus dem Bundestag fliegt. Jetzt ist sie im Aufwind, auch dank Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek. Wie macht sie das?
![Heidi Reichinnek bei einem wahlkampfauftritt. Heidi Reichinnek bei einem wahlkampfauftritt.](https://taz.de/picture/7532212/14/37580788-1.jpeg)
Jana M., 21 Jahre alt, Lehramtsstudentin, steht schon ziemlich weit vorn in der Schlange. „Heidi war unter den Top drei meiner Celebrity Crushes im letzten Jahr“, erklärt sie ihren Freund*innen. Die vier schwänzen gerade eine Vorlesung in Erziehungswissenschaft, um mit Reichinnek ein Selfie zu machen. Auf Tiktok hat die 36-Jährige mit den vielen Tattoos mittlerweile mehr als 500.000 Follower, über 300.000 mehr als Olaf Scholz. „Heidi for Bundeskanzlerin“, steht in den Kommentaren, oder „Meine Löwin“.
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2021 ist Reichinnek über die niedersächsische Landesliste in den Bundestag eingezogen. Im November 2024 wurde sie mit Jan van Aken zur Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl gekürt. Nun soll sie nicht nur die jungen Erwachsenen aus Gen Z begeistern, sondern die Partei zum Wiedereinzug in den Bundestag führen. Als Friedrich Merz im Bundestag die Brandmauer zu Fall brachte, ging Reichinnek mit ihrer wutentbrannten Rede viral und erreichte weit mehr Menschen als die übliche Linken-Wählerschaft.
In Umfragen kam die Linke Ende Januar erstmals seit Herbst 2023 wieder bundesweit auf 5 Prozent, die Forschungsgruppe Wahlen sieht sie inzwischen bei 7. Ob die Partei am 23. Februar wirklich die Sperrklausel überwindet oder drei Direktmandate gewinnt, die auch für den Wiedereinzug ins Parlament reichen würden, bleibt ungewiss. Aber es sieht gut aus.
Schneller Aufstieg
Und Reichinnek schafft einiges. Nach ihrem Eintritt in die Linke 2015 steigt sie schnell auf. 2016 wird sie Stadträtin in Osnabrück, kurz darauf Landessprecherin der Linksjugend, 2019 Parteivorsitzende in Niedersachsen. 2021 folgt der Einzug in den Bundestag. Reichinnek beginnt, auf Tiktok und Instagram über ihre Arbeit im Parlament zu informieren. Es geht um ihren Fachbereich, also Kinder-, Jugend-, Frauen- und Familienpolitik, aber auch um Rente, Friedrich Merz und die AfD. Sich selbst bezeichnet sie als Feministin, Sozialistin und Antifaschistin. Studiert hat Reichinnek Nahoststudien und Politikwissenschaft, zudem in der Jugendhilfe und mit minderjährigen Geflüchteten gearbeitet.
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Reichinnek ist ambitioniert. 2022 hatte sie schon einmal für den Parteivorsitz kandidiert, gestützt vom damaligen Fraktionsvorsitzenden Dietmar Bartsch und auch von Sahra Wagenknecht. Sie unterlag der amtierenden Vorsitzenden Janine Wissler. Rund anderthalb Jahre später trat sie im Februar 2024 erneut an, diesmal für den Gruppenvorsitz, nachdem die Linkspartei durch Wagenknechts Weggang den Fraktionsstatus verloren hatte. Heute bezeichnet Reichinnek das BSW in ihren Reden gern als „outgesourcten Personenkult.“
Diese Wahl gewann sie. Zuvor hatte Reichinnek sich schon über die Fraktion hinaus einen Namen gemacht, vor allem wegen ihrer Präsenz auf Social Media. Bei vielen älteren Parteimitgliedern in Ostdeutschland kommt ihr zugute, dass sie in Merseburg geboren und im sachsen-anhaltinischen Obhausen aufgewachsen ist – eine von ihnen.
