: Ein Ständchen für Rio
Am 9. Januar 2025 wäre Rio Reiser 75 Jahre alt geworden. Der Tod des Sängers liegt mittlerweile mehr als 28 Jahre zurück, und immer noch besuchen ihn die Fans – an seinem Grab in Berlin
Aus Berlin Henrike Hartmann
Schon den ganzen Tag kreisen seine Gedanken um Rio Reiser. „Eigentlich hatte ich ja gar nichts persönlich mit ihm zu tun, nichts, null“, sagt Jörg Dahlbeck. Trotzdem ist er aus Ostwestfalen rund 375 Kilometer dorthin gefahren, wo Rio Reiser unter der Erde liegt.
Rio Reiser, mit bürgerlichem Namen Ralph Christian Möbius, starb 1996 mit nur 46 Jahren an inneren Blutungen. Für viele ist diese raue Stimme, von der Dahlbeck sagt, sie unter Tausenden wiederzuerkennen, längst vergessen. Bekannt wurde Rio Reiser als Sänger der westdeutschen Rockband Ton Steine Scherben, mit Liedern wie dem „Rauch-Haus-Song“, „Macht kaputt was euch kaputt macht“ und „Halt dich an deiner Liebe fest“.
Vor Dahlbeck erhebt sich das große Tor des Alten St.-Matthäus-Kirchhofs in Berlin-Schöneberg. Mit Ehrfurcht späht er auf das Gelände dahinter. Er stand zwar schon etliche Male am Grab von Rio Reiser, doch nie musste er dafür auf einen Friedhof.
„Manchmal habe ich stundenlang am Grab gesessen, ein bisschen Gitarre gespielt – und mein Sohn, damals noch ganz klein, tanzte um Rios Grabstein“, erinnert er sich. Es ist nicht lange her, da konnten die Fans von Rio Reiser an seinem Grab Urlaub machen.
14 Jahre lang ruhte Rio Reiser nämlich unter einem Apfelbaum in seinem eigenen Garten in Fresenhagen, Nordfriesland. Bis er starb, lebte Rio Reiser dort auf einem Künstlerhof, den er Mitte der 70er mit seiner Band bezogen hatte. Ihn dort zu beerdigen, war nur durch eine Sondergenehmigung möglich. Rios Haus wurde zu einer Gedenkstätte mitsamt Übernachtungsmöglichkeiten. „Fresenhagen war so was wie der heilige Gral für uns Fans“, sagt Dahlbeck.
Als das Grundstück 2011 finanziell nicht mehr zu halten war, musste Rio Reisers Grab umziehen – auf einen stinknormalen Friedhof. In Berlin. Der Stadt, in der er mit seiner Band einst zur Ikone wurde. Für die Fans war es schwer, das alles zu verdauen: die Exhumierung ihres Idols, das Ende von Fresenhagen.
Dahlbeck geht durch das Friedhofstor, vorbei an der Eingangstafel, auf die jemand mit weißem Stift „RIP RIO“ gekritzelt hat. Langsam schreitet er die Mittelallee des Friedhofs hinauf.
Eine Weile blickt er wortlos auf das Grab, das unter einer Schneedecke kaum zu erkennen ist. Nichts an diesem Ort strahlt die Lebendigkeit aus, die er von Rios alter Ruhestätte gewohnt ist. „Alles ist so durchdrungen von Tod und Trauer“, sagt er.
Anstelle von Blumen hat er Rio ein kleines Ständchen mitgebracht. Dahlbeck lässt seinen Blick über den Friedhofsweg wandern. Niemand in der Nähe, also zieht er sein Smartphone aus der Tasche und öffnet den Text seines liebsten Rio-Reiser-Songs, „Weit von hier“. Noch einmal holt er Luft, dann beginnt er zu singen – so laut, dass seine Stimme selbst tief in der Erde, wo Rio ruht, ankommen müsste.
Aber warum das alles? Was zieht Fans wie Jörg Dahlbeck fast 30 Jahre nach Rio Reisers Tod immer noch an dessen Grab?
