Vorwürfe und Protest gegen Thilo Mischke: Man muss sich die Augen reiben
Der Protest gegen Thilo Mischke bietet eine Chance. Muss es denn ausgerechnet bei „titel thesen temperamente“ ein unterkomplexer Kulturbegriff sein?
Die ARD hat also den Journalisten Thilo Mischke als zukünftigen Moderator von „titel thesen temperamente“ präsentiert. Den Protest, den diese Entscheidung derzeit nach sich zieht, sollten die öffentlich-rechtlichen Programmgestalter ernst nehmen.
Man google nach, was Mischke bisher so geschrieben und gesagt hat, und frage sich dann, ob er etwa ein Buch, in dem es um neue Geschlechterverhältnisse geht – was in aktuellen Romanen gerne vorkommt –, oder ein Theaterstück, das Frauenrollen hinterfragt, glaubwürdig präsentieren kann. Man wird feststellen: Das ist tatsächlich schwer vorstellbar.
Und es sind nicht nur die Sexismusvorwürfe. Außerdem hat Thilo Mischke seinem eigenen Bekunden nach einen „unterkomplexen“ Kulturbegriff, mehr als das Wort „verkaufen“ fällt ihm auf Instagram nicht dazu ein – was fresh klingt. Aber wäre neben gewinnender Bildschirmpräsenz nicht doch auch Expertise auf dem kulturellen Feld ein notwendiges Kriterium für den Moderatorenjob der immer noch reichweitenstärksten Kultursendung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens?
Man muss sich die Augen reiben, wie wenig inhaltliche und formale Ansprüche die Programmgestalter an die von Mischke seinen eigenen Worten nach vertretene „Kultur für alle“ zu stellen bereit sind.
In einem offenen Brief schließen, Stand 3. Januar, mittlerweile 200 Autoren und Autorinnen eine Zusammenarbeit mit Mischke ausdrücklich aus, sie wollen nicht Teil einer von ihm moderierten Sendung sein. Das ist gewiss ein drastischer Schritt. In der Diskussion ist es zudem längst zu dem in den sozialen Medien immer noch unvermeidlichen Austausch von Ressentiments und gegenseitigen Unterstellungen gekommen.
Der Komplexität gerecht werden
Nicht überhören sollte man hier aber eben die Ansprüche an Kulturfernsehen, die in dem offenen Brief formuliert werden: „Wir wünschen uns für das Kulturfernsehen enthusiastische und an Kultur interessierte Moderator*innen, die sensibel und in der Lage sind, auf Gegenwartsdiskurse zu antworten und der Komplexität aktueller Kulturdebatten gerecht zu werden.“
Das ist neben den Sexismusvorwürfen der Punkt, um den sich die ARD jetzt nicht leichtfertig herumwinden sollte. Denn dieser Wunsch nach höheren Ansprüchen in die Kulturberichterstattung ist nicht nur gut und nachvollziehbar, er bietet auch eine Chance. Neben einer seriösen Nachrichtenpräsentation und einer unabhängigen Politikbegleitung gehört nämlich auch differenzierte Kulturberichterstattung zu den legitimierenden Essentials des öffentlich-rechtlichen Fernsehsystems.
Die Programmmacher selbst haben das in ihrem sich abschottenden Gremiendasein offenbar vergessen. Es ist Zeit, sie von außen daran zu erinnern.
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