Freitag vor Weihnachten, in Reichinneks Bundestagsbüro steht Stollen auf dem Tisch. „Hier ist in den letzten Wochen richtig gute Laune“, sagt Reichinnek. „Ich weiß gar nicht, wohin mit meiner ganzen Energie.“ Wie sie damit klarkommt, dass das Schicksal der Linkspartei auf ihren Schultern liegt? „Wir gewinnen zusammen, und wir verlieren zusammen“, sagt Reichinnek, „nicht ich als Einzelperson. Ich reiße es hier nicht alleine, und ich versaue es hier auch nicht alleine.“ Klar, die Wahl zum Gruppenvorsitz hätte anders laufen können, findet sie. Aber man sei darüber hinweggekommen, die Gruppe habe sich zusammengerauft.
Klare Arbeitsteilung
Genau genommen war die Wahl zum Gruppenvorsitz eine Katastrophe. Ein neues Zeichen der Geschlossenheit hätte von ihr ausgehen sollen. Stattdessen gewannen Reichinnek und Sören Pellmann in zwei Kampfabstimmungen mit 14 zu 13 Stimmen gegen Clara Bünger und Ates Gürpinar. Die Unterlegenen wurden von den damaligen Parteivorsitzenden Janine Wissler und Martin Schirdewan unterstützt, Reichinnek und Pellmann von Ex-Fraktionschef Bartsch. Das Signal der Wahl: Auch ohne Wagenknecht zerstreitet sich die Linke in Grund und Boden.
Parteitag in Halle an der Saale im Herbst 2024. „Wir gehen auf ein Wahljahr zu, an dessen Ende wir es entweder grandios in den Sand gesetzt haben, oder eines, an dessen Ende wir sagen können, dass wir es geschafft haben, das Ruder rumzureißen“, ruft Reichinnek den Mitgliedern zu. In Halle wählt die Partei ihre neue Führung: Jan van Aken und Ines Schwerdtner übernehmen. Ihr erklärtes Ziel: Sie wollen die alten Streitereien hinter sich lassen. Wenige Wochen später ist die Ampel passé, Reichinnek wird zusammen mit van Aken zum Spitzenduo für den Bundestagswahlkampf gekürt. Die Aufgaben sind klar verteilt: Van Aken übernimmt die Talkshows, Reichinnek ist für Social Media zuständig.
Auch mit hunderttausenden Haustürgesprächen will die Linke neue Wähler*innen gewinnen, allein in Berlin hat sie bis Anfang Februar an über 130.000 Türen geklopft. „Persönliche Begegnungen an Haustüren und Ständen als erster Kontakt sind wichtig“, sagt Benjamin Höhne, Parteienforscher an der TU Chemnitz. Leute aus prekären sozialen Schichten erreiche die Linke momentan kaum, obwohl sie genau deren Themen bearbeite. Auch in der Mittelschicht finde sie mit ihrem Politikangebot nur wenig Resonanz, obwohl diese in Großstädten ein großes Problem mit steigenden Mieten habe. Um potenzielle Wähler*innen stärker an die Partei zu binden, bleibt kaum noch Zeit.
Reichinnek tingelt durchs Land, zu Infoständen, Bürgerzentren, Betriebsräten. Nach Hamburg, wo 1.500 Menschen sie am vergangenen Dienstag erwarteten. Nach Mannheim, Köln, Duisburg, Bamberg – und Bocholt. Die meisten, die dort vor dem historischen Rathaus auf ihre Ankunft warten, wählen dieses Jahr zum ersten Mal den Bundestag mit. Viele gehen noch zur Schule. Sie haben für Reichinnek Freundschaftsarmbänder geknüpft – „Fuck the Patriarchy“ und „Female Rage“ kann man auf den Perlen lesen – und eine Puppe für sie gehäkelt. „Heidi hat ja noch Röhrenjeans an“, beobachtet einer in modischer Schlaghose, „aber sie kann das tragen.“ Sie erzählen Reichinnek von ihren Problemen, etwa von Eltern, die AfD wählen.
