: Demontage eines Kanzlerkandidaten
Olaf Scholz oder Boris Pistorius? Für ihre Entscheidung hat die SPD-Spitze viel Zeit gebraucht. Weder für ihren Kandidaten noch für die Partei war das hilfreich
Aus Rio de Janeiro und Berlin Anna Lehmann und Stefan Reinecke
Kurz nach halb acht am Donnerstagabend ploppt auf der Webseite der SPD und den Medienkanälen ein Video auf. Boris Pistorius, SPD-Verteidigungsminister, erklärt der Parteibasis, dass er nicht als Kanzlerkandidat zur Verfügung stehe. Er betont: „Es ist meine souveräne Entscheidung.“ Das mag man glauben oder nicht – zu Wochenbeginn hatte Pistorius noch erklärt, man solle nichts ausschließen –, aber nun herrscht Klarheit: Olaf Scholz, der amtierende Kanzler, wird auch Kanzlerkandidat für die Bundestagswahl am 23. Februar 2025. Am Montag soll er von den Parteigremien offiziell gekürt werden.
Eigentlich eine Formalie, noch nie hatte die Sozialdemokratie es anders gehalten. Diesmal machte es die SPD-Spitze aber so spannend, dass man sich schon fragte, ob sie sich in der Parteizentrale von der Wahlkampfplanung aufs Krimischreiben verlegt hatten. Tagelang ließen die beiden Parteivorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil sowie Generalsekretär Matthias Miersch eine vor allem medial befeuerte Debatte schwelen: Wer ist der geeignetste SPD-Kanzlerkandidat – Olaf Scholz oder Boris Pistorius, der aktuell populärste Bundespolitiker? Zunächst meldeten sich nur Politiker:innen aus Orts- und Kreisverbänden zu Wort, später auch Bundestagsabgeordnete und Ex-Vorsitzende. Sie rieten mehr oder weniger unverblümt, Pistorius gegen Scholz einzuwechseln. Der Schwelbrand drohte zum Flächenbrand zu werden. Doch bis zuletzt zögerten Klingbeil, Esken und Miersch ihn auszutreten und ließen sich auch nicht in die Karten schauen.
Am Donnerstagnachmittag traf man sich zu letzten Beratungen. Doch eine Stunde, bevor das Video mit Pistorius’ Verzichtserklärung viral ging, wussten selbst hochrangige Politiker:innen der erweiterten Parteiführung und auf Länderebene nicht, für wen sich die Spitze entschieden hatte. Einig waren sich aber alle, dass die Entscheidung zügig fallen müsse. Die Diskussion um die Kandidatenfrage dauere schon viel zu lange. Die Wortwahl reichte von „nicht glücklich“ über „extrem schädlich“.
Eine aktuelle Umfrage bescheinigt der SPD 14 Prozent in der Wähler:innengunst, damit liegt sie weit hinter der Union und gleichauf mit den Grünen, die man eigentlich auf Abstand halten will. Die Rede ist nun von „Führungsversagen“. Die SPD, das steht fest, geht zerzaust und mit einem Kandidaten ins Rennen, dem selbst die eigene Partei nur bedingt vertraut.
Die Sozialdemokraten befinden sich also in einer ähnlichen Situation wie die Union 2021. Da kombinierte CSU-Chef Markus Söder Ergebenheitsadressen an den Kanzlerkandidaten Armin Laschet mit gezielter Demontage. Nichts reduziert die Aussicht auf Wahlsiege so zuverlässig wie eine in sich gespaltene Partei.
Wie konnte es so weit kommen? Wieso verspielte die SPD das Momentum nach dem Bruch der Ampel? Politikberater Frank Stauss, der Scholz 2011 und 2015 im Hamburger Wahlkampf beriet, kann nur den Kopf schütteln: „Man hat es versäumt nach dem Ampel-Aus Fakten zu schaffen, am besten gleich am nächsten Tag.“
Wahrscheinlich verpassten Scholz und die SPD-Führung am 7. November einen Steinmeier-Moment. Der amtierende Bundespräsident hatte 2009 exemplarisch gezeigt, wie man mit einer Mixtur aus Chuzpe und Machtinstinkt Fakten schafft. Frank-Walter Steinmeier, Kanzlerkandidat der SPD, nachdem er in einer Intrige Kurt Beck als SPD-Chef abgesetzt hatte, verlor die Wahl 2009 krachend. Noch am Wahlabend rief er sich zum neuen Oppositionsführer und Fraktionschef aus. Er werde aus „der Verantwortung nicht fliehen“, so die leutselig formulierte Kampfansage. Damit überrumpelte er die fassungslose SPD-Linke. Kein Machtvakuum, kein Aufstand, der Raum für Personaldebatten blieb geschlossen.
Nicht so diesmal. Als Olaf Scholz am Abend des 6. November erst den FDP-Finanzminister entließ und dann ankündigte, die Vertrauensfrage zu stellen, um Neuwahlen zu ermöglichen, erlebte die SPD einen Moment der Euphorie. Die Abgeordneten der Fraktion, die sich spätabends zur Sitzung im Reichstag trafen, empfingen den Kanzler mit Standing Ovations. Aus den Kreisverbänden kamen Glückwünsche – „starke Rede“, „gut gemacht, Olaf“. Doch der Rausch war schnell vorbei, der Kater setzte ein.
Zunächst die quälende Debatte über den richtigen Termin für die Vertrauensfrage, dann die Diskussion um die Kanzlerkandidatur. Nervosität machte sich unter den Abgeordneten breit. Nach der Wahlrechtsreform ist der Bundestag auf 630 Sitze gedeckelt, aktuell hätten nur noch 88 statt 207 SPD-Abgeordnete einen Platz. Erst waren es nur einzelne Stimmen, doch daraus drohte am Montag des 18. November eine Stimmung zu werden.
Wiebke Esdar und Dirk Wiese, Sprecher:innen der SPD-Landesgruppe Nordrhein-Westfalen, ließen auf Anfrage des WDR mitteilen, dass es in den Wahlkreisen „viel Zuspruch für Boris Pistorius“ gebe. Das derzeitige Ansehen von Olaf Scholz sei hingegen stark mit der Ampel verknüpft. Im Klartext: Du bist unten durch, Olaf, mach Platz für Boris.
Nicht nur der Fakt, dass Esdar und Wiese auch Sprecher:innen der beiden stärksten Flügel der Fraktion, der Parlamentarischen Linken und der Seeheimer, sind, machte das Statement brisant. Sondern auch, dass sich Scholz zu diesem Zeitpunkt beim G20-Gipfel in Rio um Weltpolitik kümmerte. Er schmiedete mit dem brasilianischen Präsidenten eine Allianz gegen Hunger und Armut und sprach mit dem chinesischen Staatspräsidenten über Handel und den Krieg in der Ukraine – war also weit weg und konnte sich nicht wehren.
Noch 14 Tage zuvor war Scholz einer ähnlichen Situation zuvorgekommen. Während er beim Treffen der EU-Staatschef:innen in Budapest weilte, wollte die FDP das Ende der Ampel verkünden. Nun erwischte ihn ein ähnliches Komplott aus der eigenen Partei kalt.
Doch schlechter kann man einen Putsch kaum vorbereiten. Mitglieder der Landesgruppe und der Parteiströmungen erklärten umgehend, das Statement sei nicht abgestimmt gewesen. Zudem mehrten sich Solidaritätsbekundungen für den Kanzler.
Scholz gab sich in Rio unbeeindruckt. Am Abend des selben Tages – in Deutschland weit nach Mitternacht – erscheint er in weißem Hemd zu einem Hintergrundgespräch mit Journalist:innen im Delegationshotel an der Copacabana. „Wo wollt ihr mich haben?“, fragt er seinen Sprecher. „Wo du willst“, entgegnet jener, Scholz entscheidet sich für die Terrasse. Der Wind weht lau vom Meer, das sanfte Klatschen der Wellen dringt ans Ohr. Scholz tritt locker auf, wirkt entspannt, sendet die Botschaft: Nun seid doch mal nicht so aufgeregt, läuft doch alles nach Plan.
Am nächsten Tag wird er in vier Fernsehinterviews immer mit dem gleichen Wortlaut wiederholen: „Die SPD und ich wollen gemeinsam gewinnen und wir haben ja auch schon gezeigt, dass wir das können.“ Er vermeidet das K-Wort; sich in der angespannten Lage selbst zum Kanzlerkandidaten zu küren, käme wohl nicht gut an in der Partei, die stolz ist auf ihre basisdemokratische Entscheidungshoheit. Doch Scholz macht in Rio auch klar: Hier stehe ich. Wenn die Partei mich weghaben will, dann muss sie mich schon von der Terrasse tragen. Beziehungsweise aus dem Kanzleramt.
Machtkämpfe sind der SPD nicht fremd, doch seit dem Abgang von Andrea Nahles 2019 ist „Geschlossenheit“ das geflügelte Wort im Willy-Brandt-Haus.
Die ist nun dahin. Trotz aller taktischen Vorbereitungen im Vorfeld des 6. November – so richtig vorbereitet auf das Ampel-Aus war man in der SPD-Führung eben doch nicht. Zudem ist das strategische Zentrum im Willy-Brandt-Haus geschwächt. Generalsekretär Miersch ist keine zwei Monate im Amt, er ersetzte kurzfristig den erkrankten Kevin Kühnert. Und Lars Klingbeil, der Architekt des Wahlsieges von 2021, von dem es immer hieß, „der kann Prozesse“, und der sich stärker als für einen Parteivorsitzenden üblich in den Wahlkampf 2025 einschaltete, taugt dann wohl doch nicht zum Kanzlerkiller. Werte wie Loyalität und Solidarität sind ihm wichtig. Bis zuletzt stellte er sich schützend vor Kühnert, erklärte tapfer, der sei der richtige Generalsekretär.
Zudem gab es auch berechtigte Zweifel an Pistorius. Kann der Verteidigungsminister auch als Wirtschaftsexperte, Pflegefachmann oder Sozialsystemerklärer glänzen? Anders als Scholz, der in allen Themen drinsteckt, ist Pistorius kein Generalist, hat sogar öffentlich erklärt, er habe von Wirtschaft keine Ahnung.
Bedenken gegen den Verteidigungsminister, der Deutschland „kriegstüchtig“ machen will und bei der Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern Gesprächsbereitschaft zeigt, kamen auch aus den Ost-Landesverbänden. „Der Wahlkampf wird schwer, mit Pistorius wäre er doppelt so schwer geworden“, so eine Abgeordnete.
Pistorius stellt sich nun hinter den Kanzler. „Olaf Scholz ist ein starker Kanzler und er ist der richtige Kanzlerkandidat“, so Pistorius in seiner Videobotschaft. So wiederholt er es auch später in der Fraktion.
Um 20.30 Uhr am Donnerstag treffen sich die Abgeordneten zur digitalen Konferenz. Neben Pistorius sprechen auch Klingbeil und Esken, Miersch und Scholz. Das Treffen endet nach 30 Minuten. Mit „Einen schönen Abend und Glückauf“ verabschiedet Mützenich die Abgeordneten. Selbstkritische Worte ob der Länge des Verfahrens? Fehlanzeige. In der Fraktion so berichtet ein Teilnehmer herrsche derzeit eine angespannte Ruhe.
Am Freitagmorgen treten Klingbeil und Scholz bei einer Konferenz von Kommunalpolitiker:innen auf. Klingbeil belässt es bei einer kurzen Rechtfertigung „Hätte man so eine wichtige Frage wie die Kanzlerkandidatur wirklich übers Knie brechen sollen?“ Er will nach vorn schauen. Wenn die SPD eins könne, dann kämpfen. „Die Aufholjagd beginnt jetzt.“
Wie die aussehen könnte, skizziert Scholz. Er lobt sich für seine Besonnenheit, nicht den Marschflugkörper Taurus zu liefern und eine Eskalation im Krieg in der Ukraine verhindert zu haben. „Besonnenheit und Unterstützung – das gibt’s nur mit der SPD.“ Er wirbt für Investitionen und eine moderate Reform der Schuldenbremse. Er will das Thema bezahlbaren Wohnraum jetzt mal wirklich angehen. Es gebe zu viele Projekte für „tolle Leute mit tollem Einkommen – so wie mich.“ Aber zu wenige Wohnungen für Leute, die normal verdienen.
Auch Scholz blickt nach vorn auf den 23. Februar. Das sei nicht nur der Geburtstag von Lars Klingbeil, sondern auch der seiner Frau Britta Ernst. „Es muss also gut gehen.“ Einige lachen, der Schlussapplaus ist warm. Die Kommunalpolitiker:innen sind vor allem dankbar, dass es jetzt eine Entscheidung gibt.
Scholz ist im Rio-Modus, gelöst nach dem gewonnen Machtkampf. Den Juso-Bundeskongress an diesem Wochenende, erspart er sich dennoch, Absage aus „Termingründen“. Der Empfang wäre wohl ein paar Grad kälter gewesen.
Doch die Partei übt sich nun in Geschlossenheit. Esdar und Wiese erklären am Freitag: In der kommenden Wahlauseinandersetzung vertraue man „auf Olaf Scholz und auf seine Regierungserfahrung gerade in Krisensituationen“. Kann die SPD den Trend noch drehen? Wahlkampfberater Stauss schließt es nicht aus. Bei Friedrich Merz sieht er noch erhebliche Stolpergefahr. „Und es gab schon Beispiele, dass Leute, die keine Chance hatten, gewonnen haben. Olaf Scholz gehört dazu.“
Aber, dass es so funktioniert wie 2021, ist derzeit unwahrscheinlich.
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