Hannovers Oberbürgermeister hält durch: Last Man Standing
Seit dem Amtsantritt hat Hannovers grüner Oberbürgermeister Belit Onay fast nur mit Krisen und Rückschlägen zu kämpfen. Aufgeben will er aber nicht.
E s hat bestimmt bequemere Jahre gegeben für einen Oberbürgermeister der Stadt Hannover. Als Belit Onay 2019 in dieses Amt gewählt wurde, war das aus mehreren Gründen eine Sensation. Er war der erste grüne Oberbürgermeister mit türkischen Wurzeln einer deutschen Landeshauptstadt.
In einer Stadt, die zuvor mehr als 70 Jahre lang von der SPD regiert wurde, bis die elende Rathausaffäre um unzulässige Gehaltszulagen dem ein Ende machte. Schon damals deutete sich an, dass das kein leichtes Erbe würde. Die waidwunde SPD litt am Verlust ihres Machtzentrums, die Regierungskoalition, die damals noch aus Grünen, SPD und FDP bestand, galt als wackelig.
Der nicht einmal 40-jährige Onay konnte zwar einiges an politischer, aber wenig an Verwaltungserfahrung vorweisen. Dann folgten Schlag auf Schlag die hinlänglich bekannten Großkrisen. Schon kurze Zeit nach der Amtskette bekam Onay die erste FFP2-Maske überreicht. Jetzt musste er eine ohnehin aufgeriebene Verwaltung über Videokacheln führen.
Ausnahmezustand folgte auf Ausnahmezustand, die Coronapandemie war kaum überwunden, da kamen die Ukraineflüchtlinge, die Energiekrise, dazu eine Haushaltslage, die ständig zu Einsparungen zwang, wo man sie lieber gelassen hätte.
Bemerkenswert resilient
Von der Aufbruchstimmung, die ihn ins Amt befördert hatte, dem historischen Höhenflug der Grünen, der Phase, in der Fridays for Future noch wie die größte Jugendbewegung der vergangenen Jahrzehnte aussah, blieb nicht viel übrig. Genauso wenig wie von dem Projekt, das zu seinen zentralen Wahlversprechen gehört hatte: der autofreien Innenstadt.
Die benutzte die SPD im November 2023, um die ungeliebte grün-rote Koalition, auf die man sich nach der Kommunalwahl 2021 eingelassen hatte, aufzukündigen. Seither scheint es oft, als wäre man hauptsächlich damit beschäftigt, dem Oberbürgermeister Knüppel zwischen die Beine zu werfen.
Das wären an sich schon genug Gründe, die Brocken hinzuwerfen, sich in den Burn-out zu verabschieden oder zumindest das Ende der Amtszeit 2026 herbeizusehnen. Aber Belit Onay macht einfach weiter. Erklärt sogar, er wolle wieder antreten. Er ist ja noch nicht fertig. Diese bemerkenswerte Resilienz musste er allerdings von Anfang an mitbringen. Schon die ersten Tage waren eine emotionale Achterbahnfahrt, wie er das gelegentlich beschreibt.
Am Sonntagabend steht er noch im warmen Applaus auf der Rathaustreppe und kann es nicht recht fassen. Als er am nächsten Morgen sein Handy anmacht, fluten Hassbotschaften herein. Selbst der österreichische Rechtsextremist Martin Sellner hat seine Wahl kommentiert, „Islamisierung und Untergang des Abendlandes“ quakt das Netz, die virtuellen Trollarmeen marschieren los, wenig später stehen zwei Beamte vom Staatsschutz vor Onays Wohnungstür.
„Machen Sie was draus“
Als er sich am Dienstag nach der Wahl auf den Weg zu seinem alten Arbeitsplatz, dem Landtag, macht, spricht ihn an der Fußgängerampel eine Frau an, erzählt Onay. „Sind Sie nicht der neue Oberbürgermeister?“ Und er schildert, wie er zögert, versucht sie einzuordnen, sich innerlich wappnet. Doch als er nickt, sagt sie: „Ich habe Sie zwar nicht gewählt, aber super, dass Sie es geschafft haben, machen Sie was draus.“
In dieser Anekdote stecken gleich mehrere Dinge, die für sein Erleben zentral sind. Da ist zum einen die leidige Frage nach seiner Herkunft. In seiner Kindheit in Goslar habe die keine große Rolle gespielt, erzählt er. Klar habe man gewusst, dass in dieser oder jener Familie noch eine andere Sprache gesprochen wird, andere Gerichte gegessen. Aber das war eher nebensächlich.