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Mithalten bei der Personalisierung des Wahlkampfs
Die Zeit, die Reichinnek am Infostand verbringt, wird sie von den vielen neuen Parteimitgliedern in Anspruch genommen und von denen, die sie ohnehin schon wählen. Auf den jungen Menschen liege jetzt ihr Fokus, sagt Reichinnek. Vor allem bei jungen, progressiven Erwachsenen ist die Politikerin zur Identifikationsfigur geworden. Dank Reichinnek kann die Linke mithalten in der Personalisierung des Wahlkampfs, die andere Parteien vormachen. „Sie ist der absolute Glücksfall für unsere Partei“, sagt der 47-jährige Linken-Bundestagsabgeordnete Jan Korte. „Erst dachte ich, dass sie nur die Tiktok-Community adressiert. Aber sie füllt auch die Hallen.“
Ein kalter Januartag, Neujahrsempfang der Linken in einem Nürnberger Kino. Die Veranstaltung beginnt verspätet, weil der Saal überfüllt ist. Mehrere hundert Menschen sind vor allem wegen Reichinnek gekommen, so erklärt sich der Nürnberger Ortsverband den Ansturm. „Entschuldigung, ich hab den Faden verloren, ich bin so nervös bei so vielen Leuten“, sagt eine überwältigte Kreisrätin, und findet dann doch zurück in ihr Redemanuskript. Das Publikum, im Durchschnitt wohl nicht älter als 25 Jahre, klatscht und jubelt. Eine fränkische Pop-Band zupft auf Gitarren, dann ist Reichinnek an der Reihe.
Sie spricht über Kinderarmut, hohe Mieten und den Rechtsruck. „Guckt euch um in diesem Kinosaal“, sagt Reichinnek. „Wir sind noch immer die Mehrheit in diesem Land.“ Der Applaus nach ihrer Rede klingt eher nach Popkonzert als nach einer Rede über ein Wahlprogramm. Reichinnek verneigt sich. „Heidi, Heidi, Heidi!“, rufen Besucher*innen. Viele stehen auf. Reichinnek wischt sich die Augen. Das Publikum klatscht weiter. „Freunde, ihr macht Heidi verlegen“, ruft Direktkandidat Titus Schüller in den Saal.
Sie spricht über Kinderarmut, hohe Mieten und den Rechtsruck. „Guckt euch um in diesem Kinosaal“, sagt Reichinnek. „Wir sind noch immer die Mehrheit in diesem Land.“ Der Applaus klingt dann eher nach Popkonzert als nach einer Rede über ein Wahlprogramm. Reichinnek verneigt sich. „Heidi, Heidi, Heidi“, rufen Besucher*innen. Viele stehen auf. Der Applaus endet noch immer nicht. Reichinnek wischt sich die Augen. Das Publikum klatscht weiter. „Freunde, ihr macht Heidi verlegen, nochmal richtig“, ruft Direktkandidat Titus Schüller in den Saal und überreicht Reichinnek eine Weinflasche. „Du bist so rot, dass du einen weißen bekommst“ – „politisch rot“, versucht er sich zu korrigieren.
Proletarischer als sonst
„Ich habe jedes Mal vorher ’nen flauen Magen“, sagt Reichinnek einige Tage später über Veranstaltungen wie die in Nürnberg. „Ich will das gut machen.“ Eine Rede bei einem Neujahrsempfang ist nicht mehr nur eine Rede, wenn die Tiktok-Community ihren Star dort zum ersten Mal leibhaftig vor sich sieht, wenn Reichinneks Instagram-Videos längst zum Identitätsangebot geworden sind. „Ich hab Angst, dass ich die Erwartungen der Leute enttäusche“, sagt Reichinnek. Manchmal mache sie sich Sorgen: „Wie lange halte ich das durch? Wie viel kann ich geben?“ Mittlerweile wäre eine Niederlage der Linken doch auch eine persönliche Niederlage von Reichinnek.