Anruf bei Norbert Fischer, Kulturwissenschaftler an der Universität Hamburg, der zum Trauerprozess von Musikfans geforscht hat. „Diese Verehrung von uns unbekannten Personen, von Stars, hat ja auch etwas Religiöses an sich.“ Er erklärt, dass die Verbindung zwischen Fans und ihren Idolen oft eine außergewöhnliche emotionale Tiefe aufweist – ähnlich wie die Bindung zu Menschen, die uns aus anderen Gründen nahe stehen. Besonders stark sei diese Verbindung, wenn uns die Musik in entscheidenden Lebensmomenten begleitet hat. So wie Menschen die Gräber ihrer Angehörigen besuchen, zieht es Fans also zu den Gräbern ihrer Idole, wenn sie für ihr Leben eine wichtige Rolle spielen.
Dahlbeck greift nach einem kleinen Schild, das in der Mitte vom Grab an einem kahlen Strauch baumelt. Es zeigt das Albumcover von „Keine Macht für Niemand“. „Es ist ein bisschen so, als wenn man sich selbst noch mal begegnet“, sagt er. 1979, als 15 Jahre alter Lehrling, habe er sich diese Platte im Sonderangebot gekauft. Es war seine erste Platte von Ton Steine Scherben.
Rios Texte seien für ihn damals wie eine Offenbarung gewesen, sagt Dahlbeck. „Ich will nicht werden, was mein Alter ist“, hörte er Rio in einem seiner Lieder singen. Zeilen wie diese hätten ihm Mut gemacht. Fest entschlossen, nicht das bürgerliche Leben seiner Eltern zu führen, zog er in seiner Heimatstadt Bochum in ein besetztes Fabrikgebäude. 1981 spielten dort Ton Steine Scherben. Die Luft war so schlecht, dass man keinen eigenen Joint mehr brauchte, sagt Dahlbeck. Wie oft er Rio Reiser auf der Bühne erlebt hat, weiß Dahlbeck nicht genau, er schätzt aber 20 bis 30 Mal.
Während er all die Erinnerungen durchgeht, die er mit Rios Musik verbindet, denkt er auch an den Tod einer Jugendfreundin, die Rio ebenso verehrte wie er. „Seine Lieder rufen immer etwas wach, manchmal ist es dieses Kämpferische, manchmal aber auch dieses abgrundtief Traurige“, sagt er. Jörg Dahlbeck verabschiedet sich von Rio Reiser.
Horst Lusker, Mitarbeiter des Friedhofs, bleibt am Grab von Rio Reiser stehen. Er weiß genau, welche Szenen sich hier regelmäßig abspielen: „Gerade wenn es wärmer wird, kommen viele Leute, fragen nach ihm, setzen sich hin, klönen rum und spielen Gitarre – das passiert schon recht häufig.“ Neben dem Grab der Gebrüder Grimm hier sei es Rio Reisers Grab, das am stärksten nachgefragt sei, sagt Lusker, „teilweise sind es ganze Touristengruppen, die zu diesen Gräbern wollen“.
Schon am nächsten Tag reiht sich eine Fünfergruppe um das Grab. „Zum Glück ist unsere Tafel noch da.“ Matthias Leyh deutet auf die Schieferplatte in der Ecke vom Grab, darauf die Worte „Viele Jahre ohne ein Wort, graue Schatten ferner Ort. Viele Jahre weg von hier, Rio, deine Lieder fehlen mir.“ Vor zwei Jahren habe er sie hier platziert. „So etwas hält länger als Blumen und zeigt den Leuten: Wir sind für Rio da und besuchen ihn immer gerne.“
Der Sänger
Rio Reiser – geboren am 9. Januar 1950 als Ralph Christian Möbius in West-Berlin, gestorben am 20. August 1996 in Fresenhagen – war bei Ton Steine Scherben zusammen mit dem Gitarristen R. P. S. Lanrue als Autorenteam schon so was wie die deutsche Entsprechung von Jagger/Richards. Und popmusikalisch eben der von ihm besungene „König von Deutschland“.
Die Erinnerung
Unter dem Motto „Halt dich an deiner Liebe fest“ feiert man am 8. Januar in der Berliner Volksbühne 75 Jahre Rio Reiser. Bei der Geburtstagsparty unter der Schirmherrschaft von Staatsministerin Claudia Roth (die ja mal Scherben-Managerin war) spielen und singen unter anderem Alexander Scheer, Bernadette La Hengst und Ton Steine Scherben.