Und dann kam Solingen, der Brandanschlag von Neonazis, der im Mai 1993 fünf Menschen das Leben kostete. Er erinnere sich genau an die Diskussionen zu Hause, sagt Onay. Die besorgten Anrufe der Tante aus der Türkei, die Angst seiner Mutter. Auch damals standen Polizisten in der Tür des elterlichen Restaurants. Das „Mamaris“ war eine gute Adresse in Goslar, zentral gelegen, hübsches Fachwerk. Es wäre allerdings vielleicht auch die erste Adresse gewesen, wenn man einen Brandanschlag plante. Die Familie wohnte oben drüber.
Auch bei der aktuellen Migrationsdebatte denkt er immer mal wieder. „Das hatten wir doch alles schon einmal, in den 1990ern.“ Damals waren es Gutscheine, heute ist es die Bezahlkarte. Auch deshalb lässt er bei diesem Thema nicht locker, äußert sich in Talkshows und Nachrichtensendungen, auch wenn dann jedes Mal wieder eine Hasswelle ins Postfach schwappt.
„Wenn ich mich bei diesem Thema wegducke, habe ich für meine Kinder ja nichts besser gemacht. Wir wissen doch, dass das nichts bringt, außer bürokratischem Irrsinn, der Integration erschwert.“
Aber dann gibt es ja auch noch Menschen wie die unbekannte Frau an der Ampel. Die sind ein weiteres Leitmotiv, wenn man mit Belit Onay redet. Er ist felsenfest überzeugt, dass die Menschen in dieser Stadt viel weiter, klüger, großherziger und veränderungsbereiter sind, als mancher in der Lokalpolitik ihnen das zutraut.
So erlebt er jedenfalls die Debatten um sein zweites Lieblingsthema, die Verkehrspolitik, immer wieder. Auch deshalb will er hier weiter ausloten, was eben gerade noch geht, mit der Deutschlandkoalition aus SPD, CDU und FDP, die jetzt im Rathaus gegen ihn anregiert.
Die Kraft dazu gebe ihm die Familie, sagt er. Wenn er eine Spielecke im Dienstzimmer einrichtet, Elternteilzeit nimmt oder Zeiten im Terminkalender blockt, um die Kinder von der Kita abzuholen oder am Rande eines Fußballfeldes zu stehen, dann ist das „reiner Egoismus“, behauptet er. Jedenfalls lässt er sich dabei nicht fotografieren wie andere Politiker.
Familie und Freunde sind sein Gegengewicht, er achtet sorgsam darauf, dass sich diese beiden Wirkungskreise kaum überschneiden. Wer ihm wirklich Übles will, streut das Gerücht, seine Frau Derya habe ihn verlassen und die Kinder mitgenommen. „Alles Quatsch“, sagt er ärgerlich.
Möglicherweise schützt ihn genau dieses klare Rollenverständnis, die Trennung zwischen dem privaten und dem politischen Ich. Der betont ruhige, betont sachliche Onay wirkt wie jemand, der wenig persönlich nimmt – oder es sich zumindest nicht anmerken lässt.
Chef im elterlichen Restaurant
Das habe vielleicht auch mit seinem Aufwachsen zu tun, erklärt er, wenn man ihn darauf anspricht. Als Sohn des Chefs hat er im elterlichen Restaurant früh gelernt, Verantwortung zu übernehmen, Entscheidungen zu treffen, bei unterschiedlichsten Gästen den richtigen Ton zu treffen. Zugleich war immer klar, wer hier Koch, Kellner, Kunde ist.
Mit regelmäßigen Townhall-Meetings, Bürgerversammlungen in den unterschiedlichen Stadtbezirken, versucht er immer wieder, Präsenz zu zeigen, Politik zu erklären, zu zeigen, dass er auch all die anderen Probleme auf dem Schirm hat und beackert – von der Müllverbrennungsanlage in Misburg bis zur Jugendarbeit in der Nordstadt.
Doch oft spürt man dabei die wachsende Ungeduld. Kommunale Entscheidungsprozesse sind zäh, kleinteilig, langwierig. Bürger finden oft, dass alles, was sie betrifft, schon vorgestern hätte erledigt sein müssen. Ohne eigene Mehrheit im Rat werden die Spielräume für den Oberbürgermeister zunehmend enger.
Seine Befürworter beschwören, es bewege sich endlich etwas in der Stadt, verweisen auf neu bespielte öffentliche Plätze, Kultur- und Sportevents, die vorangetriebene Digitalisierung der Verwaltung, einen anderen, moderneren Führungsstil. Seine Gegner zeigen auf die vielen ungelösten Probleme, das wachsende Elend auf den Straßen der Innenstadt, das sich verschlechternde Sicherheitsgefühl, immer noch nicht erfolgte Schulsanierungen.
Schwer zu sagen, was am Ende an der Wahlurne den Ausschlag geben wird. Aber bis dahin muss er ja auch noch eine ganze Weile durchhalten. Erst 2026 wird in Hannover wieder gewählt.
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