Außerordentlicher Bundesparteitag Mitte Januar in Berlin. Hier will die Linke ihr Wahlprogramm verabschieden. „Proletarischer als sonst“, kommentiert Mechthild Greim, Delegierte aus Bayern, das Parteitagsambiente in einem ehemaligen Postbahnhof. „Sonst waren wir immer in großen Messehallen.“ Reichinnek trägt heute ein Freundschaftsarmband in Grün mit der Aufschrift „Mietendeckel“, sie hat es passend zu ihrem Outfit ausgesucht.
Im Saal geht es schließlich auch um Sanktionen gegen Russland. Aber anders als früher, findet Greim: „Es gibt keine verbalen Schläge unter die Gürtellinie.“ Man spüre den Willen, zusammenzuarbeiten. Die konstruktive Stimmung, die auch Delegierte aus Sachsen, Nordrhein-Westfalen und Bremen bestätigen, speist sich nicht nur daraus, dass es bei der Linken jetzt ums Ganze geht.
Auch in der Linken-Gruppe im Bundestag habe sich viel verändert, sagt Korte, der langjährige parlamentarische Geschäftsführer der früheren Fraktion. Inzwischen kämen wieder alle zu den Sitzungen. Der Streit sei zwar weiterhin hart in der Sache, aber nicht mehr verletzend. Reichinnek gebe auch denen Raum, die „nicht immer ihre Kumpels waren, und die honorieren das auch“. Auch die, die beim Gruppenvorsitz gegen sie gestimmt hatten, unterstützten Heidi Reichinnek nun, nur wenige noch zähneknirschend, „weil sie liefert“.
„Auf die Barrikaden!“
Korte glaubt, dass es Reichinnek zugute kommt, noch nicht so lange in der Partei zu sein. „Meine Generation hat sich in einer Unerbittlichkeit gestritten, die nicht mehr zu kitten war“, sagt er. Es sei einfacher, die Partei hinter sich zu vereinen, wenn man bei vielen Auseinandersetzungen gar nicht dabei gewesen sei. „Dann sind da auch nicht so viele Verletzungen, die man verarbeiten muss.“ Auch Reichinneks frühere Kontrahentin Janine Wissler sagt, dass die Gruppe an einem Strang ziehe. „Heidi begeistert Leute für Politik, die wir bisher so nicht erreicht haben“, sagt Wissler. „Das ist beeindruckend.“ Beim Wahlkampfauftakt der hessischen Linken standen Wissler und Reichinnek gemeinsam auf der Bühne.
Dann kommt der 29. Januar – jener Tag, an dem die Union im Bundestag zum ersten Mal auf eine Mehrheit mithilfe der AfD setzt. Nach der Abstimmung hält Reichinnek die vielleicht beste Rede ihrer bisherigen Karriere, in jedem Fall die meistgesehene an diesem Tag. „Gebt nicht auf, sondern wehrt euch!“, ruft Reichinnek „den Menschen da draußen“ zu, „Auf die Barrikaden!“ Knapp 6 Millionen Aufrufe hat der Clip allein in den Tagen danach.
Während Robert Habeck sich in den Tagen darauf mit einem 10-Punkte-Plan zu Migration bei Friedrich Merz anbiedern wird, zeigt Reichinnek ihr Entsetzen über den Unions-Flirt mit der AfD. Mittlerweile sieht es so aus, als ob ihr und ihrer Partei das Bekenntnis zu Menschenrechten am Wahltag zugutekommen wird. „Plötzlich wird diese Sozialistin gefährlich für Merz“, titelte die Bild. Mehr als 85.000 Mitglieder hat die Linke inzwischen – so viele wie seit 2007 nicht mehr. Und der Höhenflug geht weiter.
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