Fan-Sein, das umfasst ein breites Spektrum. Der Soziologe Thomas Schmidt-Lux von der Universität Leipzig unterscheidet verschiedene „Karrierestufen“ von Fans. Matthias und seine Frau Ines Leyh dürften wohl zu den „hochspezialisierten Fans“ gehören, die über das größte Wissen und die besten Ressourcen verfügen, um ihre Liebe als Fans voll auszuleben.
Die beiden sind Stammgäste am Grab von Rio Reiser. Zwei- bis dreimal im Jahr pilgern sie aus Thüringen hierher, dieses Mal mit Tochter Jona, ihrem Freund Norman und Kumpel Mark Oliver Rosenbusch, genannt Rosi.
Einen Moment halten alle im Halbkreis inne. „Da kommen die Erinnerungen an Rios letztes Konzert hoch, zwei Wochen vor seinem Tod“, unterbricht Rosi die kurze Stille. Es war das einzige Mal, dass Rosi, Matthias und Ines Rio live erleben konnten. Vor der Wende gab es in ihrer DDR-Heimat keine Möglichkeit dazu. Rios Musik erreichte sie nur über Verwandte im Westen, die ihnen Kassetten und Platten in den Osten schickten. Und das erst relativ spät, Ende der 80er Jahre. „Deswegen zieht es uns umso mehr zu Rios Bandmitgliedern, die noch immer Musik machen“, sagt Matthias.
In diesem Jahr haben die Leyhs schon sieben Konzerte von Rios früherer Band besucht, immer erste Reihe. „Unsere Töchter und deren Partner sind halt so mit reingerutscht, das zieht uns zusammen“, sagt Matthias. Alle nicken freudig, nur Norman wirkt etwas unentschlossen. Jona hat ihren Freund am Arm eingehakt, sie sagt: „Meine Eltern haben mich immer auf alle Scherben-Konzerte mitgenommen, die Lieder liefen bei uns rauf und runter, das war unsere Kindheit.“
Mittlerweile pflegen die Leyhs sogar persönlichen Kontakt zu Rios Angehörigen und den Scherben-Mitgliedern. „Man lernt sich eben über die Jahre kennen, schreibt sich mal hin und her“, sagt Ines Leyh. Ihr Mann sagt: „Ich glaube, das wünscht sich jeder Fan. Es soll ja nicht in Stalking ausarten. Aber es ist schon schön, von sich behaupten zu können, die Scherben persönlich zu kennen.“
Aber wie stand Rio Reiser zu Lebzeiten überhaupt selbst zu seinen Fans?
Horst Lusker, Mitarbeiter des Friedhofs
Etwa sechs Wochen zuvor, am Totensonntag, setzt sich ein älterer Mann mit langem schwarzem Mantel und Sonnenbrille auf die Bank vor Rio Reisers Grab. Es ist sein Bruder Gert Möbius.
„Rio brauchte nicht ständig Fans um sich“, sagt Gert Möbius. Kamen Fans nach Fresenhagen und fragten, ob Rio da ist, habe sein Partner manchmal einfach behauptet, er sei nicht da. „Er hätte ja auch keinen Song mehr schreiben können, wenn er sich dauernd nur mit Fans unterhalten hätte“, sagt Möbius. Erstaunlich findet er, dass sich der Fankult so lange gehalten hat. Und dass die revolutionären Aussagen seiner Texte bis heute wirken.
Rio Reiser hat längst Kultstatus. In Berlin, aber auch darüber hinaus. Jedes Jahr im August erinnert eine musikalische Dampferfahrt über die Spree und den Landwehrkanal an seinen Todestag. Die Stadt Berlin hat ihn mit der Ehrengrab-Plakette gewürdigt, und vor zwei Jahren wurde dann noch ein Platz im Herzen Kreuzbergs nach ihm benannt. Sogar ein eigenes Musical über Rio Reiser gibt es bereits.
An diesem Tag sieht man viele Menschen an Rio Reisers Grab vorbeirauschen. Ab und zu bleibt ein Grüppchen stehen und mustert den verwitterten Grabstein. „Mama, wer war Rio Reiser?“, fragt ein Kind seine Mutter. „Der König von Deutschland“, antwortet sie, dann ziehen sie weiter.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen