Die HTS in Syrien: Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe
Dschihadistische Terrorgruppe oder gemäßigte Rebellenmiliz? Was ist das für eine Gruppe, die Aleppo in einem Überraschungsangriff eingenommen hat?
Eine Armee aus insgesamt 13 bewaffneten Gruppen ist für die aktuelle Rebellenoffensive in Syrien verantwortlich. Sie verfügt nach eigenen Angaben über insgesamt 60.000 gut trainierte und gut ausgerüstete Kämpfer. Die mit Abstand wichtigste dieser Gruppen ist Hayat Tahrir al-Sham (HTS). Sie beherrscht seit 2017 das Rebellengebiet Idlib im Nordwesten Syriens.
HTS wird in vielen Berichten als „dschihadistisch“ bezeichnet und ihre Wurzeln sind teilweise in diesem Bereich zu finden. Doch mit der Realität der Gegenwart hat das nichts zu tun. Die sunnitische Miliz macht keine religiösen Motive für ihren Kampf geltend und ruft ausdrücklich zum Schutz von Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften auf.
In der Aufstellung bestätigter und identifizierter ziviler Opfer des Syrienkrieges seit 2011, das die führende syrische Menschenrechtsorganisation SNHR (Syrian Network for Human Rights) als Grundlage für die Vereinten Nationen und für die internationale Strafverfolgung syrischer Kriegsverbrecher führt, rangiert die HTS als Verantwortliche ganz hinten: mit 549 Getöteten zwischen 2011 und Juni 2024 – von 231.495 insgesamt, die zu 87 Prozent auf das Konto des Assad-Regimes gehen.
Die Gesamtzahl bildet nach Meinung von Experten allerdings nur einen Bruchteil der Realität ab; es wird von über 600.000 zivilen Toten im Syrienkrieg ausgegangen, über 500.000 davon Opfer des Assad-Regimes.
HTS-Regierung über 4 Millionen Menschen
HTS wurde 2017 als Bündnis mehrerer Milizen von Abu Mohammed al-Jolani gegründet, mit richtigem Namen Ahmed Hussein al-Shara, der zuvor die zum Al-Qaida-Netzwerk gehörende Al-Nusra-Front in Syriens Nordwestprovinz Idlib angeführt hatte. Mit der Gründung der HTS löste sich Jolani von al-Qaida und sagte der Terrororganisation ebenso wie dem „Islamischen Staat“ (IS) den Kampf an.
Da er selbst zu Anschlägen in Russland als Antwort auf die massiven russischen Angriffe auf Zivilisten in Syrien aufgerufen hatte, bezeichnet Russland ihn von Anfang an als Terrorist. 2018 übernahmen die USA diese Bezeichnung – was sie nicht daran hinderte, gemeinsam mit HTS den IS zu bekämpfen. Der flüchtige IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi wurde am 26. Oktober 2019 von US-Spezialkräften im Gebiet Idlib aufgespürt und getötet, in Zusammenarbeit mit HTS.
Die HTS hat in Idlib eine Regierungsstruktur namens „Syria Salvation Government“ (SSG) aufgestellt, die die rund 4 Millionen Bewohner des Rebellengebiets zivil verwaltet und auch als Ansprechpartner für die zahlreich in der Region tätigen internationalen Hilfswerke fungiert. Die Miliz selbst kontrolliert die Grenzübergänge zur Türkei, über die internationale humanitäre Hilfe und Handelsware – sowohl reguläre als auch geschmuggelte – Idlib erreicht; darunter mutmaßlich auch militärische Ausrüstung, die auf dem Schwarzmarkt in gigantischen Mengen verfügbar ist.
Während einzelne HTS-Führer, darunter Jolani selbst, immer noch als überzeugte konservative Salafisten gelten, grenzt sich die Gruppe rigoros von Dschihadisten wie dem IS oder auch vom fundamentalistischen Staatsverständnis Saudi-Arabiens oder der afghanischen Taliban ab. Es gibt weder eine Verschleierungspflicht für Frauen, noch sind diese von höherer Bildung ausgeschlossen. Für das Centre for Strategic and International Studies (CSIS) in den USA ist HTS „eher ein autoritärer Protostaat als die transnationale islamistische Miliz, die es einmal war“.
Angriff mit Ansage
Die HTS hat sich nicht nur von transnationalen bewaffneten islamistischen Strukturen losgesagt, sondern auch von den Versuchen der Türkei, Syriens Rebellen unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Türkei kontrolliert und bombardiert immer wieder mehrere nordsyrische Grenzgebiete, die sie als Pufferzone zum kurdischen Autonomiestaat „Rojava“ bezeichnet. Hier herrscht die mit der türkischen PKK-Guerilla verbündete syrische Kurdenguerilla YPG, die von den USA unterstützt wird. Unter der Kontrolle der Türkei ist die „Syrische Nationalarmee“ (SNA) als Bündnis türkeitreuer Rebellenorganisationen entstanden, dem sich die HTS in Idlib aber nicht angeschlossen hat.
Dennoch verdankt das Rebellengebiet von Idlib, in dem mehr Menschen leben als im flächenmäßig viel größeren „Rojava“, seine Existenz dem militärischen Schutz der Türkei. Immer wieder hat Syriens Assad-Regime mithilfe Russlands Rebellen aus anderen Landesteilen erst nach Idlib evakuiert und sie dann mitsamt der Zivilbevölkerung bombardiert: Ende 2016 aus Aleppo, danach aus den anderen Rebellengebieten im Westen Syriens.
Eine Reihe von Regierungsangriffen 2019/20 verkleinerte das Rebellengebiet von Idlib immer weiter, bis zu einem Waffenstillstandsabkommen zwischen der Türkei und Russland im März 2020. Trotzdem hat Russland in den Jahren danach Idlib immer wieder bombardiert.
Als Reaktion darauf hat die HTS unter Jolanis Führung die vielen Milizen und Rebellen auf ihrem Gebiet neu aufgestellt und daraus eine schlagkräftige geeinte Armee geschmiedet. Eine HTS-Militärakademie bietet militärische Ausbildung nach dem Standard regulärer Truppen an und entlässt seit 2020 regelmäßig Absolventen in die HTS-Eliteeinheit „Rote Liga“; die Organisation zählt nach einem Bericht des US-amerikanischen Wilson Centre elf Militäreinheiten und hält Manöver ab.
Dass diese neue Armee irgendwann losschlagen würde, war nur eine Frage der Zeit. Bei einer Rede vor seinen Kadern im November 2023 erklärte Jolani, die „syrische Revolution“ sei jetzt „in ihrem besten Zustand seit 2012“. Er sagte: „Es fehlt nur wenig und wir erreichen Aleppo.“
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